Von Dieter Böhler SJ
Norbert Lohfink war ein Frankfurter. Hier wurde er am 28. Juli 1928 als ältestes von vier Kindern geboren. Die beiden Schwestern Marianne und Margret kamen schon in jungen Jahren im Krieg beziehungsweise durch einen Unfall ums Leben. Sein Bruder Gerhard, der ein bedeutender Neutestamentler wurde, starb wenige Wochen vor Norbert im Alter von 89 Jahren. Im Frankfurter Gallusviertel wuchs Norbert Lohfink auf und wurde in der dortigen Pfarrei vom Kaplan in geheimen Jugendtreffen gegen die götzendienerische Ideologie des Dritten Reiches geimpft. Mit 16 Jahren wurde er am Ende des Krieges noch als Flakhelfer eingezogen, hatte aber im Schützengraben so wenig zu tun, dass er sich vor allem Literaturstudien widmen konnte, die ihm später sehr nützlich wurden.
1947 in den Jesuitenorden eingetreten, studierte Norbert Lohfink Philosophie in Pullach, Theologie in Frankfurt und wurde hier 1956 auch zum Priester geweiht. Das Studium der Bibelwissenschaften, Lizentiat und Doktorat, absolvierte er am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom. Die Verteidigung der unter Anleitung von Bill Moran SJ angefertigten Doktorarbeit „Das Hauptgebot. Eine Untersuchung literarischer Einleitungsfragen zu Dtn 5–11“ war spektakulär. Kurz vor Konzilsbeginn hatten römische Kreise eine Attacke gegen das Päpstliche Bibelinstitut und die dort nun auch betriebene historisch-kritische Methode geritten. Eine ganze Reihe von Konzilsvätern wollte dem Institut beispringen und beschloss, bei der nächstbesten Thesenverteidigung Präsenz zu zeigen. So verteidigte Pater Lohfink seine Arbeit 1962 vor 400 Bischöfen und Kardinälen im Atrium der Gregoriana.
Seine Lehrtätigkeit nahm er 1963 zunächst in Frankfurt auf und setzte sie 1966 in Rom fort, kehrte 1970 aber aus gesundheitlichen Gründen nach Deutschland zurück und blieb nun an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Frankfurt – mit regelmäßigen Gastsemestern in Rom. Er war ein begnadeter Lehrer, der seine Zuhörerschaft von der Bibel zu begeistern wusste. Noch den langweiligsten Stoff verstand er spannend, ja dramatisch darzubieten. Pater Lohfinks Abschiedsvorlesung im Sommer 1996 trug den Titel „Der Tod am Grenzfluss“ – schon das klang wie ein Krimi. Es ging um den Tod des Mose am Jordanufer, das Gelobte Land vor Augen. Nach dem Deuteronomium geht die Erzählung der Bibel zwar mit Josua weiter, aber der Bibelkanon macht nach Dtn 34 einen Schnitt zwischen der Tora und den restlichen Büchern des Alten Testaments, die damit eine Art kommentierende Funktion (Haftara) zum Basistext „Tora“ erhalten, wie denn auch das Neue Testament nach dem Basistext des Vierevangeliums den Apostelteil auf einen zweiten Rang verweist. Bibelhermeneutik und Fragen kanonischer Bibelauslegung haben Pater Lohfink immer interessiert und zeitlebens beschäftigt.
Pater Lohfink ist ein weltweit anerkannter Exeget geworden. Seine Publikationsliste weist fast 900 Titel auf, Bücher und Artikel, vor allem zum Deuteronomium, zu Kohelet, den Psalmen und biblischer Theologie. Zuletzt veröffentlichte er noch kurz vor seinem Tod zusammen mit Georg Braulik „Kommentar zu Dtn 1“ (ÖBS 60, 2024). Dass die beiden bei Pater Lohfinks akribischer Arbeitsweise den geplanten Kommentar zum Deuteronomium nicht mehr vollenden würden, war ihm schon länger klar: „Selbst wenn ich wie Mose 120 Jahre alt würde“, sagte er bisweilen. So blickte er am Ende wie Mose am Grenzfluss hinüber auf das unvollendete Werk, zu dem er unendlich viele Vorarbeiten für künftige Generationen geleistet hat. Auf Kongressen wurde er schon mal als „Mister Deuteronomy“ bezeichnet.
Pater Lohfink arbeitete philologisch, historisch, vor allem aber literaturwissenschaftlich und verstand sich dabei immer als Theologen, der dem Wort Gottes in der Kirche dienen will. Überkommene exegetische „Dogmen“ übernahm er nie unbesehen, sondern prüfte alles nach und warf manche alte Theorie über den Haufen. In den 60er Jahren, einer Zeit, da die protestantische Bibelwissenschaft noch ein Monopol auf wissenschaftliche Exegese beanspruchte („catholica non leguntur“), gelang Lohfink der Durchbruch in ihre Domäne, da Gerhard von Rad auf seine Veröffentlichungen aufmerksam wurde und merkte: Das muss man ernst nehmen. Die Kooperation katholischer und evangelischer Exegeten förderte Pater Lohfink unter anderem auch durch die Begründung des Rhein-Main-Exegese-Treffens mit Mainzer und Würzburger Kollegen, das seit über 50 Jahren bis heute dreimal jährlich stattfindet. Darüber hinaus begründete er mehrere exegetische Reihen (SBS, SBAB). Die Fachkollegen würdigten seine zum Teil bahnbrechenden Arbeiten 1993 mit einer Festschrift („Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel“) und mit einem Ehrendoktorat der Universität Wien im selben Jahr. Die Kirche dankte ihm mit dem päpstlichen Orden „Pro Ecclesia et Pontifice“ und der Georgsplakette des Bistums Limburg.
Im Sankt Georgener Professorenkollegium war Pater Lohfink zusammen mit seinen Mitstreitern Hans-Winfried Jüngling SJ und Helmut Engel SJ („die Seilschaft“) ein unermüdlicher Kämpfer für die Stellung der Bibelwissenschaft in der Studienordnung, „gelegen oder ungelegen“ (2 Tim 4,2). Seinem Nachfolger machte er Platz und ließ ihm freie Hand, versagte ihm aber nie jede erbetene Unterstützung. So war er auch bei Kollegen und Kolleginnen in aller Welt bekannt: immer gesprächs- und hilfsbereit. Bei Pater Lohfink konnte man unheimlich viel lernen – das wussten alle.