Jesuiten 2014-3

Radikal 2014/3 ISSN 1613-3889 Jesuiten

© fotolia/Zastol‘skiy Ausgabe September/2014 Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Die Radikalität der Liebe 4 Die Radikalität der Nachfolge Jesu 6 Radikale Demut ist Liebe 8 Die Radikalität der Hingabe 9 Die Radikalität des Ignatius 10 Radikal als Familie mit Kind 12 Radikalität und geistliche Bewegungen 14 Verachtung des Kompromisses 16 Radikales Lagerdenken 18 Radikale Ästhetik 20 Radikalität in der Pädagogik Geistlicher Impuls 22 Von der Großmut Jubiläum 2014 24 Von Maria Laach zu den „Stimmen der Zeit“: Jesuiten-Zeitschriften Nachrichten 25 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 28 Jubilare / Verstorbene Medien 29 Christof Wolf: Der Augenblick ist mein. Eine ignatianische Anleitung zum Beten. Vorgestellt 30 Zentrum für Ignatianische Pädagogik (ZIP) in Ludwigshafen 33 Autoren dieser Ausgabe Die besondere Bitte 34 Welt und Kirche mitgestalten 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Virtualität – Anwesenheit des Abwesenden 6 Virtualität aus der Schulperspektive 8 Mailgewitter & Twitterstürme 10 In die Computerzeit hineinleben 11 Erreichbarkeit 2.0: Facebook ohne Ende 14 Online-Exerzitien 16 Pastorale Projekte 17 Warum ich (noch) nicht bei Facebook bin 18 Warum ich bei Facebook bin 20 blog.radiovatikan.de 21 Jesuiten in Facebook Geistlicher Impuls 22 Von der Versuchung, virtuell zu leben Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Vorgestellt 29 Gebetsapostolat Nachrufe 2012 30 Unsere Verstorbenen Medien 32 DVD: Die Schrittweisen. Zu Fuß nach Jerusalem 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte 34 Ein Abonnement „Stimmen der Zeit“ 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2012/4 2012/4 Titelbild: @ Fotolia „Virtualität ist die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen.“ Diese Definition aus „Wikipedia“ auf vielfältige Weise umzusetzen, nahm sich Simon Lochbrunner SJ mit seinen Bildern im Schwerpunktteil dieser Ausgabe vor.

Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser, „Radikal“ ist ein ambivalentes Wort und wird auch ambivalent gehört, je nach dem Kontext, in dem es ausgesprochen wird. Einerseits hat es einen positiven Klang. Das Evangelium ist „radikal“, weil es an die Wurzel geht und zu einem grundlegenden Umdenken („metanoia“) auffordert. Jesu Lebensweise war „radikal“. Sein Nein gegenüber den Versuchungen in der Wüste war ebenso kompromisslos radikal wie sein Ja zum Vater im Himmel, in dem er sich geborgen wusste – und auch sein Ja zu den Armen und Sündern, mit denen er sich solidarisierte. Bis heute sind viele Menschen von dieser Radikalität fasziniert. Besonders auch Jugendliche lassen sich von ihr begeistern. Aber Radikalität kann auch verführerisch sein. Gerade hochherzige Menschen können durch kompromisslose Sprache und radikale Forderungen in Fallen gelockt werden, um darin gefangen gehalten zu werden. „Radikalisierung“ kann zu Verhärtungen führen, zu scharfen Freund-FeindUnterscheidungen, zu Kampfbereitschaft ohne Sinn und Verstand, zur Verachtung der mühsamen kleinen Schritte und des unspektakulären Tagesgeschäftes, zu Rechthaberei und Unachtsamkeit. Wir gehen mit diesem Schwerpunktthema dem Begriff der Radikalität im Sinne der „Unterscheidung der Geister“ nach: Wie können wir die Radikalität des Evangeliums unterscheiden von dem Missbrauch dieser Radikalität? Wie kann die Radikalität der Liebe, wie sie auch ganz unspektakulär im Alltag gelebt wird, von lautstarken Inszenierungen unterschieden werden, die bloß radikal sind, um aufzufallen? Wann stehen radikale Entscheidungen an, und wann ist es eher angemessen, den Kompromiss zu suchen und Zugeständnisse zu machen? Im Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut fragen die Knechte den Gutsherrn: „Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher kommt dann das Unkraut? Er antwortete: Das hat der Feind von mir getan. Da sagten die Knechte zu ihm: Sollen wir gehen und es ausreißen? Er entgegnete: Nein, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus. Lasst beides wachsen bis zur Ernte. Wenn dann die Zeit der Ernte da ist, werde ich den Arbeitern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen; den Weizen aber bringt in meine Scheune.“ (Mt 13,27-30) Vielleicht ist dies ja ein Schlüssel für ein angemessenes Verständnis von Radikalität: Wenn Radikalität sich mit Machtansprüchen verbindet, wird es geistlich falsch – mag es auch noch so fromm und „richtig“ klingen. Das Evangelium sagt dazu Nein und überlässt Gott die Macht. Dieses Überlassen ist radikal. Es verändert diejenigen, die es tun, an der Wurzel. Klaus Mertes SJ Patrick Zoll SJ 1 Jesuiten n September 2014 n Radikal

Die Radikalität der Liebe Liebe und Radikalität Das scheint eine Paarung zu sein, die mich zunächst zurückschrecken lässt. Macht radikale Liebe nicht blind? Ist sie nicht sogar gefährlich? Braucht Liebe nicht eine Mäßigung durch die Vernunft? Und doch: Liebe ist irgendwie radikal. Die Vorstellung einer Liebe mit angezogener Handbremse hinterlässt einen faden Geschmack. Liebe hat etwas mit der Sehnsucht nach vollständiger Hingabe zu tun, mit Risiko. Liebe ergreift uns ganz, sie erfordert den ganzen Menschen. Irgendeine Form von Radikalität scheint zum Wesen der Liebe zu gehören. Was es braucht, ist also ein Verständnis von Liebe, das zum einen ihrer Radikalität Rechnung trägt, aber zum anderen in dieser Radikalität auch Liebe bleibt. Liebe ist radikal, aber eben auch eine liebende Radikalität, sonst ist sie keine Liebe mehr. Was das konkret bedeutet, zeigt sich für mich im Umgang Gottes mit uns Menschen. Liebe respektiert Grenzen Wahre Liebe respektiert in radikaler Weise die Grenzen und die Freiheit des Anderen. Das Heil der Welt steht auf dem Spiel. Gott will Mensch werden und in und durch Jesus Christus die Welt mit sich versöhnen und doch hängt alles an der freien Entscheidung Marias. Mit einer solchen Liebe riskiert sich Gott und zeigt höchsten Respekt vor der menschlichen Freiheit. Und was für Maria gilt, gilt auch für jeden von uns: Gott hat uns, ohne uns zu fragen, geschaffen, aber er wird uns nicht ohne unsere Zustimmung erlösen. Seine Liebe respektiert die Grenzen, die ihm durch unsere Freiheit gesetzt werden. Liebe überschreitet Grenzen Und doch nimmt sich Jesus auch die Freiheit, Grenzen zu überschreiten, wenn sie ihn im Ausdruck seiner Liebe behindern. Es zieht ihn in besonderer Weise zu den Ausgegrenzten, den Ausgestoßenen, den Verachteten. Er relativiert menschliche Grenzziehungen, die sich auf Kosten des Menschen verabsolutiert haben und nicht mehr dem Leben dienen. Es ist die Radikalität dieser Liebe zu denjenigen jenseits der Grenzen der damaligen Zeit, die ihn letztlich ans Kreuz bringt. Lieben bis es schmerzt. Das ist radikal, und das Kreuz ist ein radikales Symbol dafür. Liebende Radikalität Dass die Radikalität der Liebe Jesu eine liebende Radikalität ist und bleibt, zeigt sich für mich in den „zelotischen“ Versuchungen im Leben Jesu. In der Wüste, bei der Vertreibung der Händler aus 2 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal Liebe hat etwas mit der Sehnsucht nach vollständiger Hingabe zu tun.

dem Tempel, beim Einzug in Jerusalem und letztlich bei seiner Gefangennahme wurde Jesus versucht. Die Versuchung bestand jeweils darin – wie die Zeloten – auf Gewalt, Hass oder Macht zurückzugreifen, um eine „radikale“ Antwort auf radikale Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Gewalt zu geben. Doch Jesus hat derartige „Einladungen“ zu Radikalität ausgeschlagen. Lieber schweigt er in dem Schauprozess seiner Verurteilung, als sich einer Hasssprache zu bedienen. Und selbst am Kreuz stilisiert er sich nicht als Opfer der „political correctness“, er polemisiert nicht, sondern findet versöhnliche Worte – Worte, die im Einklang mit seiner Botschaft von einer radikalen Liebe sind. Und doch bleibt eine liebende Radikalität der Radikalität der Liebe verpflichtet. Weder hat sich Jesus zu Lebzeiten gescheut, im Namen der Liebe eine grundlegende Kritik an der Kultur seiner Zeit zu äußern, noch sind die ersten Christen davor zurückgeschreckt, sich zur radikalen Ungeheuerlichkeit der Göttlichkeit Jesu zu bekennen. In Anlehnung an ein Wort Karl Rahners kann man es deshalb vielleicht so zusammenfassen: Der Christ von morgen wird ein Radikaler sein, einer, der etwas von der radikalen Liebe Gottes zu den Menschen erfahren hat. Aber er wird nur wirklich die radikale Liebe Gottes erfahren haben, wenn seine Radikalität eine liebende ist. Patrick Zoll SJ 3 Jesuiten n September 2014 n Radikal © fotolia/styleuneed

Die Radikalität der Nachfolge Jesu „Wenn jemand zu mir kommt und er nicht seinen Vater, seine Mutter, seine Frau, seine Kinder, seine Geschwister und auch sich selbst hasst, dann kann er nicht mein Jünger sein”. Diese Worte sind von Jesus zu den Menschen gesprochen worden, die sich um ihn versammelt hatten (Lk 14,26). Es handelt sich hier nicht um einen Einzelfall. In den Evangelien finden wir andere Stellen, in denen Jesus von denen, die ihm folgten, eine radikale Absage an familiäre Bindungen verlangt, bis hin zu der Bitte an einen Jünger, die heilige Pflicht der Bestattung des eigenen Vaters nicht zu erfüllen (Lk 9,57-58). Angesichts solch verstörender Forderungen drängen sich Fragen auf: Wie muss man diese von Jesus formulierten Anforderungen an die Nachfolge verstehen? Sind sie für uns heute von Bedeutung? Diese Fragen sind auch deshalb brisant, weil es sich bei derartigen Aussagen Jesu nicht um spätere Hinzufügungen irgendeines exzentrischen Jüngers handelt, sondern um Sprüche, von denen die kritische Exegese mit guten Gründen annimmt, dass sie auf Jesus selbst zurückgehen. Um den Sinn solch radikaler Forderungen verstehen zu können, ist es notwendig, sich die Situation zu vergegenwärtigen, innerhalb derer sie von Jesus formuliert wurden. In kultureller Hinsicht lebte Jesus in einer Welt, in der der Familie eine eminent wichtige Funktion zukam. Es war die Großfamilie, das „Haus”, nicht der Staat oder andere Vereinigungen, die bestimmten, wer man war und von wem man als Individuum konkrete Unterstützung erwarten konnte. Dies bedeutete aber auch, dass das „Haus” eine Kontrolle über die Beziehungen des Individuums ausübte und verhinderte, dass Einzelne sich für die frohe Botschaft Jesu öffnen konnten. Historisch gesehen war Jesu Einladung zur Nachfolge Teil eines größeren Projekts, welches darauf abzielte, allen Menschen die freudige Nachricht des unmittelbaren Anbrechens der Herrschaft Gottes zu verkünden. Jesus versammelte um sich eine kleine Gruppe von Jüngern, damit sie ihm bei der Verkündigung dieser freudigen Nachricht helfen. Sie sind im Wesentlichen die Adressaten, an die sich die Sprüche über die Radikalität der Nachfolge richten. Die Neuigkeit einer solchen Einladung zur Nachfolge und der Verkündigung der anbrechenden Gottesherrschaft traf nun aber auf die Trägheit eines Systems verwandtschaftlicher Beziehungen, welches sich jeglicher Veränderung widersetzte. Da Jesus vom unmittelbaren Anbrechen der Gottesherrschaft ausging, erklärt dies die Radikalität und Dringlichkeit, die man in manchen seiner Aussprüche wahrnimmt. Er hatte selbst die Trägheit und den Widerstand dieses Systems im Unverständnis bis hin zum offenen Widerstand seiner eigenen Verwandten erfahren, woran uns das Markusevangelium erinnert (Mk 3,20-21; 6,1-6a). Diese Erfahrungen 4 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal

ließen ihn verstehen, dass sein großes Verkündigungsprojekt sich nur realisieren lässt, wenn auch seine Jünger bereit sind, mit dem kulturellen Beziehungssystem ihrer Zeit zu brechen. Studiert man aufmerksam die Tradition dieser radikalen Aussagen Jesu, so bemerkt man allerdings auch, dass die Mehrheit von ihnen sich an die jüngste Generation richtet (z.B. Mk 1,19-20; Lk 9,57-59; Lk 14,26). Diese Tatsache hilft zu verstehen, dass die Radikalität des Rufes in die Nachfolge nur adäquat vor dem Horizont der Zukunft her verstanden werden kann, der nichts anderes ist als die Verheißung des unmittelbaren Anbrechens der Herrschaft Gottes. Was die Radikalität des Rufes Jesu in die Nachfolge motiviert und erklärt, ist somit das Erstaunen und die Begeisterung über das definitive Eingreifen Gottes in die Geschichte. In Jesu Worten findet sich weder eine allgemeine Ablehnung der Familie, noch drückt sich in ihnen das Ideal einer beziehungsfeindlichen Askese aus. Im Gegenteil: In anderen Worten Jesu begegnet uns eine positive Wertschätzung der Familie (Mk 10,1-10). Woran uns die radikalen Aussprüche Jesu mahnend erinnern, ist folgendes: Das Verkündigungsprojekt Jesu relativiert jedes unserer anderen Projekte und sollte oberste Priorität im Leben eines Jüngers haben. Santiago Guijarro 5 Jesuiten n September 2014 n Radikal © fotolia/Mirscho Die freudige Nachricht des unmittelbaren Anbrechens der Herrschaft Gottes verkünden.

Radikale Demut ist Liebe Radikales kann leicht missverstanden werden. Demut ist radikal, denn sie besteht in der Erkenntnis, Sünder zu sein, sowohl der Möglichkeit als auch der Wirklichkeit nach. Sie hat nichts zu tun mit einem negativen Selbstbild oder der Überzeugung, dass man wertlos sei, sondern besteht in der ehrlichen Wertschätzung der eigenen Fähigkeiten, einem ausgewogenen Sinn des eigenen Wertes vor Gott und in der menschlichen Gemeinschaft. Sie kann daher als Tugend gelten. Tugenden muss man einüben. Daher zieht sich Demut wie ein roter Faden durch die Geistlichen Übungen des Ignatius. In der Ersten Woche erkennt der Übende seine Sünden, die im Kern Hochmut sind. Mithilfe von Askese, Buße und Gebet gelangt er zur demütigen Anerkennung der eigenen Geschöpflichkeit und der Göttlichkeit Gottes. In der Zweiten Woche tritt der Exerzitant immer mehr in Beziehung mit Christus. Er betrachtet dessen Geburt, Leben und Leiden und bittet immer wieder darum, in seine Nachfolge erwählt zu werden. Dazu gehören die Bereitschaft und die Vorliebe, Christi Mühen, Leiden, Armut und Erniedrigungen auf sich zu nehmen. Weil Christus als Menschgewordener den Abstand zwischen Gott und Mensch überwindet, sind die konkreten Bedingungen seines Lebens dafür entscheidend. In ihnen zeigt sich, wie Gott zu den Menschen steht und wie man ihm begegnen kann. Angesichts dieser Realität drückt sich der überlegte Wunsch aus, Gott auf die Weise näher zu kommen, durch die er sich dem Menschen genähert hat: auf dem Weg der selbstentleerenden Liebe. Die Tendenz der zweiten Exerzitienwoche, Demut als zentrales Charakteristikum der erlösenden Inkarnationsgeschichte zu sehen, erreicht ihren Höhepunkt in den drei Weisen der Demut (EB 165-167). Der Exerzitant soll sie erwägen, unmittelbar bevor er in die „Wahl“ eintritt, also eine Lebensentscheidung trifft. In der ersten Demutsweise ist der Exerzitant auf Gott ausgerichtet, vermeidet Todsünden noch zum Zweck der Selbstrettung. In der zweiten ist er ungehinderter und freier auf Gott hin ausgerichtet, indifferent, und ist im Stande, frei von lässlichen Sünden Gott um Gottes willen zu erstreben. Die dritte Weise ist die radikale Liebe zu Christus (EB 167): Nur als Liebender kann ich wünschen, mehr mit Christus arm, geschmäht und gekreuzigt zu sein. Dies geschieht nicht etwa aus Masochismus, sondern aus Liebe zum leidenden und gekreuzigten Christus um Christi willen. Diese radikale Bereitschaft entspringt also keineswegs einer selbstzerstörerischen Grundhaltung. 6 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal Liebe zum leidenden und gekreuzigten Christus

Sie besteht in dem Wunsch, den Weg zu gehen, den Christus geht, und sich ihm dadurch ganz konkret und persönlich zu nähern. Die Liebe zu einer Person, selbst zu Christus, darf keinesfalls bedeuten, dass ich mich ohne Rücksicht auf meine eigene Person in der Beziehung zu ihm völlig ihm angleiche und mich dafür selbst kaputtmache. Es gibt aber die tiefe Sehnsucht, meinem Geliebten möglichst ganz nahe und für ihn da zu sein. Daher ist die dritte Demutsweise ausdrücklich eine Vorliebe für den Gekreuzigten, nicht für das Kreuz. Dieses Paradoxon wird in den Exerzitien immer wieder deutlich. Demut besteht darin, die eigenen Schwächen, das eigene Kreuz nicht zu leugnen, sondern in ihnen die Berufung und das Heil Gottes zu erkennen und anzunehmen. Ein Leben ohne Mängel, Einschränkungen, Konflikte und Verletzungen gibt es nicht. Gott beruft daher die Schwachen, und zwar in ihren Schwächen. Der Wunsch, mit Christus gedemütigt zu werden, „ihn mehr nachzuahmen“ (EB 168), ist daher ein „magis“ gegenüber der Indifferenz. Es besteht in der Vorliebe für den Weg Christi, in Form von Armut, Beleidigungen und Schmähungen. Diese Vorliebe ist radikal. Sie ist identisch mit Demut und als solche, paradoxerweise, Höhepunkt menschlicher Freiheit. Matthias Alexander Schmidt 7 Jesuiten n September 2014 n Radikal © fotolia/Fälchle

Die Radikalität der Hingabe In Syrien herrscht Bürgerkrieg. Kann man in einem solchen Zusammenhang positiv über Radikalität schreiben? Ausgehend von friedlichen Protesten hat sich der Konflikt radikalisiert in einem blutigen Krieg, der heute an vielen Fronten von fanatischen Gruppen geführt wird, die nicht einmal aus Syrien stammen. In einem solchen Kontext positiv von „Radikalität“ zu sprechen, ist nur möglich, weil es „die Anderen“ gibt. Die, die sich um die Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen kümmern. Unter ihnen sind auch Jesuiten und der Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS). Die Jesuiten und der JRS in Syrien leben ein radikales Programm, nämlich zu dienen, zu begleiten und zu verteidigen. Wir verstehen unsere Arbeit für die Flüchtlinge als ein ihnen Dienen, was verschiedene Formen annehmen kann: Von Schulunterricht bis hin zu der Versorgung mit gekochten Mahlzeiten. Dabei sind wir ganz nah bei den Menschen und versuchen, ihr Leben zu teilen. Ausgehend von diesen Werten ist es möglich, positiv von einer „Radikalität“ der Hingabe zu sprechen. Radikalität braucht Werte, bei denen der Mensch im Mittelpunkt steht. Für Pater Frans van der Lugt SJ waren das die Menschen in Homs, mit denen er bis zum Schluss ausharren wollte. So blieb er auch dann, als ihm freier Abzug aus der belagerten Stadt angeboten wurde. Er wurde ermordet, und in seinem Sterben war er wieder bei all den anderen unschuldigen Opfern dieses Krieges. Für uns ist er ein Vorbild in seiner Radikalität, in der er sich für Gott und die Menschen hingegeben hat. Neben Werten und Vorbild braucht Radikalität auch Begleitung. Viele unserer Mitarbeiter haben zu Beginn des Konflikts demonstriert und spielten mit dem Gedanken, auch zu den Waffen zu greifen. In langen Abenden gelang es manch einem Jesuiten, die jungen Männer für die Werte des JRS zu begeistern. Heute riskieren viele von ihnen jeden Tag ihr Leben für die Flüchtlinge. Aber ist „Radikalität“ nur etwas für Menschen im Kriegsgebiet? Wohl kaum, denn auch im Hintergrund braucht es die gleichen Werte und Einstellungen und am Ende auch Radikalität, wenn die Arbeit gelingen soll. Radikale Hingabe mit Werten, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen; radikale Hingabe, die sich formen lässt und sich an Vorbildern orientiert; radikale Hingabe, weil ich gemeint bin und kein anderer; radikale Hingabe weil es sich lohnt. Und so kann man dann auch im JRS arbeiten und den ganzen Tag Büroarbeit erledigen, ohne einen einzigen Flüchtling zu treffen. Radikale Hingabe ist nicht nur etwas für Helden. Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) 8 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal

Die Radikalität des Ignatius Ignatius war immer schon radikal. Das hat er in Pamplona vor dem Feind bewiesen, ebenso auf dem Krankenlager. Seine erste Bekehrung vollzog sich eher undramatisch. Es war die unterschiedliche Wirkung, die die Lektüre frommer Bücher und die Träumereien von Rittergeschichten in ihm hinterließ. Aber diese erste Bekehrung brachte noch keine tiefgreifende Wandlung. Sie war eine radikale inhaltliche Umorientierung, aber sie ging nicht an die Wurzel. Ignatius hatte die weltlichen Ziele mit geistlichen vertauscht. Die Motivation blieb dieselbe: Sich auszeichnen und dadurch Ehre gewinnen. Erst in Manresa vollzog sich die tiefere Wandlung. Das extreme Büßerleben, das er dort führte, umfasste auch häufige Beichten. Er wollte sich von seinem früheren Leben befreien. Damit scheiterte er. Immer wieder fand er, noch nicht alles gebeichtet zu haben. Quälende, zerstörerische Skrupel bemächtigten sich seiner. Er musste seine Ohnmacht erkennen, wurde suizidgefährdet und konnte nur noch kapitulieren. So hat er erfahren, dass nur Gott den Menschen retten kann. Nicht sich durch Buß- oder Tugend-Leistungen auszeichnen, ist der Wille Gottes, sondern sich Gott bedingungslos zu überlassen. Ignatius hat die Gefahr erkannt, die mit der Radikalität einhergeht: Sie als Machthebel zu benutzen, um größeren geistlichen Selbstwert zu erlangen. Jetzt hatte die Gnade die Wurzel erfasst. Von da an konnte ihn Gott mit mystischen Geschenken überhäufen. Doch dauerte es noch etwa 16 Jahre, bis er die Form von Radikalität gefunden hatte, die Gott von ihm wollte. Dabei wurde die konkrete Kirche seine Schule. Durch die Exerzitien geriet er in Konflikt mit der kirchlichen Autorität. Der Streitpunkt war: Wird durch diese Übungen, die den Einzelnen in eine unmittelbare Beziehung mit Gott führen, die Kirche nicht überflüssig? Acht Inquisitions-Prozesse musste er durchstehen. Aus allen ging er entlastet hervor. Seine Bereitschaft, sich der kirchlichen Autorität zu unterwerfen, überzeugte die Richter. Die Radikalität hat sich nach innen verlagert. Statt äußerer Askese wählte er den Gehorsam als Abschied von allem eigenmächtigen Verfügen über sich. Deshalb ist ihm in den Satzungen des Ordens die Transparenz des Einzelnen gegenüber dem Obern so wichtig. Ignatius will den Jesuiten als einen, der geführt vom Heiligen Geist Initiative ergreift. Die Offenheit, die dem Obern Einblick gewährt in die eigenen Motive und ihn so einbezieht in die Unterscheidung der Geister, ist dabei gleichsam das Seil, das den Einzelnen bei der gefährlichen Kletter-Partie sichert. Sie kennzeichnet die Nachfolge Jesu in der Gesellschaft Jesu. Alex Lefrank SJ 9 Jesuiten n September 2014 n Radikal

Radikal als Familie mit Kind Eigentlich fühlen wir uns als ganz normale Familie. Ist unser Lebensentwurf „radikal“, bloß weil wir versuchen, das zu leben, was Generationen vor uns gelebt haben: kirchliche Eheschließung – Bindung – Verantwortung für ein Kind? Zugegebenermaßen ist das heute nicht mehr selbstverständlich. Befreundete Paare heiraten erst nach der Geburt eines Kindes standesamtlich, oder sie heiraten gar nicht. Manche trennen sich wieder, auch kurz nach der Hochzeit. Wir werden angefragt: Warum denn heiraten? Es ist nicht mehr selbstverständlich Verantwortung füreinander zu übernehmen, unbedingt von Eventualitäten und unbegrenzt im Risiko. „Ich will Dich lieben, achten und ehren alle Tage meines Lebens“ widerspricht der permanenten Evaluationslogik unserer Tage, die gepaart ist mit einem Verständnis von Freiheit, das die potenziellen Entscheidungsmöglichkeiten wägt, nicht die Qualität der getroffenen Entscheidungen. Aber sind wir als kleine dreiköpfige Familie schon deshalb „radikal“, weil wir gesamtgesellschaftlich gesehen zu einer Minderheit gehören? „Radikal“ kann nicht die Oberfläche meinen, die Strukturen unserer Lebensform, die nur so lange halten, wie der nächste Entwicklungsschritt des jüngsten Familienmitgliedes dauert. Das sind bei einem Dreijährigen manchmal nur wenige Wochen. Radikal ist das, was tiefer geht, was Halt gibt, wenn der Säugling über Monate nachts im Zwei-Stunden-Takt an die Brust will und die Eltern trotz schlafloser Nächte zur Arbeit gehen; was es aushalten lässt, wenn ein Kleinkind ohne erkennbaren Grund eine gefühlte Ewigkeit brüllt. Das Radikale ist die Liebe. Es wäre zu einfach, hier den Kreis zu schließen und zu sagen, Gott ist diese Liebe, und deshalb ist unser Leben radikal – in ihm verwurzelt. Die Liebe ist keine utopische Idee. Ihr Ort ist bei uns der Familienalltag. Sie findet Ausdruck im Kuscheln und Gute-Nacht-Lieder Singen, im gegenseitigen Unterstützen, im Verzeihen. Radikal ist unsere Entscheidung. Wir vertrauen darauf, dass das Ja zueinander trägt, auch durch Krisen hindurch, und wir glauben, dass wir in unserem Alltag und in unseren Sorgen nicht allein sind. „Christ sein heute heißt bedingungsloser Radikalismus mit der Liebe als Fundament“ (Mario von Galli SJ). Dieses Festmachen in etwas, das wir selbst nicht machen können, trägt – ganz konkret: Es lässt uns der latenten Unsicherheit begegnen, die uns in Form von befristeten Arbeitsverträgen, räumlicher Distanz zu 10 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal Wir vertrauen darauf, dass das Ja zueinander trägt.

Freunden/Großfamilie und dem bangen Warten auf einen Kita-Platz begegnet. Das radikale Element in unserem Lebensentwurf hilft uns, den Weg zu finden durch den Dschungel von Fragen, die das Umfeld und die technischen Möglichkeiten an uns herantragen: Fertigprodukte oder faire Produkte, Plastik- oder Stoffwindeln, Füttern oder Stillen? Nicht alles Bequeme ist nachhaltig. Familie reicht an die Wurzel des menschlichen Lebens, sie bringt neues Leben hervor. Darum ist sie aufs Engste mit dem Ursprung des menschlichen Lebens verbunden. Sich darauf zu verlassen, bedeutet auf die Versicherung des Restrisikos zu verzichten. Aus dieser Perspektive kann unser Lebensentwurf als radikal gelten. Katrin und Jorge Gallegos Sánchez 11 Jesuiten n September 2014 n Radikal © fotolia/misu Familie reicht an die Wurzel des menschlichen Lebens, sie bringt neues Leben hervor.

Radikalität und geistliche Bewegungen Paulus war in vielerlei Hinsicht radikal, aber das Radikalste an ihm war wohl, dass er Raum gegeben hat für Bekehrungen. Er selbst hatte sich vor Damaskus radikal bekehrt. So konnte er verstehen, was in Menschen mit Bekehrungserfahrungen abging. Entsprechend bunt sahen Paulus‘ Gemeinden aus. Da gab es Frauen und Männer aus dem Zwielichtbereich, ehemalige Eingeweihte geheimer Gottesdienste bis hin zu früheren Knabenliebhabern. Eine solche bunte Ansammlung von Bekehrten trifft man in den Kirchen heute am ehesten noch in geistlichen Bewegungen. Während in Sonntagsvormittags-Gottesdiensten am ehesten ein Querschnitt der Gesellschaft vertreten ist, trifft man in geistlichen Bewegungen nicht selten Alternative neben ehemaligen Heavy-Metal-Fans oder Leuten, die mit allen Wassern indischer Esoterik gewaschen sind. Viele ihrer Mitglieder haben mal sehr viel in ein ganz anderes Leben investiert als in das, welches sie jetzt führen. Will sich Kirche auf den Spuren des Paulus verstehen, muss sie auch heute Raum für Bekehrte geben. Dafür haben die paulinischen Gemeinden allerdings auch einen hohen Preis bezahlt. In den paulinischen Gemeinden gab es Parteien, die Führern ergeben waren, hießen sie nun Apollos, Petrus oder Paulus selbst. Vergleichbare Probleme gibt es in geistlichen Bewegungen. Viele Bekehrte kennen eine charakteristische Anfälligkeit: Sie laufen schneller Gefahr, sich einer charismatischen Persönlichkeit zu unterwerfen, als Christen, deren Lebenslauf relativ geradewegs verlaufen ist. Wer eine radikale Bekehrung erfahren hat, sucht nach Halt, weil er oder sie sich auf einmal in einem Machtvakuum befindet. Das scheinbare Gleichgewicht vor der Bekehrung ist auf einmal verschwunden, und genau da kann schnell eine charismatische Persönlichkeit in der Tür stehen, die den vermeintlich richtigen Weg weist. Deshalb gibt es in geistlichen Bewegungen oft Autoritätsprobleme: Ihre Autoritäten werden autoritär, und ihre Mitglieder sind nicht frei, sondern werden rücksichtslos, oder umgekehrt: unselbständig ergeben. Nur zwei Beispiele: Eine Schwester erzählt, dass sie vor ihrem Austritt aus dem neuen Orden „im Gehorsam“ ständig Protokolle unterschrieben hat über Sitzungen, die nie stattgefunden hatten. Und: Ein junger Mann berichtet, dass ihm von Beichtvätern aus einer Bewegung geraten wurde, sein geistliches Leben abseits von den „normalen Gemeinden“ zu organisieren, 12 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal Die Gefahr, sich einer charismatischen Persönlichkeit zu unterwerfen

weil er sonst kein wirkliches katholisches Leben finde. Paulus hatte lange Erfahrung in der Begleitung von Bekehrten. Seine Autorität ist beispielhaft: „Wir bitten euch an Christi statt, lasst euch mit Gott versöhnen“, schreibt er (2 Kor 5,20). Paulus lässt Menschen ihren je persönlichen Weg zur Versöhnung mit Gott finden. Und was mindestens ebenso wichtig ist: Paulus bittet. Daher unterliegt Autorität in der Kirche nach Paulus zwei wichtigen Prüffragen: 1. Führt sie im Namen Jesu in die Begegnung mit dem dreifaltigen Gott? Und 2. Tritt Autorität noch mit den Formen der Bitte – das heißt frei und nicht in Form eines Zwangs – an Menschen heran? Es sind Fragen, denen sich Autoritäten stellen müssen, in den geistlichen Bewegungen aber auch in den Institutionen des kirchlichen Mainstreams. Ansgar Wucherpfennig SJ 13 Jesuiten n September 2014 n Radikal © fotolia/Kushnirov Avraham Den persönlichen Weg zur Versöhnung mit Gott finden

Verachtung des Kompromisses Wer radikal denkt und lebt, steht in Gefahr, den Kompromiss zu gering zu schätzen, aber damit auch das Leben Anderer, das von Kompromissen durchzogen ist, ihre Entscheidungen und ihre Tragik. Waren Jesus und Paulus, Franziskus und Klara, Johannes Paul II. und Mutter Teresa radikal? Helmuth Plessner, einer der Begründer der Philosophischen Anthropologie im frühen 20. Jahrhundert, versteht unter Radikalismus die „Überzeugung, dass wahrhaft Großes und Gutes nur aus bewusstem Rückgang auf die Wurzeln der Existenz entsteht; den Glauben an die Heilkraft der Extreme; die Methode, gegen alle traditionellen Werte und Kompromisse Front zu machen“. Der Radikale kritisiert die Gegenwart vom Standpunkt einer Kontrastgesellschaft, in der jeder seine eigenen Interessen vergisst und nur ein Interesse hat, sei es das Interesse seiner Klasse, seiner Partei, seiner Religion oder seines Gottes. Gesellschaften, die religiös und weltanschaulich plural sind, bauen auf dem Interessenausgleich und dem Kompromiss auf. Für den Radikalen ist jeder Kompromiss „faul“. Für ihn besteht nämlich kein Konflikt zwischen Sollen und Können, Erfüllbarkeit und Realisierung („wer will, der kann“). Das Abwägen von Gütern, Werten und Handlungsfolgen sowie der Instanzen von Gewissen, Tradition, Autorität gilt ihm als Schwäche, Halbheit oder Unglaube. Die Trennung von Recht und Moral, Politik und Religion ist in seinen Augen eine Verirrung des westlichen Liberalismus. Den Radikalen stört an der modernen Rechtsordnung, dass sie nicht „Tugend- und Wahrheitsordnung, sondern Friedens- und Freiheitsordnung“ ist (E.-W. Böckenförde). Dass diese historisch gesehen aus einem Kompromiss hervorgegangen ist – der Befriedung der Konfessionsgegensätze im Zeitalter der Religionskriege – scheint gegen sie zu sprechen. Mit dem hier neutral skizzierten Radikalismus ist es vollkommen kompatibel, dass er gegenwärtig beinahe ausschließlich in Gestalt des religiösen Extremismus vorkommt. Religionen haben in vielen Weltgegenden die Rolle der Ideologien und säkularen Heilslehren (Anarchismus, Sozialismus, Rassismus, Faschismus, Nationalismus) übernommen. Die überall spürbare Globalisierung produziert einen Typ von radikalem Gläubigen, der über die Religionsgrenzen hinweg ähnlich strukturiert ist und eine verwandte Agenda verfolgt. Gemeinsam ist jungen Muslimen, jungen Juden, jungen orthodoxen oder katholischen Christen, jungen Hindus der tiefe Wunsch, die eigene 14 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal Für den Radikalen ist jeder Kompromiss „faul“.

religiöse Tradition besser zu kennen als ihre Mütter und Väter. An die Rückkehr zu dem „reinem Ursprung“ knüpft sich das Versprechen, dass die gewaltigen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme einer Region oder Nation auf revolutionärem Weg lösbar seien, wobei nicht an die „westliche“ Revolution im Sinn der Gewaltenteilung, der Durchsetzung individueller Freiheitsrechte oder der Nutzung moderner Technik gedacht ist, sondern an die Etablierung vormoderner Politikformen und einer integralen Rechts-, Sitten- und Sakralordnung. Papst Benedikt hat vor drei Jahren das Anliegen der Neu-Evangelisierung mit dem der „Entweltlichung“ der Kirche verknüpft. Radikale Katholiken interpretieren das Papstwort so, dass die Kirche in Treue zu ihrem göttlichen Stifter gegenüber dem Zeitgeist keine Kompromisse eingehen könne. War Jesus radikal? Ging er nicht doch Kompromisse ein, als er, der nach eigenem Selbstverständnis „nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt war“ (Mt 15,24), die Tochter der Syrophönizierin heilte, oder sich von einer blutenden Frau berühren ließ, den Zöllner Matthäus zum Jünger berief, seine Jünger nicht wie Johannes fasten ließ, alle Speisen für rein erklärte, am Sabbat heilte? Radikaler als Jesus zeichnen die Evangelien Johannes den Täufer, die Pharisäer, Zeloten, Sadduzäer. Der menschgewordene Gottessohn kann nicht radikaler als der Vater sein, der „über Gute und Böse seine Sonne aufgehen lässt“ und „Barmherzigkeit, nicht Opfer“ will (Mt 12,7). Heinrich Watzka SJ 15 Jesuiten n September 2014 n Radikal © fotolia/Satit Srihin

Radikales Lagerdenken Gegen Muslime und den Islam hetzen, Homosexuelle schmähen, „Gutmenschen“ verächtlich machen; den Holocaustleugner Williamson als Helden feiern; Gedenkveranstaltungen für Rudolf Hess medial unterstützen – all das und vieles mehr war <kreuz.net>, jene „katholisch“ sich nennende Plattform, die am 2. Dezember 2012 vom Netz ging. Die Plattform <kreuz.net> war bis in höchste katholische Kreise hinein vernetzt, denn sie war auch immer bestens informiert über Vorgänge und Personalien in der römischen Kirchenleitung. Ein „kleiner Fisch“ flog 2012 auf, ein dem „Netzwerk katholischer Priester“ nahestehender Kleriker der Diözese Mainz, der nach einer Entschuldigung bei seinem Bischof – nicht bei den von ihm Verleumdeten und Verhöhnten – mit einem blauen Auge davon kam. Die größeren Fische, auch die „katholischen“, tummeln sich inzwischen in anderen Netzwerken. Eigentlich passt braun und katholisch nicht zusammen. Der braune Spuk in <kreuz.net> aber ging einher mit einer kirchenpolitischen Agenda: Die römisch-katholische Kirche wurde als „Konzilssekte“ bezeichnet – im Visier war also das Zweite Vatikanische Konzil. Die Hass-Sprache gegen das Konzil fand innerkirchlich durchaus auch Anklang: Endlich konnte die Ablehnung von Liturgie-Reform, Ökumene, interreligiöser Begegnung, Anerkennung der Demokratie mit Zitaten aus <kreuz.net> benannt werden, ohne „politisch korrekt“ formulieren zu müssen. Klammheimlich zustimmend konnte man miteinander über die verächtlichen Formulierungen lachen. Es muss nicht immer so offensichtlich rechtsextremistisch zugehen wie bei <kreuz.net>. Es reicht auch, wenn man sich als Brückenmedium in die rechte Szene zur Verfügung stellt, ohne selbst offen rechtsextremistisch zu sein, zum Beispiel dadurch, dass man auf katholisch sich nennenden Blogs hetzenden Leserkommentaren breiten Raum zugesteht, während man andere Stimmen von vorneherein abblockt. Oder man macht sich zu einem Brückenmedium zu einem Brückenmedium. Auf der Internet-Seite <kath.net> wird immer wieder für die Berliner Wochenzeitung „Junge Freiheit“ geworben, die ihrerseits mit bürgerlichintellektuellem Anstrich (Bezugsgrößen: Oswald Spengler, Ernst Jünger und Carl Schmitt) eine Brücke aus dem bürgerlichen Milieu in die rechtspopulistische Parteienszene bildet. Im Bündnis gegen die Ideologie der „Political Correctness“ gibt man auch gerne mal Leuten wie Stefan Herre, dem Gründer und Betreiber des islamfeindlichen Hetzportals „Politically incorrect“, Platz; er durfte jahrelang mit einem sympathischen Interview auf <kath.net> präsent sein. Die Christentumsfeindlichkeit der säkularen Rechten wird in solchen „katholi- 16 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal

schen“ Medien in der Regel nicht thematisiert, solange es gegen die gemeinsamen Feinde geht: „Political Correctness“, „Gender-Ideologie“, und so weiter. An der Wurzel dieser Form von „Katholizismus“ steht die plumpe Freund-Feind-Unterscheidung. Sie wird „radikal“ durchgezogen. Vernunft, Sprachwitz und Bildung haben instrumentellen Charakter: Sie dienen der Durchsetzung der vorausgesetzten Lagerlogik. Diskurs ist Machtkampf, „Dialog“ in der Kirche wird verachtet. Kritik wird als Verfolgung erlebt, Zurückweisung von Beleidigung als Bestreitung der Meinungsfreiheit. Papsttreu ist man nur so lange, wie man in päpstlichen Äußerungen dieselbe Lagerlogik zu erkennen meint wie die eigene. Die Anderen außerhalb des eigenen Lagers werden mit der Lagerbrille gesehen; so bestätigen die „Feinde“ immer wieder das Feindbild. Die gefährlichsten Gegner sind die Abtrünnigen aus den eigenen Reihen, die Abgefallenen, Verräter und Nestbeschmutzer. Mit „katholisch-sein“ hat solche Radikalität nichts zu tun. Das Evangelium durchbricht die Lager-Unterscheidung zwischen „wir“ und „die“ an der Wurzel. Ein Blick in die Apostelgeschichte genügt, um das zu begreifen. Klaus Mertes SJ 17 Jesuiten n September 2014 n Radikal © fotolia/Wolf

Radikale Ästhetik Radikale Ästhetik kann eine reduzierte bedeuten, die sich auf das Wesentliche konzentriert. Die mittelalterliche Kunst der Zisterzienser, die auf alles verzichtet, was die Sinne von Gott ablenken könnte, ist in diesem Sinne radikal: Keine Musik außer dem Chorgesang der Mönche, keine Farben in den Glasfenstern, keine Heiligenfiguren und nichts an Dekor außer Maria, die ganz Empfangende ist, so wie der Mönch es sein soll: Empfangender des reinen göttlichen Lichts. Als Purgatorium für die Sinne und für eine begrenzte Zeit sicherlich sehr hilfreich, um das Entscheidende wieder zu entdecken. Aber wird damit nicht ein ideales Menschenbild vorausgesetzt und angestrebt, das mit unserer Erfahrungswirklichkeit nichts zu tun hat? Fördert radikale Ästhetik so verstanden und die ihr entsprechende Lebensweise nicht geradezu radikale Ansichten und Haltungen? Einfachheit und Kargheit im Stil der Kunst der Zisterzienser inspirierten den weltberühmten Architekten Le Corbusier beim Bau des Dominikanerklosters La Tourette bei Lyon. Asketischer, puristischer Geist wurde zwischen 1956 und 1960 Form in Beton und Glas. Klarheit und Schönheit sollen sich um ihrer selbst willen zeigen. Unabhängig vom Leben, wie es scheint. Es heißt lapidar, der Konvent sei wegen Nachwuchsmangels schon nach nicht ganz zehn Jahren wieder ausgezogen. Es darf gefragt werden: Ist radikale, absolute Ästhetik, die den Menschen und seine Bedürfnisse nicht ernst nimmt, letztlich rücksichtslos und unmenschlich? Bedeutet radikale Ästhetik, die Realität – so wie sie dem Auge erscheint – schnörkellos und ungeschminkt zu zeigen? Domenico Ghirlandaio malt um 1490 in seinem Portrait eines alten Mannes dessen Nase mit seinen krankhaften Wucherungen so realistisch, dass unser Auge, von der Werbeästhetik enggeführt, am liebsten wegschauen möchte. Ein paar Jahre später porträtiert Albrecht Dürer seine Mutter in ähnlicher Radikalität: die hervortretenden Backenknochen und die heraustretenden Augäpfel lassen den Betrachter teilhaben am Prozess des Alterns eines Menschen und konfrontieren ihn mit Endlichkeit und Tod. Max Beckmann und Otto Dix haben am Beginn der Moderne ähnlich empfunden und die Schrecken und die Brutalität des 1. Weltkriegs künstlerisch aufgearbeitet. 18 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal Schönheit und Kunst verweisen auf den Künstler als Schöpfer: auf den Menschen.

Oder darf man radikale Ästhetik – vergleichbar mit der absoluten Musik – als unbedingten Verzicht auf alles Realistische und sinnlich Wahrnehmbare verstehen? Wäre die abstrakte Kunst jener Königsweg der Ästhetik, die nur noch geistige Strukturen und Formen zeigt? Schönheit in ihrer reinsten Form, die ihre Inspiration – wie die Wurzeln – aus dem Bereich des uns nicht Sichtbaren, aus dem Verborgenen empfängt? Kein von Angst und Schmerz verzerrtes Gesicht eines Gefolterten der chilenischen Künstlerin Fernanda Piamoati also, sondern – wie in Sankt Peter in Köln – nur der Satz in Blockschrift „Ich habe Angst“ von Rosemarie Trockel im Altarraum, der die Gottesdienstbesucher zutiefst anrührt und sie mit ihren eigenen Ängsten konfrontiert hat? Beides müssten wir aushalten lernen. Radikal ist ein sehr schillerndes Adjektiv, zumal es unter vielerlei Rücksicht negativ konnotiert ist. Schönheit und Kunst verweisen auf den Künstler als Schöpfer, sprich: auf den Menschen. Er ist die Wurzel. Radikale Ästhetik wäre die künstlerische Gestaltung einer inneren Vorstellung von etwas, das er mit Konsequenz umsetzt, ohne dabei seine Kreatürlichkeit, seine Sehnsüchte und die eigenen existentiellen Brüche zu vergessen. In Anlehnung an einen fiktiven Grabspruch für Ignatius von Loyola könnte man formulieren: Sich faszinieren lassen von der Weite und Größe des Schönen und doch ins Spiel bringen die Grenzerfahrungen und die Gebrochenheit alles Endlichen. Diese Ästhetik ist weder reduziert noch minimalistisch, weder rein noch absolut. Eine radikal menschliche Ästhetik wäre es. Werner Holter SJ 19 Jesuiten n September 2014 n Radikal © fotolia/studio2013

Radikalität in der Pädagogik Junge Menschen dürfen nicht für politische Zwecke instrumentalisiert, nicht zu politischem Aktionismus angehalten und schon gar nicht politisch radikalisiert werden. Bezüglich dessen, was Erziehung in der Schule nicht darf, herrscht wohl breiter Konsens. Doch wo verlaufen die pädagogischen Grenzen, wenn es darum geht, Schülern die Gelegenheiten zu geben, für ihre Überzeugungen einzustehen, notfalls auch in Form des offenen Protestes auf der Straße? „Können wir als Klasse nicht einen Beitrag leisten, damit die Pauke erhalten bleibt?“ Diesen Satz hat ein Neuntklässler, der mit Klassenkameraden im Anschluss an eine Gesprächsrunde, die viele Schüler sehr nachdenklich und betroffen gemacht hat, im großen Stuhlkreis formuliert. Zuvor hatten sich die Schüler/innen im Rahmen eines schulischen Präventionskonzeptes mit ehemals Drogenabhängigen in der Bonner „Pauke“, einem Zentrum für Suchthilfe, getroffen. Aus dem Munde von Betroffenen haben sie gehört, was es heißt, über Jahrzehnte lang drogenabhängig zu sein. Sie haben erfahren, wie plötzliche Schicksalsschläge dem eigenen Leben eine ganz ungeahnte, negative Wende verleihen können. Und sie haben mit Hochachtung wahrgenommen, dass der Weg zurück ins „normale“ Leben nach erfolgreichem Entzug trotz aller Entbehrungen und schmerzhafter Rückschläge mit viel Glück schließlich doch möglich ist. Das Sprichwort, dass jeder Mensch seines Glückes eigener Schmied sei, wollte in dieser Form kaum ein Jugendlicher nach den Offenbarungen der Gesprächspartner so noch im Raum stehen lassen. Außerdem haben die Schüler gespürt, wie wichtig in solchen Lebenssituationen Unterstützung von außen ist, wie sie zum Beispiel von einer Einrichtung wie der „Pauke“ geboten wird. Allein und ohne fremde Hilfe, so waren sich alle ehemals Abhängigen nämlich einig, hätten sie sich wohl nie von den zerstörerischen Drogen lossagen können. Beiläufig wurde am Schluss erwähnt, dass ein zentraler therapeutischer Bereich der „Pauke“ aus Kostengründen bald schließen soll. Die Schüler waren ein zweites Mal sehr betroffen und haben spontan beschlossen, sich an den geplanten Demonstrationen zu beteiligen. Ist das eine Reaktion, die pädagogisch wünschenswert ist? Paulo Freire, einer der großen Befreiungspädagogen des vergangenen Jahrhunderts, würde den Willen der Schüler, sich politisch aktiv für eine Sache einzusetzen, die zu mehr (Chancen-) Gerechtigkeit führt, sicherlich befürworten. Freire ist der Überzeugung, dass es einer Schule gelingen muss, ihre Schüler aus der gelebten Passivität zu führen. Die Passivität sei vielfach Ausdruck einer fatalistischen Weltsicht, die nicht dazu beitragen kann, die politischen, sozialen oder kulturellen Zustände zu verbessern. 20 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal

Damit der Aufruf nach Aktivität aber nicht im naiven Aktionismus mündet, sei laut Freire das ständige Zusammenspiel von Reflexion und Aktion entscheidend. Über die Reflexion werde das Bewusstsein geschärft, eine Haltung erzeugt, eine Position begründet. Um aber auch nicht im puren Verbalismus zu verharren, müsse der Reflexion konsequenterweise auch eine Aktion folgen. Die Neuntklässler sind nach dem intensiven Eindruck, den sie durch die Gespräche gewonnen haben, vom sozialen Nutzen und der Sinnhaftigkeit der therapeutischen Einrichtung überzeugt. Viele der 15-Jährigen haben auch nach weiterer Reflexion die Notwendigkeit verspürt, den politischen Protest persönlich zu unterstützen, sich für Bedürftige einzusetzen, sich klar erkennbar zu positionieren und ökonomisch motivierte Entschlüsse und Verhältnisse nicht tatenlos hinzunehmen. Es drängt sie zum Protest auf die Straße. „Empört Euch!“ forderte der bekannte französische Philosoph Stéphane Hessel in seinem gleichnamigen Essay vor vier Jahren. Den Erziehenden könnte man zurufen: Lasst diese radikale Empfindung bei jungen Menschen zu, damit diese im Sinne Paulo Freires lernen, aktiv gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Dirk Stueber 21 Jesuiten n September 2014 n Radikal © fotolia/LoloStock

Von der Großmut G.K. Chesterton hat 1923 ein wunderbares Buch über den Hl. Franz von Assisi geschrieben. Ich glaube, er hat ihn lange beobachtet, in seinen Gesten, seinen Handlungsweisen und Haltungen. Chesterton macht einen Zug im Wesen des Franziskus aus, nämlich die Courtoisie oder Noblesse. Er meint sogar, dass Franz auch in seiner größten Armut und Armseligkeit nie etwas abgelegt hätte, nämlich seine feinen Manieren. Im Erzählen des Lebens dieses Mannes von Assisi entfaltet sich, was damit gemeint ist: Franz begegnete den Vögeln des Himmels und den Tieren im Wald mit Ehrerbietung. Er muss mit einer feinen Höflichkeit den Menschen gegenüber getreten sein, in Achtung ihrer Würde und Größe. Es soll keinen Menschen gegeben haben, der nicht sein wohlwollendes Interesse an ihm und seinem Innern gespürt hätte. Courtoisie meint also nicht nur Wohlwollen; Barmherzigkeit ist auch zu wenig. Chesterton meint „höfische Manieren” damit, aber nicht am Hofe vor einem König, sondern eine Einstellung, wo ein Mensch, Franz, umgeben ist von lauter Königinnen und Königen. So sah er die Menschen an, die Geschöpfe Gottes sind. Eine einzige Gebärde gab den Menschen ihre Selbstachtung wieder – im Gegensatz zu „Philanthropen” oder „Wohltätigkeitsbeamten” eines großartig organisierten „Sozialsystems”. In seinen Armen bekam Leben, was eigentlich tot war – so in Greccio beim Weihnachtsspiel. Chesterton entdeckt noch mehr beim hl. Franz, z.B. die Courage, die auch vom Wort her mit „currere“, „rennen” zu tun hat, also ein rasches, energisches Handeln zeigt, eine Schnelligkeit, mit der Franz dem Bettler nachrannte. Er sei wirklich ein „wanderndes Feuer” gewesen. Courtoisie – Noblesse und Großmut scheinen auf den ersten Blick nicht zusammen zu passen. Aber sie haben die gleiche Quelle, nämlich die Wahrnehmung der unfasslichen Weite Gottes. Ignatius schreibt im Exerzitienbuch (Nr. 5): „Für den, der die Übungen empfängt, ist es sehr nützlich, mit Großmut (grande animo) und Freigebigkeit (liberalidad) gegenüber seinem Schöpfer und Herrn in sie einzutreten, indem er ihm sein ganzes Wollen und seine ganze Freiheit anbietet, damit seine göttliche Majestät sich sowohl seiner Person wie alles dessen, was er hat, entsprechend ihrem heiligsten Willen bediene.“ Großmut, ein weites Herz und Großzügigkeit wachsen aus dem Blick auf die Geschöpfe und die Schöpfung, weniger 22 Jesuiten n September 2014 n Radikal Geistlicher Impuls Franz und Ignatius gingen durch die gleiche Seh-Schule Gottes.

23 aus einem Imperativ. Darum macht es auch Sinn, immer wieder eine Betrachtung zu machen, die die „Blick-Richtung” Gottes meint, die zu einem „An-sehen” führt. Es bedeutet auch ein Erforschen des Innern. Franz und Ignatius sind einander verwandt, denn sie gingen durch die gleiche Seh-Schule Gottes. Noch zwei Worte sollen zum Schluss angeführt werden, die uns das fremde Wort „Großmut“ erschließen können. Meister Eckhart (1226-1328) sagt: „Darauf setze all dein Bemühen, dass dir Gott groß werde.“ Der Prediger J. Bossuet (1627-1704) ergänzt: „Die Menschen sind in Verlegenheit, wenn man Großes von ihnen verlangt, weil sie klein sind. Gott findet es unziemlich, wenn man etwas Kleines von ihm erbittet, weil er groß ist.“ Einen konkrete Übung können wir von Papst Johannes XXIII. übernehmen: Er beginnt sein geistliches Tagebuch mit der „Rückschau auf die großen Gnadenerweise, die dem zuteil wurden, der sich selber für gering achtet.“ Vielleicht halten Sie selbst einmal eine solche Rückschau und können Großes in Ihrem Leben entdecken. Dann wird der eigene Sinn und das Herz auch weit. Christoph Kentrup SJ © Stefan Weigand

200 Jahre Wiedererrichtung des Jesuitenordens (1814-2014) Von Maria Laach zu den „Stimmen der Zeit“: Jesuiten-Zeitschriften 1863 hatten die Jesuiten in der ehemaligen Benediktinerabtei Maria Laach in der Eifel eine Ausbildungsstätte errichtet. Dort wurde auch die Gründung einer Zeitschrift „für Gebildete“ initiiert. Seit März 1865 erschienen, zunächst unregelmäßig als lose Schriftenreihe, die „Stimmen aus Maria Laach“ – mit dem Ziel, den „Syllabus“ Papst Pius’ IX. (1864), eine Sammlung verurteilter „Irrtümer der Moderne“ zu verteidigen, und anschließend an der Vorbereitung des Ersten Vatikanischen Konzils (1869/70) mitzuarbeiten. Seit Juli 1871 kommen die „Stimmen aus Maria Laach“ monatlich heraus. Aber die Jesuitengesetze Bismarcks von 1872 erzwangen das Exil in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden. Seit Herbst 1914 in München, wurde der Name im November auf „Stimmen der Zeit“ geändert mit dem bezeichnenden Untertitel „Katholische Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart“. „Maria Laach“ passte nicht mehr. Die Zeitschrift aus innerkirchlichen Polarisierungen herauszuhalten, nicht „gegen“ etwas anzuschreiben, sondern sich positiv im intellektuell redlichen Diskurs einzubringen, wurde Schritt für Schritt zum Leitbild der Zeitschrift. Karl Rahner SJ, der neben Oswald von Nell-Breuning SJ zu den regelmäßigsten „Artikel-Lieferanten“ der jüngeren Redaktionsgeschichte zählte, prägte den Begriff von der „kritischen Loyalität“. Klingende Namen wie die der Jesuiten Peter Lippert, Erich Przywara, Alfred Delp oder Max Pribilla (um einige zu nennen) prägten die Zeitschrift. Das Zweite Vatikanische Konzil brachte eine Öffnung, die Wolfgang Seibel SJ, von 1966 bis 1998 Chefredakteur und Herausgeber, nach ihm Martin Maier SJ (1998-2009), konsequent weiter verfolgten. Die „Stimmen der Zeit“ sind ein Minderheitenprogramm – aber mittlerweile die älteste noch erscheinende katholische Kulturzeitschrift Deutschlands. Die Artikel und Beiträge sind ein Spiegelbild dessen, was Kirche und Gesellschaft, Politik und Kultur, Literatur und Künste beschäftig(t)en. Heute gehören neue Herausforderungen wie das Internet dazu. Die „Stimmen der Zeit“ wissen sich dem Anspruch des christlichen Glaubens und dem Dienst der Kirche verpflichtet. Dass das auch bedeutet, über den (konfessionellen) katholischen Tellerrand zu schauen und an die Ränder, die Peripherien von Denken und Glauben zu gehen, dorthin, wo nicht alles abgesichert ist, das können wir von Papst Franziskus lernen. Andreas R. Batlogg SJ 24 Jesuiten n September 2014 n Radikal

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