Jesuiten 2010-3

Jahre des Umbruchs ISSN 1613-3889 2010/3 Jesuiten

Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Ein Jesuit aus den Sechzigern 4 Wir waren so wahnsinnig neugierig 6 Der Anfang der großen Ratlosigkeit 7 Vom Glück, den Aufbruch geerbt zu haben 10 Das Gesicht der Reform – Pater Arrupe 15 Bilderstürmer im Noviziat 16 Die Versuchung zur Gewalt bleibt 19 Ein Boom religiöser Selbsterfahrung 20 Gleichberechtigung – alles erledigt? Geistlicher Impuls 22 Wir sollen Ehre nicht mehr begehren als Unehre Aktuell 24 Porträt: Pater Provinzial Nachrichten 25 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 28 Jubilare Verstorbene Medien 29 Ansgar Wiedenhaus: Immer wieder neu anfangen dürfen Vorgestellt 30 Leipzig 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Freunde der Gesellschaft Jesu e.V. Spenden 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland „Auf die Frage, worin aber die Relevanz der 68er für mich besteht, bin ich versucht mit einem irritierten Achselzucken zu antworten. 68 ist über 40 Jahre her und ich bin noch nicht mal 30. Was soll mich also bitte an den 68ern nerven bzw. begeistern? Gerade in unserer übertakteten Zeit ist das doch Schnee von gestern.“ Claus Recktenwald SJ (*1982) Inhalt Ausgabe 2010/3 2010/3 Titelfoto: Jesuiten in den Jahren des Umbruchs bei verschiedenen Tätigkeiten © SJ-Bild

September 2010/3 Jesuiten 1 Editorial Die 68er – ein Generationenthema oder eine Dekade,in der sich kulturelle,soziale und wissenschaftliche Entwicklungen der Moderne zur Krise bündeln und das Gesicht der westlichen Gesellschaften endgültig verändern? Was prägt uns heute? Wo hat man sich verrannt? Liebe Leserinnen und Leser, im Gespräch mit amerikanischen Jesuiten fiel uns auf,dass bei ihnen nicht von den „68ern“ die Rede ist,sondern von den „Sechzigern“. Damit kommt eine ganze Epoche in den Blick, die nicht nur vom Widerstand gegen den Vietnamkrieg geprägt war,sondern auch von den tief greifenden Reformen der Kirche und des Ordens durch das Konzil und eine bedeutende Generalkongregation.Die Logik der inneren Reform und der Druck von außen durch eine sich rasant verändernde Zivilgesellschaft werden als zwei Seiten einer Bewegung sichtbar:Der Einzelne gab sich nicht mehr mit überkommenen Antworten zufrieden,sondern hinterfragte Autoritäten. Das Lebensglück wurde nicht mehr in fertigen Rollen gefunden.Man suchte die eigenen Quellen. Wer aber nur die Individualisierungsprozesse herausstellt, übersieht, dass die kritische Vernunft konsequent wie nie aufgefordert ist, strukturelle Quellen von Gewalt,Hunger und der Zerstörung der Umwelt aufzudecken.So wurden auch die Sinne für die persönlicheVerantwortung in der Gesellschaft geschärft und neue Formen politischer Beteiligung erprobt. Und in Theologie und Liturgie kam stärker in den Blick,dass sich die Offenbarung an ein Gottesvolk richtet,und sich ein authentischer christlicher Glaube auch im Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden zeigen muss. Das Heft war länger geplant.Die verstörenden Aufdeckungen zum systematischen Missbrauch von Kindern an Jesuitenschulen und dem Wegschauen der damaligen Ordens- und Kirchenleitungen haben den Rückblick verändert: Die Täter im Orden sind meist Menschen,die in dieser unruhigen Zeit sozialisiert wurden.Der Spiegel ist in seiner Ausgabe vom 21.6.2010 der Frage nachgegangen, inwieweit auch die von Teilen der 68er-Bewegung propagierte Sexualpädagogik – eine Reaktion auf die kirchlichen Tabus – nicht wieder einen Raum der Verharmlosung geschaffen hat, der Täter vor Kritikern und Eltern schützte.Wird gerade eine Generation, die ihre Eltern wegen des Verdrängens ihrer Nazivergangenheit konfrontierte,mit dem eigenenVerdrängen konfrontiert? Täter sind oft ehemalige Opfer.Wir stehen also wohl eher am Anfang der Aufdeckung einer Geschichte von Gewalt und Schweigen.Die Epoche der Sechziger aber hat die gesellschaftlichen Voraussetzungen geschaffen,welche die Aufdeckung systematischer Gewalt ermöglichen. Uns muss dabei die Frage beunruhigen:Welche Menschen verurteilt unsere Generation gerade zum Schweigen? Geschichte erzieht nicht zu besseren Menschen.Aber der Blick auf das Ringen anderer Generationen kann die eigene Wahrnehmung schärfen.Diese Hoffnung wollen wir uns nicht nehmen lassen. Holger Adler SJ Tobias Specker SJ Tobias Zimmermann SJ

2 Jesuiten Schwerpunkt: 68 – Jahre des Umbruchs Schwerpunkt Ein Jesuit aus den Sechzigern Die Sechziger, das war, als wir dasVertrauen in die Älteren verloren,die ihre Seelen dem Materialismus und dem Militarismus verschrieben zu haben schienen.Dies war ein Jahrzehnt, wo überall das tiefe Verlangen nach einerVeränderung der Seele zu finden war.Die Jüngeren wollten etwas Echtes in der Religion finden,nicht nur Lippenbekenntnisse und Zugehörigkeiten zu Institutionen.Die jungen Leute glaubten nicht mehr an den Mythos, dass Amerika das Königreich Gottes sei.Ein Paradigmenwechsel hatte begonnen. Ich studierte in den Sechzigern und frühen Siebzigern als Jesuit Philosophie in St Louis.Als Gruppe von Jesuiten berieten wir Wehrdienstverweigerer und leisteten aktiven Widerstand gegen den Vietnamkrieg. Das gipfelte in einer Maßnahme zivilen Ungehorsams,als hundert Jesuiten ihre Einberufungsbescheide verbrannten. Da war ein tiefes Verlangen nach Wahrheit. Und die Ausbildung als Jesuit und unsere Spiritualität bereiteten uns auf das notwendige kritische Denken vor,das die Strukturen hinterfragte,die eigentlich für unmoralische Handlungen verantwortlich waren.Das Hauptinteresse unserer Generation galt den Menschenrechten.Ich erinnere mich daran, wie Pedro Arrupe von der tiefenVerpflichtung der Gesellschaft Jesu zum Engagement für soziale Gerechtigkeit sprach.Ganz sicher beeinflussten seine Führung und seine Vision uns junge Jesuiten. Diese Spiritualität führte mich in die Flüchtlingsarbeit.In den 80ern gab es immer noch dieselben Ungerechtigkeiten.Mit derselben kritischen Haltung,die nicht alles,was von der Regierung kam,für das wahre Evangelium hielt,nahmen wir an der „Sanctuary“- Bewegung teil.Dabei handelte es sich um eine Koalition der Kirchen,die sich gegen die Finanzierung des Krieges in El Salvador durch die amerikanische Regierung aussprach. Gleichzeitig öffneten wir Kirchen für zweihundert Flüchtlinge,die dort jede Nacht schliefen und von uns versorgt wurden.Und wir eröffneten ein Menschenrechtsbüro für diese Bürgerkriegsflüchtlinge. Das führte mich dann vor dem Ende des Bürgerkriegs nach El Salvador.Ich arbeitete Mike Kennedy SJ in den 60ern als junger Student Foto: privat

September 2010/3 Jesuiten 3 dort für den JRS (Jesuiten-Flüchtlingsdienst) in der seelsorglichen Begleitung von Menschen in den Konfliktzonen.Das ist der Geist,den ich immer wieder und dann auch in unserer letzten Generalkongregation hörte,an der ich teilnahm:An die Grenzen,an die Orte gehen,wo niemand anderes hingeht.DasTraining,das mich auf diese Herausforderungen vorbereitete,habe ich in den Sechzigern von beiden bekommen, von der amerikanischen Gesellschaft und der Gesellschaft Jesu. Dieser selbe Geist,an die Grenzen zu gehen, hat mich in meine derzeitige Seelsorgsaufgabe geführt,wo ich mit Jugendlichen arbeite,die dazu verurteilt werden,im Gefängnis zu sterben.Und wieder nutzen wir unsere Anwaltschaft auch als Instrument,um bekannt zu machen,dass wir das einzige Land weltweit sind,das Kinder und Jugendliche zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.Gleichzeitig arbeite ich direkt mit diesen Kindern und Jugendlichen,meist Hispanics oder Afro-Amerikaner,die im Untersuchungsgefängnis um ihr Leben kämpfen.An den Grenzen sein,das hat mir die Gegenwart Gottes eröffnet,eine Freude,die ich für nichts hergeben würde.Ich bin der Gesellschaft Jesu dankbar dafür,dass sie mir geholfen hat,zu übersetzen,was dies in meinem Leben konkret bedeutet. ■ Mike Kennedy SJ Mike Kennedy SJ heute (2. v.r., hintere Reihe): Er ist Seelsorger in einem Jugenduntersuchungsgefängnis in Los Angeles und leitet eine Organisation,die sich gegen die kalifornische Praxis wendet,Kinder und Minderjährige – oft zu lebenslangen Strafen – nach Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen. Foto: privat

Schwerpunkt Wir waren so wahnsinnig neugierig Im Gespräch mit Werner Herbeck SJ Die 68er waren ja so etwas wie ein Befreiungsschlag. Was machte denn Befreiung aus in der damaligen Gesellschaft? Nach dem Aufbau in Deutschland,nach der Integration der Flüchtlinge,da fingen an den Universitäten Soziologen und Politologen an Fragen zu stellen:Wie war das eigentlich unter der Diktatur Hitlers,wie kamen Menschen dazu,alles zu erfüllen,was ihnen die Obrigkeit auftrug? Natürlich kam auch immer wieder die Frage:Was haben wir anderen angetan,was ist in den KZs geschehen?Was haben wir alles verbrochen? Die vielen Besuche der Studenten in den Konzentrationslagern blieben nicht ohne Wirkung. Und an den Universitäten waren junge Wissenschaftler, die sich Gedanken machten über Atomkraft,Aufrüstung,über die Umwelt.Viele Menschen an den Universitäten waren interessiert:Wie geht es eigentlich mit der Dritten Welt weiter? Wie beuten wir die Dritte Welt aus, können wir uns selber befreien aus diesen Ausbeutungskategorien der reichen Ersten Welt? Und dann in der Kirche die Befreiung von den ganzenVorgaben, die es da gab. Man darf nicht vergessen:In die 60er Jahre fiel auch das Konzil.Das war also nicht nur ein gesellschaftlicher Aufbruch an den Universitäten,sondern auch im katholischen Bereich gab es ganz hohe Erwartungen an das Konzil. Du warst zu der Zeit Studentenpfarrer.Was ist in den Studentengemeinden passiert? Ich war anderthalb Jahre Studentenseelsorger hier in Berlin und wohnte im feudalsten katholischen Studentenheim,das es zur damaligen Zeit in Deutschland gab.Damals musste jeder Student,der dort wohnte,an irgendeinem Arbeitskreis teilnehmen,und da waren viele,die sich mit politischen Themen beschäftigten und mit Reflexionen über die Kirche.In den Arbeitskreisen haben wir viel diskutiert über Gehorsamsfragen in der Kirche.Und da war ich ganz erstaunt und habe entdeckt,welche Fragen die jungen Studierenden an die Welt und an die Kirche hatten. Wir waren ja im Orden in unseren relativ offenen Gesprächskreisen an den eigenen Hochschulen in München und Frankfurt einigermaßen offene Diskussionen gewöhnt. Aber wir hatten doch nie solche Fragen,etwa an die Struktur der Kirche oder an die Autorität der Bischöfe.Das war so vorgegeben,das wurde uns auch nicht nahe gebracht in der Theologie damals. Aber die Studenten haben danach gefragt? Die Studenten haben dann aus ihren Seminaren die Fragen mitgebracht,die wir eigentlich hätten haben sollen,aber nicht hatten – oder nicht formulieren wollten oder konnten.Das waren engagierte Christen,die sich keiner Frage verweigerten. Welche Themen wurden noch diskutiert? Ich kann mich gut erinnern,dass eine der größten Auseinandersetzungen in den 60er Jahren war,als die Pille aufkam.Es gab vorher große Probleme bei katholischen Studenten mit der Sexualität,bei der Selbstbefriedigung. Ein Teil unserer Studentenarbeit bestand darin, dass wir uns in vielen Foren undVorträgen mit der neuen Sexualität beschäftigten. Zum ersten Mal nach dem Krieg ließen sich junge Leute nicht mehr von der Kirche vorschreiben,wie sie ihre Sexualität praktizierten. Das war mit großen Widerständen in den eigenen Familien und vor allem in den Pfar4 Jesuiten Schwerpunkt: 68 – Jahre des Umbruchs

reien verbunden.Diese Befreiung hat sie sehr viel gekostet und hat auch dazu geführt,dass einige die Kirche nicht mehr ernst nahmen und verließen.Ich kann mich gut erinnern,dass gerade viele Soziologen und Politologen plötzlich merkten,dass in der Kirche ein Gehorsamsdruck herrschte,der überhaupt nicht intellektuell zu rechtfertigen war. Das heißt,innerhalb der Kirche hinkte man etwas hinterher? Nicht nur etwas,sondern die Kirche entwickelte sich,trotz des Konzils,in diesen Dingen der konkreten Moral weit weg von den sich aufbauenden Standards freier Sexualität,des Sprechens über Dinge,Pressefreiheit,Demokratie in den Gremien. Die katholische Kirche musste erst mal zur Demokratie in ihren eigenen Rängen finden. Das ist ja bis heute noch nicht ganz geklärt. Wie wirkte sich denn der liturgische Aufbruch in den Studentengemeinden aus? In den Studentengemeinden lebten wir mit den Studenten.Wir haben selber Fürbitten verfasst,das ganze Leben in die Gottesdienste mit reingenommen.Ich kann mich noch entsinnen,wie ein Studentenpfarrer aus der Schweiz auf einer Konferenz mal gesagt hat: „Also manchmal geht mir dieses politische Gequatsche im Gottesdienst auf die Nerven. Wenn ich sage:‚Der Herr sei mit Euch’,dann möchte ich nicht zur Antwort hören: ‚Zur Geschäftsordnung’.“ Das war so etwas,worunter man auch gelitten hat. Gab es in diesem Aufbruch denn Dinge, die Du heute problematisch findet? Mit Sicherheit wusste man nicht,wer demokratiefähig ist,wer in einer Demokratie verantwortlich mitreden kann.Wir haben übersehen,dass die Gier nach Geld sich so stark entwickeln könnte,weil wir vielmehr davon ausgingen:Wir haben den Menschen sehr viel angeboten:Schule,Universität,Förderung – und da mussten sie doch eigentlich das Beste draus machen.So haben wir gedacht.Und darin haben wir uns getäuscht.Wir haben auch die Entwicklung der Sexualität nicht voraussehen können und was das für die Familien bedeutet.. Wie hat sich Deine Arbeit mit den Studenten innerhalb des Ordens ausgewirkt? Bis zu meiner Weihe Anfang der 60er gab es keine politische Diskussion im Orden zwischen Älteren und Jüngeren.Alt waren zur damaligen Zeit Fünfzigjährige,die aus dem Krieg gekommen waren.Die alten Soldaten haben nichts erzählt und wir Jungen haben sie nicht gefragt. Wann fing die politische Diskussion im Orden an? Ende der 60er Jahre,nehme ich an.Davon haben wir nicht mehr viel mitgekriegt.Wir waren so in unseren Belangen drin.Wir haben so viel gelernt und sind so viel gereist,und haben diskutiert.Wir waren so wahnsinnig neugierig.Und in den Häusern des Ordens war es fürchterlich langweilig. ■ Werner Herbeck SJ wurde von René Pachmann SJ interviewt. September 2010/3 Jesuiten 5 Werner Herbeck SJ in seinem Zimmer im Canisius-Kolleg Foto: Zimmermann

6 Jesuiten Schwerpunkt: 68 – Jahre des Umbruchs Schwerpunkt Der Anfang der großen Ratlosigkeit 1968 war ich geistlicher Begleiter in unserem Studienhaus der Philosophie in Pullach.Auch wenn es keine Vorlesungs-Boykotts gab und keiner der Professoren aus dem Hörsaal getragen wurde,schwappte die 68erBewegung doch in unser Haus hinein.Ich erinnere mich,wie ein junger Mitbruder bei der ersten Nachricht von der StudentenRevolte in Berlin sagte:„Jetzt geht es los.“ „Es“ – das war der Aufstand gegen das etablierte System.Es lag in der Luft,jedenfalls in der Luft,die junge Leute atmeten.Mein Bruder,keineswegs ein Revolutionär,meinte: Wenn die Studenten nicht von sich aus aufgestanden wären,hätte man sie dazu ermuntern müssen.So rückständig hatte er die Universität damaliger Prägung empfunden. Ich selbst,eine Generation älter als die 68er, erlebte die Revolte nicht als den großen Einschnitt. Nazi-Regime und zweiter Weltkrieg hatten mich vor andere Fragen gestellt,als sie die 68er stellten.Ihnen ging es um Freiheit, um Infragestellung der Autoritäten.Es war ein Aufstand gegen die Alten, welche als diejenigen galten,die das Nazi-Regime nicht verhindert oder gar mitgetragen hatten. In der Kirche war das Konzil und im Orden die 31.Generalkongregation (1965/66) vorausgegangen.Beide Ereignisse brachten – unabhängig von der 68er-Bewegung – Befreiung von Über-Reglementierungen,unter denen man gelitten hatte.Sie brachten ein neues Klima.Man konnte Neues probieren.Wir,Junge wie Ältere,waren in einem großen Haus mit über 100 Jesuiten mehr mit den internen Veränderungen beschäftigt als mit den Vorgängen draußen. Heute sehe ich die Ereignisse 1968 im größeren Zusammenhang.Sie kommen mir wie die späte Welle einer Bewegung vor, die die Neuzeit bestimmt hat. Ihre Triebfeder war der Durst nach individueller Freiheit.Ihr Ziel die Emanzipation von jeder ArtVorherrschaft. Ihr Klima das Misstrauen gegen jede etablierte Autorität.Die Universitäten und die Kirchen, vor allem die katholische,waren die letzten Bastionen,die geschleift werden mussten,um diesen Durst zu stillen. Ausgeblendet blieb:Was ist der Sinn dieser Freiheit? Denn die Freiheit von Regulierungen kann nur einen leeren Raum herstellen. Sie gibt keine Antwort auf die Frage,womit dieser Raum zu erfüllen wäre.De facto wurde er durch die wirtschaftliche und technische Entwicklung mit einer Fülle von Angeboten angefüllt.Die Menschen waren beschäftigt, sich aus derVielfalt des Angebots das auszusuchen,was ihrem Geschmack entsprach.Aber materielle und kulturelle Quantität begründen keinen Lebens-Sinn.Nachdem die traditionellen Sinn-Autoritäten,die Kirchen und andere Kulturträger,ihre gesellschaftliche Autorität weitgehend verloren haben,ist die große Ratlosigkeit eingetreten. ■ Alex Lefrank SJ

September 2010/3 Jesuiten 7 Schwerpunkt Vom Glück,den Aufbruch geerbt zu haben Als Erbe würde ich mich wohl bezeichnen, wenn ich auf meine Jugendzeit schaue und auf das Stichwort „68er“ angesprochen werde. Alles,was man mit den 68ern verbindet,fand wohl ohne mich statt,geboren 1961.Aber ich bin sicher,dass ich geerbt habe,dass ich und meine Altersgruppe sehr von dem Aufbruch der „68er“ profitieren konnten. 1973 kam ich mit 12 Jahren ans CanisiusKolleg und gehörte eben schon nicht mehr zu den 68ern – die Beatles waren schon „Oldies“, The Who längst nicht mehr skandalös. Und auch als Jugendlicher mit einigem rebellischen Potential – 1976 oder 1977 waren Vietnam, Woodstock,APO,Prag eher weit weg ...das interessierte mich nicht.Ich war aber der dritte von drei Brüdern am CK und zudem Sohn eines profiliert konservativenVaters – da wurde manches projiziert auf den 16-Jährigen. Politisch korrekt durften wir zu Hause nur von Berlin (West) und Berlin (Ost) sprechen,um deutlich die Einheit der Stadt zu betonen;wer West-Berlin sagte, hatte sich mit der Teilung abgefunden – „geh doch nach drüben“.Ich fand es albern,aber es hat mich bleibend beeindruckt.Es ging sehr grundsätzlich zu und manchmal polemisch in all den Debatten um die Anführungszeichen für die DDR, um die Atomkraft,um die Haftbedingungen in Stammheim,später der NATO-Doppelbeschluss.Die SPD mit Kanzler Schmidt war längst nicht mehr links;die Gründung einer neuen Partei aus der Umwelt- und Friedensbewegung heraus war nahe liegend und stand kurz bevor.In der Untersekunda haben wir fünfTage lang mit dem Jugendverband,zu dem ich gehörte (Katholische Studierende Jugend, KSJ) eine so genannte Spätschicht abgehalten und haben intensiv den Aufstand gegen das Notensystem in der Schule geprobt.Es war eine große Genugtuung,als wir in Chemie durch intensives (Nacht-)Studium plötzlich alle auf einem Niveau waren und der Lehrer schier verzweifelte – es war klar:Noten funktionieren nur im Konkurrenzkampf,ja begründen ihn ...und sind deswegen abzulehnen! Ich werde nie vergessen,wie später in der Oberstufe unser bester Matheschüler in einer Leistungskursklausur nach halber Zeit fertig war und dann ging,ohne die Klausur abzugeben – der verzweifelten Lehrerin erklärte er,dass es ihm genüge,alle Aufgaben richtig gelöst zu haben,die Note brauche er nicht.Und es war keine kokette „Spielerei“ – es war eine für das Abitur bedeutsame Arbeit.Da war eine Ernsthaftigkeit,die mich geprägt hat;das waren Provokationen,die es aus meiner Sicht in sich hatten,die etwas bewirkten.Aber,so sehe ich das jetzt,es war eine „geerbte“ Kultur des Dagegen-Seins,eine Art Glücksfall.Dass wir uns engagierten oder protestierten,mussten wir uns nicht mehr erringen.Und wie wir die Dinge angingen,wurde vielfach sogar geachtet, auch wenn wir mit den Inhalten bei Eltern und Lehrern nicht landen konnten.Nein,ein 68er bin ich nie gewesen. Wenn wir in diesen Wochen und Monaten mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Missbrauchsfälle unter anderem an Jesuitenschulen in Deutschland schauen,schauen wir auch auf diese Zeit der „Aufbrüche“ an den Schulen und im Orden in den 70er und frühen 80er Jahren.Und da erinnere ich dann eine gespaltene „Gesellschaft“ an meiner alten Schule,auch eine gespaltene „Gesellschaft Jesu“.Da waren deutlich die einen und die anderen,ohne dass ich wusste oder heute weiß,wie es sich so leben und arbeiten ließ gemeinsam.„Kreidestaub fressen“ in der letzten Bastion vor dem eisernenVorhang; die „letzte freie Schule zwischen Elbe und

8 Jesuiten Schwerpunkt: 68 – Jahre des Umbruchs Wladiwostok“, Durchhalteparolen, stramm antikommunistisch.Und die anderen waren vor allem anders,wahrlich keine „Linken“, aber eben jünger, moderner, der Welt zugewandt,interessiert an Drittwelt-Fragen, offen für Experimente,Religion und Glaube wurde neu buchstabiert:„Andere Lieder wollen wir singen,feiern das Fest der Befreiung.Der Herr führt uns in neues Land,die Träume werden wahr.“ (Alois Albrecht,Peter Jansens, 1972) Und dann,so denke ich im Nachhinein,hatte ich unheimlich viel Glück,mit den richtigen Begleitern und in guten Strukturen unterwegs zu sein.Der Kaplan,die ND-Gruppe (später KSJ),die unzähligen Zeltlager, Wochenenden und Aktivitäten.Als es in der Schule nicht so rund lief,haben meine Eltern eine Reduzierung der Aktivitäten durchgesetzt – und ich habe mich gegen den Fußball und für die verbandliche Jugendarbeit entschieden.Mit 15 Jahren schon durfte ich zum Gruppenleiterkurs;sehr früh durfte ich Verantwortung übernehmen.Die Sommerferien habe ich über Jahre in Zeltlagern verbracht; die Wochenenden gehörten der KSJ. Meine Eltern und mit ihnen viele andere standen sicher oft ratlos neben dem,was wir da so anstellten und welche Ideen wir verfolgten;und es gab auch heftig Krach und Streit (zum Beispiel als ich 1980 unbedingt bei der Gründung der Freien Republik Wendland dabei sein wollte); aber sie haben zum Glück die Bedeutung der Tatsache erkannt, dass wir etwas machen und wie wir es machen. Und jetzt? Nach bald acht Jahren als Kollegsdirektor in St.Blasien? Ist das ein verklärter oder verklärender Blick zurück? Nein,ich denke nicht.So erinnere ich das eben,wissend,dass es anderen ganz anders ergangen ist. (DieTatsache, dass ich Ende Mai am „Eckigen Tisch“ auch eigenen Klassenkameraden gegenüber saß,treibt mich um.) Aber was ist nun aus meinem „Glück“ geworden ist,wo ich doch jetzt verantwortlich dafür bin,dass Mathearbeiten zu schreiben und bitte auch abzugeben und zu benoten sind.Was wäre denn,wenn heute eine Schülerin ...? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass Freiheit und Verantwortung meine Schlüsselworte geblieben und immer mehr geworden sind im pädagogischen Tun.Wer Kindern und Jugendlichen eine erwachsene und verlässliche Beziehung anbietet,bietet,so hoffe ich,die Chance zu Wachstum, zu eigenem Urteil, zu eigener Agenda, zu Kreativität, zu selbstbewusstem Ja Sagen – und zum Nein. ■ Johannes Siebner SJ Johannes Siebner 1982 in Berlin Foto: privat ∂© Kolleg St. Blasien Kollegsdirektor Pater Siebner SJ mit Schülern in St.Blasien

September 2010/3 Jesuiten 9 Schwerpunkt Das Gesicht der Reform – Pater Arrupe Im Gespräch mit Jack Dullea SJ, ehemaliger Mitarbeiter in der Generalskurie in Rom und Zeitzeuge des Generaloberen Pedro Arrupe SJ Hat auch aus amerikanischer Sicht der große kulturelle Wandel für Kirche und Orden in den sechziger Jahren stattgefunden? Ja,sicher,das 2.Vaticanum tagte noch,als die 31.Generalkongregation 1965 Pedro Arrupe zum Generaloberen wählte.Für die Gesellschaft Jesu war dies,im Blick auf das Ordensrecht, die Wasserscheide.Wenn heute Provinzkongregationen abgehalten werden,werden die Delegierten von den Mitbrüdern der Provinz gewählt.Damals gingen zur Provinzkongregation die ältesten Mitbrüder,nach dem Motto,„pack Deinen Opa aus!“ Die andere große Entscheidung war die Abschaffung der sozialen Unterschiede in der Gesellschaft Jesu: Die Jesuiten in der Ausbildung,die Brüder und die Patres sollten nicht mehr an unterschiedlichen Tischen essen, getrennte Erholungsräume haben und so weiter.Da wehte plötzlich ein ganz neuer Wind, und Pedro Arrupe war genau im Mittelpunkt des Geschehens.Man muss allerdings sagen,Pater General hat Einfluss,aber die Kongregation ist sein Boss. Die 32.Generalkongregation,da begann die ganze Bewegung hin zur Betonung unserer Option für die Armen.Viele unserer Leute hatten allerdings Probleme damit,denn es gab natürlich auch schon bis dahin einzelne Mitbrüder,die hervorragende Arbeit im sozialen Apostolat leisteten.Aber die Idee der 32. Generalkongregation war ja,das betonte Arrupe immer,dass die Sorge um die Armen eben eine Sache aller und nicht die von einigen Spezialisten sein soll. Was war der Motor der Veränderungen? Für die Gesellschaft Jesu war das die Rückkehr zu den Quellen,zu unseren Gründungsdokumenten,zu den Briefen von Ignatius,der Biografie ...Das ging in den Fünfzigern los. Vor allem Hugo Rahner hat an diesen Quellen gearbeitet.Das Konzil rief zur Erneuerung des Ordenslebens durch die Rückkehr zum Charisma der Gründung auf.In meiner Ausbildung sahen wir niemals den Originaltext der Konstitutionen.Der war in Englisch gar nicht verfügbar.Ich erinnere mich noch an die Reaktion eines alten Mitbruders,der sagte:„Warum müssen wir ins 16.Jahrhundert zurück gehen.Ich habe alles vom Geist der Gesellschaft von meinem Novizenmeister bekommen.“ Die Idee,das Verständnis unserer Mission bei Ignatius zu studieren,das waren Dinge,die darauf warteten,entdeckt zu werden.Das war genau das, was in der ganzen Kirche in der Theologie geschah: Es ging darum, die authentische Tradition mehr in Verbindung mit den Anfängen zu sehen. In den späten Sechzigern kam dann die Idee der Einzelexerzitien auf.Wir hatten zeitweise bis zu 60 Novizen in einem Jahrgang.Wie sollte da der Novizenmeister jeden einzeln sehen. Also hielt er viermal am Tag Vorträge zum Inhalt der Übungen.Wir versuchten zuzuhören,mitzuschreiben und darüber zu beten.Jedenfalls wurden in den späten sech-

10 Jesuiten Schwerpunkt: 68 – Jahre des Umbruchs ziger Jahren dann vereinzelt die ersten Einzelexerzitien durchgeführt.Und in den siebziger Jahren setzte sich das dann durch. Und das hat die Gesellschaft Jesu dann verändert? Oh sicher! Wenn die Ausbildung sehr strikt geregelt ist – alle 15 Minuten läutet eine Glocke und so weiter – dann ist der gute Jesuit in der Ausbildung der,der immer pünktlich der Glocke folgt und nicht aus der Reihe tanzt.Aber Du hast nie die Chance herauszufinden,was dieser Kerl wirklich denkt. Wenn dagegen die Ausbildung vom erstenTag an auf dem persönlichen Gespräch basiert, dann kennst Du die Person natürlich viel besser.Und die Person ist ganz anders herausgefordert,sich den Geist der Gesellschaft Jesu zu Eigen zu machen. Das war bereits ein Kernanliegen von Ignatius,für den die „Gewissensrechenschaft“,also das ganz offene Gespräch des Jesuiten mit dem Oberen,den Orden zusammenhält. Im Konzil findet in der Konstitution zur göttlichen Offenbarung eine für mich fast kopernikanische Wende statt. Offenbarung wird eine Frage der Beziehung,und weniger eine Frage abstrakter und komplizierter Lehrsätze. Das scheint mir eine große Veränderung zu sein, nicht nur für die Theologie, sondern für das Leben der Kirche. Die ganze Gesellschaft ändert sich.Verließen deshalb viele Jesuiten den Orden? Na ja,es war die Zeit der sexuellen Revolution,des Feminismus und der Revolution gegen jede Form der Autorität: „Traue keinem über dreißig!“ Und dann änderten sich auch noch die Regeln für das OrdensPapst Paul VI. (re.) empfängt den Jesuitengeneral Pedro Arrupe SJ in Privataudienz © SJ-Bild

September 2010/3 Jesuiten 11 leben dramatisch.Wir älteren Kerle konnten irgendwie leichter damit umgehen.Aber die Leute,die das mittendrin in der Ausbildung erwischte,die waren sehr verunsichert. Manche empfanden es vermutlich einfach angenehmer,das als eine neue Berufung zu erleben,„Gott ruft mich jetzt zu etwas anderem.“ Aber viele haben einfach kalte Füße bekommen oder eine Frau getroffen. Der Höhepunkt der Mitgliedszahlen war um 1964,nicht später als 1966.Dann setzte bereits der Rückgang der Mitglieder ein. Heißt das, dass die Gründe für die Austritte schon in der „alten Gesellschaft“ lagen? Anfang der Sechziger waren die Leute völlig überrascht vom Beginn des Konzils:„Wozu brauchen wir ein Konzil? Es läuft doch alles gut!“ Die Orden wuchsen alle,die Schulen waren gefüllt ...Aber ich kann mich daran erinnern,dass ich so um 1967 Schwestern Exerzitien gegeben habe.Es war eine grauenhafte Erfahrung! Da war in der großen Kapelle der ganze Haufen.In den ersten Reihen saßen die Oldtimer und dann ging das nach Alter nach hinten.Und ganz hinten konnte man in der Ferne die weißen Schleier der Kandidatinnen gerade noch sehen.Glücklicherweise erzählte mir eine Schwester mittleren Alters von der Unzufriedenheit der jungen Generation.Ich hätte nichts davon erfahren.Das war 1967,am Beginn der sinkenden Zahlen. Vor allem das Konzil war unvermeidlich.Ich war glücklich in Innsbruck zu studieren.Und so konnte ich selbst erleben, wie die Theologie von Karl Rahner eben nicht eine persönliche Zurückweisung der Theologie der Vergangenheit war.Aber sie zerschmetterte die Selbstverständlichkeit der Kategorien der Vergangenheit.Es war die kritische Intelligenz, die sich der Quellen der Theologie versichert.Und das eben nicht im Stil der alten Textbücher,sondern sehr lebendig.Die liturgische Bewegung in Deutschland und Österreich war zur selben Zeit allem weit voraus.Da war so ein Geschmack in der Luft, man fühlte sich eingeengt von den Rubriken und Regeln ...Das Geschehen in den Orden lief parallel dazu. In Deutschland war eine der wichtigen Triebfedern der 68er-Bewegung die Auseinandersetzung mit der Rolle der Väter im Nationalsozialismus. Gab es in den USA etwas Vergleichbares? Hier in den USA war ein Antriebsmotor für die 60er-Bewegung die Frage der Gerechtigkeit und die Diskriminierung der Afroamerikaner.Die „Saint Louis University“ z.B.hatte die ersten afro-amerikanischen Studenten zugelassen.Und dann gab es den Abschlussball in einem sehr hübschen Hotel in der City. Aber das Hotel erlaubte Afroamerikanern nicht den Zutritt.Der Rektor und die Universitätsleitung entschieden,dass er dennoch stattfinden solle.Einer der Jesuiten,Pater Heithaus,schrieb daraufhin eine ätzende Kritik in einem Studentenblatt.Das erboste den Rektor sehr.Pater Heithaus musste also im Speisesaal niederknien und „culpa“ sagen, wegen „Ungehorsams“.Kaum war er aufgestanden,kam der Rektor in die Mitte des Speisesaals geschossen,schüttelte Pater Heithaus die Hand und gratulierte ihm. Welche Rolle spielte die sexuelle Revolution? Da gab es in den Sechzigern einen Artikel in einem Magazin des Instituts in Saint Louis,der darüber sprach,wie gesund es für Ordensmänner sei,eine Beziehung von tiefer Intimität mit einer Frau zu kultivieren.Es ging dabei nicht um die Frage tiefer Freundschaften auch zwischen Männern und Frauen, die ja in derTat wichtig sind, sondern um eine weit speziellere Beziehung,den so genannten „dritten Weg“. Das wurde dann zu einer Art

12 Jesuiten Schwerpunkt: 68 – Jahre des Umbruchs Schlagwort.Jesuiten in der Ausbildung experimentierten mit dem „dritten Weg“. Und daraus resultierte jede Art von Ärger. Das dürfte für die Oberen eine harte Zeit gewesen sein! Na klar! Es gab in den Sechzigern in vielen Kommunitäten eine tiefe Spaltung.Es war manchmal schwierig,noch miteinander zu reden.Eine große Zahl von Leuten,von denen wir bedauerten,dass sie gingen,verließen den Orden,weil sie keine Hoffnung sahen,dass sich wirklich etwas verändern würde. Das war die Situation, mit der sich Pater Arrupe auseinandersetzen musste.War er so etwas wie das Gesicht des Umbruchs? Ja,das trifft es ziemlich gut:Die Leute,die sich über die Entwicklung freuten würden ihn als solches anerkennen.Umgekehrt waren einige schrecklich scharf in der Kritik an Pater Arrupe:„Es brauchte einen Basken,um die Gesellschaft Jesu zu gründen und einen anderen,um sie zu zerstören.“ Gibt es Erlebnisse,die Arrupe wohl geprägt haben? Er war Novizenmeister in Hiroshima,als die Bombe fiel.Und nach dem Atombombenabwurf kam er mit den Novizen,um den Überlebenden zu helfen.Er hatte eine gewisse Grundausbildung in Medizin aus der Zeit vor seinem Eintritt,vermutlich sehr rudimentäre Grundkenntnisse.Aber die versuchte er damals einzusetzen,um zu helfen,so gut er eben konnte. Wie war Pater Arrupe? Er war sehr schlicht,sehr freundlich und unglaublich aufgeschlossen Besuchern gegenüber. Er hatte einen guten Humor! Ich erinnere mich an das Geräusch seiner Hausschuhe, wenn er wieder persönlich etwas zum Raum der Sekretäre brachte,slap slap slap.Er war sehr vorsichtig,um niemanden zu beleidigen und nicht scharf zu werden.Das war eine Seite.Aber wir wussten natürlich auch,wie viel Druck auf ihm lastete.Manches fanden wir erst später heraus,z.B.die wachsende Kälte in der Beziehung von Johannes Paul II.zu Arrupe.Er litt wohl sehr unter der Situation.Monate lang versuchte er eine Audienz beim Papst zu bekommen.Und die Antwort war entweder Schweigen oder ein „Nein“. Woher kam die ablehnende Haltung? Ich bin kein Historiker – aber mir scheint,der gute alte Neid spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle.Sowohl Pius XI.als auch Pius XII.waren den Jesuiten sehr gewogen. Beide verließen sich eher auf Jesuiten als Mitarbeiter,als die Ressourcen der vatikanischen Büros zu nutzen.So hatten viele einfach genug von den Jesuiten,als Pius XII.starb. Und wenn Du dann noch den starken Einfluss der Jesuiten auf das Vatikanische Konzil bedenkst, über den viele im Vatikan nicht glücklich waren … Man kann sagen,die Jesuiten waren zu wichtig geworden und zu mächtig.Und dann wurde von manchen eben jede kleine Dummheit und jedes Skandälchen,das von den Jesuiten kam,ausgeschlachtet.In den vorbereitenden Diskussionen für die beiden Konklave im Jahre 1978 begegnete Wojtyla,der den Jesuiten nicht besonders nahe stand,jedenfalls diesem Misstrauen und der Missgunst gegenüber den Jesuiten.Und so hatte er am Beginn seines Pontifikats einfach Vorbehalte gegenüber diesen „verdächtigen“ Jesuiten. Eine der ersten Amtshandlungen gegenüber uns war dann die Bitte von Pater Arrupe um den Erhalt der Grußadresse von Johannes Paul I.an die Prokuratorenkongregation, die wegen des Todes von Johannes Paul I.nie gehalten worden war.Diese Rede

September 2010/3 Jesuiten 13 enthielt eine scharfe Kritik an der Gesellschaft.Im Ganzen konnte in der Anfangszeit seine Beziehung zur Gesellschaft Jesu nicht besonders herzlich sein. War Pedro Arrupe eine prophetische Stimme? Ja,absolut.Er war einfach ein Mann des Gebetes,der sehr bewusst erlebte,wie der Geist die Kirche führte.Es gibt ja immer noch genug Menschen,die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil unzufrieden sind.Und die glauben natürlich nicht,dass dieses Konzil das Werk des Geistes war, vielleicht eher ein Schnitzer des Heiligen Geistes.Arrupe ging es im Kern um den authentischen Geist,die Treue zum ursprünglichen Charisma der Gesellschaft Jesu. Warst Du in Rom,als er von seiner letzten Reise zurück kam? Nein.Ich hörte davon,als ich gerade im Urlaub ankam: „Gestern hat Pater Arrupe einen Schlaganfall erlitten.“ Das war schon ein Schock! Aber bemerkenswert war,wie viel Mut er ausstrahlte.Er schrieb eine Ansprache an die Kongregation,die Kolvenbach wählte: „Ich befinde mich nun – mehr denn je – in den Händen Gottes.“ Wie ging es weiter? Nun, Pater Arrupe war im Krankenhaus damals ja noch bei Bewusstsein und ernannte Pater Winnie O’Keefe, den amerikanischen Assistenten, zum Vikar. Jedenfalls wollte der Papst die Gesellschaft Jesu nicht durch Pater Italienische Jesuiten auf Autogrammjagd bei Pater Arrupe SJ in dessen Arbeitszimmer © SJ-Bild

14 Jesuiten Schwerpunkt: 68 – Jahre des Umbruchs Edmund Runggaldier SJ auf dem Weg vom elterlichen Anwesen ins Noviziat der Jesuiten Foto: privat O’Keefe geleitet sehen.Ich denke,er war nicht einverstanden mit der Führung des Ordens durch Arrupe.Und im Schlaganfall sah er die Chance.Und wenn dieser nicht vertrauenswürdige Liberale übernommen hätte, dann hätte es gut sein können,dass er bei der nächsten Generalkongregation gewählt worden wäre. Aber an sich hatte doch Pater General das Recht, seinen Stellvertreter zu ernennen. Ja,na ja klar.Aber der Papst ist eben der Papst. Wir hörten, dass die ursprüngliche Absicht war,durch einen Bischof die Leitung der Gesellschaft Jesu zu übernehmen.Man sagt, dass es Kardinal Martini war,der zum Papst ging und ihn davon überzeugte,dass dies verheerend wäre.Er solle doch lieber jemanden wie Pater Dezza nehmen,und dazu natürlich Pater Pittau,ein Italiener und ehemals Provinzial von Japan. Weißt Du wie Pater Arrupe auf diese Vorgänge reagierte? Ich denke mir,er hatte Gefühle wie Ignatius, als sein alter Feind,Kardinal Caraffa,zum Papst gewählt worden war,Papst Paul IV. Man sagt,er sei totenbleich geworden,habe schweigend den Raum verlassen und sei fünfzehn Minuten später wieder gekommen,um zu sagen:„Alles wird gut werden.“ Er war in der Kapelle gewesen,um zu beten:„Alles wird gut werden!“ ■ Tobias Zimmermann SJ sprach mit Jack Dullea SJ

September 2010/3 Jesuiten 15 Schwerpunkt Bilderstürmer im Noviziat Als Novize in St.Andrä in Österreich (19661968) und Scholastiker der Philosophie in Pullach bei München (1968-1970) erlebte ich damals eine Art Kulturrevolution sowie Auswüchse einer „verzögerten innerkatholischen Reformation“.Wie in jeder Revolution gab es auch unter uns Novizen und Scholastikern Exzesse.Ich war aktiv,fast fanatisch an der damaligen Revolution beteiligt:Wir haben im Nazarenerstil gefasste Heiligenbilder förmlich zerstört. Kämpferisch missionarisch waren wir besonders in der „Erneuerung“ der Liturgie,d.h.in der Abschaffung eines in unseren Augen für das Wesentliche hinderlichen Ballasts.Weihrauch war der Feind Nr.1.Im Experiment im Jesuitenkolleg in Innsbruck durfte ich damals an „authentischen“,allerdings von den Oberen untersagten,Eucharistiefeiern im Rahmen von Mahlzeiten teilnehmen.Die Lesungen aus dem Alten Testament bzw. Paulus ersetzten wir durch Lesungen aus Marx oder der Existenzphilosophie.Begeistert erlebte ich,wie die klassischen Codizes der damals noch im scholastischen Sinne Lehrenden kritisch zerlegt wurden. Heute fragt man sich:Wie konnten Novizen zu Ikonoklasten werden? Wie konnte man mit Begeisterung,ja Fanatismus,die im Laufe der Jahrhunderte erprobte Philosophie über Bord werfen,um modischen Existenz- oder einseitigen politischen Philosophien anzuhängen? Der revolutionäre Umsturz kam nicht plötzlich.Bereits auf dem Jesuitengymnasium suchten wir nach Echtem,Authentischem. Neuromanische und neugotische Altäre und Kirchen galten uns als Kitsch.Geschätzt war die von Übermalungen und vom Ballast der Jahrhunderte befreite Romanik:Die Renovierung von St.Ambrogio in Mailand galt als Modell. Gefragt waren nackte Materialien:Ziegel, Eisen, Holz, Beton. Die Liturgiereform war bereits voll im Gange. Wir begrüßten die Vereinfachungen und die Wende zur ursprünglichen biblischen Botschaft:Was zählte,waren – ganz im Sinne der Reformation – die Ursprünge,die ipsissima vox des Herrn.Sozialpolitisch und philosophisch vollzog sich eine Annäherung zwischen dem katholischen Schüler- und Studentenlager und dem Marxismus.Die Wurzeln und die Antriebskräfte decken sich ja weitgehend.Besonders überzeugt waren wir von der Notwendigkeit einer ständigen Erneuerung bzw.permanenten Revolution,um Unechtheit und Entfremdung vorzubeugen. Als hartnäckiger Feind des wahren Christentums und einer besseren Welt fungierten der Konsum und der kapitalistische Liberalismus. Als Entfremdung galten uns aber auch subjektivistische Formen einer verinnerlichten Spiritualität. Nicht das subjektive Wohlbefinden zählte,sondern die Sache selbst,die reine ursprüngliche Botschaft des Evangeliums, die Läuterung der Motive des politischen Handelns,schließlich die Neustrukturierung von Kirche und Gesellschaft.Fragen wie:Wie fühlst du dich? waren uns fremd.Einige meiner Kollegen zerbrachen allerdings unter dem Druck der hohen Ideale,andere traten aus dem Orden aus,wiederum andere resignierten. Von den Grundmotivationen der damaligen Bewegung möchte ich mich auch heute nicht distanzieren. Die angepeilte Abschaffung all dessen,was im Ritus als sekundär galt,war allerdings ein Fehlgriff.Der Mensch braucht auch im liturgischenVollzug Nahrung für seine Sinne. Das Wort und das Wesentliche allein kann man schwer verkosten.Ignatius wusste das,wir ignorierten es damals. ■ Edmund Runggaldier SJ

16 Jesuiten Schwerpunkt: 68 – Jahre des Umbruchs Schwerpunkt Die Versuchung zur Gewalt bleibt Christian Herwartz SJ und Klaus Mertes SJ im Gespräch Mertes: Christian,ich gehöre ja eher zur 68erSpätlese.1973 habe ich Abitur gemacht.Als ich 1977 in den Orden eintrat,hoffte ich,den ideologischen Auseinandersetzungen an der Uni entfliehen zu können.Ich erinnere mich an einen Besuch im Noviziat von Dir.Du kamst aus Frankreich und redetest über Deine Sympathien mit der Französischen Kommunistischen Partei.Das war für mich ein Schock. Herwartz: Klaus,ich bin wohl ein richtiger 68er.Mindestens kann ich das in der Rückschau so sehen.In Frankreich habe ich mit anderen Arbeiterpriestern zusammen gelebt und in der Produktion gearbeitet.Ich wollte mit den KollegInnen zusammen Mensch werden – angestachelt durch die Menschwerdung Gottes in Jesus,unserem Bruder. Mertes:Ich war ein Diplomatenkind und hatte aus meinen Moskauer Jahren die Sowjetunion in Erinnerung.1966 war ich nach Deutschland zurückgekehrt.Ich erinnere mich immer an das tiefe Aufatmen,wenn wir den Eisernen Vorhang von Osten nachWesten überquerten. Ich habe dann später sehr viel von der Dissidentenliteratur gelesen,Solschenizyn und andere,und ich konnte einfach nicht verstehen, wenn man im Westen mit Kommunisten politisch sympathisierte. Herwartz: Ich habe in meiner Entwicklung Identität gesucht durch die Auseinandersetzung mit dem Widerstand gegen Hitler. Über solche Menschen und Gruppen habe ich gelernt,wie wichtig ein klarer Blick auf die Wirklichkeit ist.Jesus tat es ähnlich und fand sein Nein zu den Versuchungen in der Wüste mitten in seinem Hunger nach Leben. Mertes: Kannst Du mehr davon erzählen? Herwartz: Unsere unterschiedlichen Neins auf dem Weg zum Leben ergänzen sich wohl. Meins ist mir greifbar in der Aussage Jesu:Lasst euch nicht Meister,Vater oder Lehrer nennen! (Mt 23,8-10) Dieses Nein,die vorderen Sitze zu beanspruchen,öffnet den Blick auf die Mitmenschen als Geschwister. Das Wissen darum ist mir zum Leitfaden geworden. Mertes: Wozu konkret wolltest Du Nein sagen? Ich hatte mein großes Nein gegen den Kommunismus.Das unterschied mich damals von Dir – so habe ich es jedenfalls bei unserer ersten Begegnung im Noviziat empfunden. Oder insistiere ich jetzt zu sehr auf einen Nebenaspekt? Christian Herwartz SJ

September 2010/3 Jesuiten 17 Herwartz: Ja,da verrennst Du Dich aus meiner Sicht.Mir ging es darum,mich nicht von den Kollegen zu distanzieren,die in die Kommunistische Partei eingetreten sind und mit uns allen für eine Verbesserung des Lebens gekämpft haben.Ich habe mich entschieden gegen eine Entsolidarisierung gewehrt.Zwar war ich in keiner Partei,aber in einer Gewerkschaft.Mit wem warst Du solidarisch? Mertes: Ja,das ist eine gute Frage.Ich lebte damals sozusagen in meinen gewachsenen Solidaritäten: Familie, Gemeinde, Kirche, Schule.Politisch dachte und lebte ich in der Dankbarkeit gegenüber den Alliierten,die uns von Hitler befreit hatten, vor allem den Westalliierten,die danach mit uns eine Demokratie und einen Rechtsstaat erbaut hatten.Die Solidaritäten der 68er gingen über meinen Rahmen hinaus.Am schwierigsten war es für mich,als ich Deine Gesprächskontakte mit den RAF-Gefangenen verfolgen musste. Dagegen stand meine persönliche Familienerfahrung, weil mein Vater auch im Fadenkreuz der RAF stand und unser Haus deswegen abgesichert werden musste.Was hast Du denn in der Solidarität mit den anderen gelernt? Herwartz: Zuhören.In jedem Konflikt entsteht eine neue Sprache.Solidarität ist für mich der Ausstieg aus der Haltung einer Fürsorglichkeit,in der ich mich über den anderen stelle oder ganz in einer Funktion bleibe.In Konflikten kann ich eigene Vorurteile sehen und überwinden.Die Hungerstreikforderungen der politischen Gefangenen im Frühjahr 1989 wurden für mich dann verständlich: Kranke Gefangene zu entlassen oder eine gesellschaftliche Diskussion mit allen zu beginnen, damit Licht in den dunklen Teil unserer Geschichte der 70er Jahre fallen kann. Die Verantwortlichen konnten nicht darauf eingehen.Aber ich bin dankbar für die Begegnungen mit den Gefangenen, ihren Ange - hörigen und Unterstützern.Du kennst dieses Erlebnis der Einheit doch auch im Zulassen der Missbrauchsgeschichten jetzt,in der dir Sprache geschenkt wurde. Mertes:Ja,das stimmt.Vor allem habe ich besser begriffen,was eine Schweigespirale ist und dass sie einen systemischen Aspekt hat.„System“ war ja eines der Lieblingsworte der 68er.Eine Schweigespirale schweigt Menschen und ihre Erfahrungen tot.Übrigens begann ja bei vielen 68ern die Phase der Radikalisierung mit dem Protest gegen die Gewalt bei der Heimkindererziehung.Auch das finde ich einen interessanten Zusammenhang zwischen dem Thema Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt und 68er-Bewegung.Und noch eines wird mir heute deutlich: Die Versuchung zur Gewalt bleibt.Diesen Slogan „macht kaputt, was Euch kaputt macht“ verstehe ich heute zwar besser als früher,doch es muss eine Alternative zur Gewalt gegen die Gewalt geben.Gab es bei Dir Punkte,wo Du versucht warst,Gewalt zu legitimieren oder selbst dreinzuschlagen? Klaus Mertes SJ

18 Jesuiten Schwerpunkt: 68 – Jahre des Umbruchs Herwartz: Ich komme aus einer Familie,in der gern und lange um angemessene Reaktionen gerungen wird.Gewaltlösungen waren geächtet.Diese eingeübte Blockade spüre ich zum Glück weiter in mir.Aber ich bin oft perplex über dieVerlogenheit von Menschen, die vernichtende Gewalt anwenden,z.B.Familien Lebensgrundlagen entziehen und gleichzeitig brutal gegen Reaktionen darauf vorgehen. Merken sie den Zusammenhang nicht? Diese Verlogenheit macht mir Gewaltreaktionen verständlich,auch wenn ich sie für mich ablehne.Ich kann mich nicht so leicht davon distanzieren,ohne praktisch die Gegenseite zu unterstützen,was ich nicht will. Mertes: Den Zusammenhang kenne ich von den Missbrauchsopfern:Sie sind Opfer von Gewalt und werden auch noch totgeschwiegen,wenn sie sich gegen diese Gewalt wehren.Das Sprechen,Anklagen und Schreien der Opfer wird als Gewalt erlebt und überschreitet tatsächlich auch manchmal Grenzen. Hat sich eigentlich durch den Fall der Mauer 1989 etwas an Deinem Blick auf die Zeit vorher geändert? Für mich hat sich etwas ganz Wesentliches verändert,weil der Ost-WestKonflikt mein Denken nicht mehr so stark beherrscht.Der machte es mir ja damals so schwer,den 68ern zuzuhören. Herwartz:Auch für mich hat sich viel geändert durch die neue Erfahrung,ohne eine staatliche Mauer vor der Tür zu leben. Darüber musste sich wieder einmal meine Sprache ändern. Dieser Verlust hatte etwas Schmerzhaftes mitten in der Freude neuer Begegnungen mit ehemaligen Bürgern der DDR. In diesem Sprachloch tummeln sich vieleVerführer, die das Volk immer mehr in Reiche und Arme spalten,sogar unter einem christlichen Deckmantel.Solidarische Beziehungen werden unterlaufen.Ich hoffe auf ein neues Ringen, die Wirklichkeit solidarisch anzusprechen. © SJ-Bild Jesuiten-Scholastiker im „Villa-Haus“ Aidenried am Ammersee

September 2010/3 Jesuiten 19 Schwerpunkt Ein Boom religiöser Selbsterfahrung Im Herbst 68 begann ich mit dem Philosophiestudium in Pullach.Zu der Zeit war unter den Jesuitenstudenten schon eine geistig – spirituelle Orientierungssuche im Gang. Meine Noviziatsjahre trugen noch den Stempel der Nachkriegszeit.Die geistliche Formung war stark kognitiv und willensbezogen.Durch die Einsicht sollte der Wille bewegt werden, sein Ja zu geben für eine Lebensweise,wie sie der Gesellschaft Jesu eigen war.Für eine solche rationale und weitgehend trockene Innerlichkeit kam die Bewegung der end-sechziger Jahre wie ein erfrischender Regen. Es war die Zeit,in der theologische Schriftsteller wie Ladislaus Boros es verstanden haben, religiöse Themen wie: Gemeinschaft, Liebe,Gott,Tod u.ä.sehr existentiell zu beschreiben.Damit weckten sie ein neues Gespür für Menschlichkeit. Ich erinnere mich, wie die einführendenVorlesungen in die Tiefenpsychologie ein attraktiverer Stoff der Auseinandersetzung in der Selbstsuche wurde.Durchleuchten der eigenen,tieferen Persönlichkeitsschicht,Modelle ihrer Genese und Struktur zu hören,war wie eine persönlicheWahrheitssuche. Dabei konnte es nicht ausbleiben,dass bisherige,fromme Gedanken z.B.über die eigene Berufung kritisch hinterfragt wurden.Für das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis hatte die Tiefenpsychologie etwas Zufriedenstellendes,fast Mystisches an sich. Mit Neugier und Spannung nahm ich an der ersten Selbsterfahrungsgruppe auf der Basis gruppendynamischer Regeln teil.Ich wollte durch unbekannte Methoden eines solchen Gruppenprozesses und durch ungefilterte, gegenseitige Kritik mich selber besser kennen lernen. Mit nicht geringerem Interesse entdeckte ich auch die ersten Angebote von fernöstlicher, ungegenständlicher Meditation.Als Alternative zu den ignatianischen Betrachtungsübungen versprach sie ein Entdecken des Geheimnisses Gottes jenseits seines Wortes. Andere Mitstudenten setzten sich in einem ähnlichen,fast spirituellen Enthusiasmus mit soziologischen Theorien über Struktur und Funktionieren der Gesellschaft und ihre Rückwirkungen auf den Einzelnen auseinander.Es war ein breiter,gesellschaftlicher Hunger nach Neuem entstanden.Die Spannung zwischen gewohntem Denken und anderen Ideen war nicht immer leicht auszuhalten.Viele meiner damaligen Mitstudenten wurden durch diesen Hunger aus dem Orden hinausgezogen.Ich aber spürte bei aller Suche nach Neuem im spirituellen Leben in der überkommenen Tradition eine gewisse Heimat,die ich nicht aufgeben wollte. Heute würde ich sagen:Bei allem suchenden Umschauen haben wir schon Anteil am Gesuchten und stehen deshalb nicht am kompletten Anfang.Wir gehen auf neuen Wegen und finden das Alte, schon Gehörte und Verkündigte,das mit uns verbunden ist. ■ Ludwig Schuhmann SJ

20 Jesuiten Schwerpunkt: 68 – Jahre des Umbruchs Schwerpunkt Gleichberechtigung – alles erledigt? „Wer kümmert sich denn jetzt um Ihre Tochter?“ fragten mich oft männliche Kursteilnehmer vonWochenendseminaren. Männlichen Kollegen wurde diese Frage hingegen nie gestellt.Mein Mann und ich hatten die Rollen getauscht: während er die Tochter erzog,stand ich im Berufsleben.Für uns war das in Ordnung. Als Studenten der Soziologie in den 68ern hinterfragten wir auch die klassischen Geschlechterrollen zugunsten des Rechtes auf Selbstbestimmung des eigenen Lebens. Die 68er und eine starke Frauenbewegung stellten die traditionelle Rolle der Frau radikal in Frage.Diese war erkannt als gesellschaftlich bedingt und interessegeleitet.Statt ausschließlicher Sorge für Mann,Kind und Heim wurde jetzt das Recht auf ein Stück eigenes Leben und auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beansprucht. Die engagierten Diskussionen und Aktionen, vornehmlich im akademischen Milieu angesiedelt,fielen bei den Frauen in der Kirche auf besonders fruchtbaren Boden.Ich erinnere mich sehr gut an die leidenschaftlichen Diskussionen in der Katholischen Hochschulgemeinde in Freiburg,zu deren Sprecherkreis ich 68/69 gehörte. Parallel dazu gab es zwei weitere Schubbewegungen in Richtung Demokratisierung der Kirche:das 2.Vatikanische Konzil und die Würzburger Synode. Die Aufwertung der Laien führte zu einer enormen Aufbruchstimmung.Frauen hofften,dass in der Kirche auch für sie neue Zeiten anbrechen mögen. Und es gab Entwicklungen:Waren das kirchliche und Gemeindeleben bis dahin weitgehend exklusiv von Priestern und Ordensschwestern bestimmt,so entwickelte sich jetzt eine viel größere Beteiligung von Laien,und hier vor allem von Frauen. In den Gemeinden entstanden Familienkreise, die sich einem modernen,partnerschaftlichen Familienbild verpflichtet wussten.Frauen übernahmen den Kommunionunterricht.Selbst im Gottesdienst waren Frauen jetzt nicht mehr ausgeschlossen. Frauen kamen zu Wort: bei Lesungen und Fürbitten,als Predigerinnen und Ministrantinnen. Das sich wandelnde Selbstverständnis der Frauen,die Suche nach Neuorientierung – diese Prozesse spiegelten sich in den Angeboten der kirchlichen Bildungsarbeit wider. Zu dieser Zeit arbeitete ich als Bildungsreferentin im Heinrich Pesch Haus,Ludwigshafen. Veranstaltungen zu Themen wie z.B.: „Frauenrolle imWandel“ und „Männer und Frauen heute“ erfreuten sich großer Nachfrage.In der Bildungsarbeit standen Gesprächsgruppen und Selbsterfahrung hoch im Kurs.Es galt Neuland zu betreten:erprobte Modelle gab es noch nicht. Erfahrungsaustausch und Vergewisserung waren hier besonders bedeutsam. Auch die Männer waren aufgefordert,ihre Rolle zu überdenken und neue partnerschaftliche Verhaltensweisen einzuüben. Schließlich sind Geschlechterrollen zwei Seiten einer Medaille.Als „frischgebackene“ Soziologin konfrontierte ich die Teilnehmerrunde in die - sen Seminaren häufig mit statistischen Daten. Das war ein Minenfeld.Die „Herrschaften“ stürzten sich auf vermeintliche Erhebungsfehler,um das unerwünschteThema irgendwie abzubiegen. Im Heinrich Pesch Haus konnten die virulenten Fragen von gesellschaftlicher,familiärer und persönlicherVeränderung offen und kom-

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