Jesuiten 2014-3

Radikalität und geistliche Bewegungen Paulus war in vielerlei Hinsicht radikal, aber das Radikalste an ihm war wohl, dass er Raum gegeben hat für Bekehrungen. Er selbst hatte sich vor Damaskus radikal bekehrt. So konnte er verstehen, was in Menschen mit Bekehrungserfahrungen abging. Entsprechend bunt sahen Paulus‘ Gemeinden aus. Da gab es Frauen und Männer aus dem Zwielichtbereich, ehemalige Eingeweihte geheimer Gottesdienste bis hin zu früheren Knabenliebhabern. Eine solche bunte Ansammlung von Bekehrten trifft man in den Kirchen heute am ehesten noch in geistlichen Bewegungen. Während in Sonntagsvormittags-Gottesdiensten am ehesten ein Querschnitt der Gesellschaft vertreten ist, trifft man in geistlichen Bewegungen nicht selten Alternative neben ehemaligen Heavy-Metal-Fans oder Leuten, die mit allen Wassern indischer Esoterik gewaschen sind. Viele ihrer Mitglieder haben mal sehr viel in ein ganz anderes Leben investiert als in das, welches sie jetzt führen. Will sich Kirche auf den Spuren des Paulus verstehen, muss sie auch heute Raum für Bekehrte geben. Dafür haben die paulinischen Gemeinden allerdings auch einen hohen Preis bezahlt. In den paulinischen Gemeinden gab es Parteien, die Führern ergeben waren, hießen sie nun Apollos, Petrus oder Paulus selbst. Vergleichbare Probleme gibt es in geistlichen Bewegungen. Viele Bekehrte kennen eine charakteristische Anfälligkeit: Sie laufen schneller Gefahr, sich einer charismatischen Persönlichkeit zu unterwerfen, als Christen, deren Lebenslauf relativ geradewegs verlaufen ist. Wer eine radikale Bekehrung erfahren hat, sucht nach Halt, weil er oder sie sich auf einmal in einem Machtvakuum befindet. Das scheinbare Gleichgewicht vor der Bekehrung ist auf einmal verschwunden, und genau da kann schnell eine charismatische Persönlichkeit in der Tür stehen, die den vermeintlich richtigen Weg weist. Deshalb gibt es in geistlichen Bewegungen oft Autoritätsprobleme: Ihre Autoritäten werden autoritär, und ihre Mitglieder sind nicht frei, sondern werden rücksichtslos, oder umgekehrt: unselbständig ergeben. Nur zwei Beispiele: Eine Schwester erzählt, dass sie vor ihrem Austritt aus dem neuen Orden „im Gehorsam“ ständig Protokolle unterschrieben hat über Sitzungen, die nie stattgefunden hatten. Und: Ein junger Mann berichtet, dass ihm von Beichtvätern aus einer Bewegung geraten wurde, sein geistliches Leben abseits von den „normalen Gemeinden“ zu organisieren, 12 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal Die Gefahr, sich einer charismatischen Persönlichkeit zu unterwerfen

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