Jesuiten 2010-3

September 2010/3 Jesuiten 1 Editorial Die 68er – ein Generationenthema oder eine Dekade,in der sich kulturelle,soziale und wissenschaftliche Entwicklungen der Moderne zur Krise bündeln und das Gesicht der westlichen Gesellschaften endgültig verändern? Was prägt uns heute? Wo hat man sich verrannt? Liebe Leserinnen und Leser, im Gespräch mit amerikanischen Jesuiten fiel uns auf,dass bei ihnen nicht von den „68ern“ die Rede ist,sondern von den „Sechzigern“. Damit kommt eine ganze Epoche in den Blick, die nicht nur vom Widerstand gegen den Vietnamkrieg geprägt war,sondern auch von den tief greifenden Reformen der Kirche und des Ordens durch das Konzil und eine bedeutende Generalkongregation.Die Logik der inneren Reform und der Druck von außen durch eine sich rasant verändernde Zivilgesellschaft werden als zwei Seiten einer Bewegung sichtbar:Der Einzelne gab sich nicht mehr mit überkommenen Antworten zufrieden,sondern hinterfragte Autoritäten. Das Lebensglück wurde nicht mehr in fertigen Rollen gefunden.Man suchte die eigenen Quellen. Wer aber nur die Individualisierungsprozesse herausstellt, übersieht, dass die kritische Vernunft konsequent wie nie aufgefordert ist, strukturelle Quellen von Gewalt,Hunger und der Zerstörung der Umwelt aufzudecken.So wurden auch die Sinne für die persönlicheVerantwortung in der Gesellschaft geschärft und neue Formen politischer Beteiligung erprobt. Und in Theologie und Liturgie kam stärker in den Blick,dass sich die Offenbarung an ein Gottesvolk richtet,und sich ein authentischer christlicher Glaube auch im Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden zeigen muss. Das Heft war länger geplant.Die verstörenden Aufdeckungen zum systematischen Missbrauch von Kindern an Jesuitenschulen und dem Wegschauen der damaligen Ordens- und Kirchenleitungen haben den Rückblick verändert: Die Täter im Orden sind meist Menschen,die in dieser unruhigen Zeit sozialisiert wurden.Der Spiegel ist in seiner Ausgabe vom 21.6.2010 der Frage nachgegangen, inwieweit auch die von Teilen der 68er-Bewegung propagierte Sexualpädagogik – eine Reaktion auf die kirchlichen Tabus – nicht wieder einen Raum der Verharmlosung geschaffen hat, der Täter vor Kritikern und Eltern schützte.Wird gerade eine Generation, die ihre Eltern wegen des Verdrängens ihrer Nazivergangenheit konfrontierte,mit dem eigenenVerdrängen konfrontiert? Täter sind oft ehemalige Opfer.Wir stehen also wohl eher am Anfang der Aufdeckung einer Geschichte von Gewalt und Schweigen.Die Epoche der Sechziger aber hat die gesellschaftlichen Voraussetzungen geschaffen,welche die Aufdeckung systematischer Gewalt ermöglichen. Uns muss dabei die Frage beunruhigen:Welche Menschen verurteilt unsere Generation gerade zum Schweigen? Geschichte erzieht nicht zu besseren Menschen.Aber der Blick auf das Ringen anderer Generationen kann die eigene Wahrnehmung schärfen.Diese Hoffnung wollen wir uns nicht nehmen lassen. Holger Adler SJ Tobias Specker SJ Tobias Zimmermann SJ

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