Jesuiten 2016-1

Endstation Überforderung!? Ein Blick auf den Priester: „Zufällig ging ein Priester auf jenem Weg hinunter, sah ihn und ging vorüber“ (Lk 10,31) Der Nahverkehrszug ist voll. Ein Teenager, der keinen Platz mehr bekommen hat, lehnt im Eingangsbereich an der Wand, seinen Rucksack auf dem Boden abgestellt. Der Zug wird langsamer und hält. Unter den Passagieren, die neu zusteigen, bleiben zwei ebenfalls im Eingangsbereich stehen. Sie sind etwas älter und mit ihren kurzgeschorenen Haaren, der Bomberjacke und den Springerstiefeln direkt als Neonazis zu erkennen. Sie unterhalten sich miteinander bis der Blick des Einen einen Aufkleber streift, den die Bahn angebracht hat, um Schwarzfahrer auf mögliche Konsequenzen hinzuweisen. Es zeigt das Piktogramm eines Schwarzfahrers, der sinnigerweise in schwarz dargestellt ist. Kurzentschlossen zückt er seinen Edding und schmiert eine rechtsradikale Parole darunter. Die beiden jungen Männer lachen. Der Teenager dreht sich weg, täuscht vor, nichts gesehen zu haben. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Er weiß, er sollte etwas tun. Aber die Angst blockiert ihn und so tut er einfach, als wäre nichts geschehen. Als die beiden an der nächsten Station aussteigen, bleibt er mit Schuldgefühlen zurück. Viele verschiedene Gedanken sausen ihm durch den Kopf. Eine Stimme in ihm versucht, die Schuld von sich zu weisen: Was hätte er denn tun können? Seine Phantasie produziert Versionen einer anderen Realität, in denen er sogar als Held dasteht. Aber irgendwie steht ihm auch die klägliche Realität vor Augen, das Überfordert-Sein durch die eigene Angst. Er hätte Hilfe holen, dem Schaffner Bescheid sagen können. Jahre später, aus dem Teenager ist ein Mittzwanziger geworden. Wieder ist er unterwegs, dieses Mal in der S-Bahn. Auf dem Vierersitz schräg gegenüber sitzen vier Jugendliche. Sie sind ziemlich aufgedreht und machen viel Lärm. Auf einmal zückt einer von ihnen seinen Edding und beginnt auf die Wand zu schreiben. Wieder spürt der junge Mann sein Herz rasen. Aber dieses Mal steht er auf und spricht den Jugendlichen an. Dieser grinst frech, steckt aber ohne Umstände den Stift wieder weg. Die Situation entspannt sich. Als der junge Mann aussteigt, kommt ihm die Geschichte von damals in den Sinn. Die Angst war da, wie damals, aber sie hat ihn nicht mehr blockiert. Seine eigene Realität und Schwäche anzunehmen, auch wenn es schmerzhaft ist, kann Kräfte wecken, die neues, freieres Handeln möglich machen. Überforderung heißt nicht notwendigerweise Endstation. Claus Recktenwald SJ 10 SCHWERPUNKT JESUITEN n MÄRZ 2016 n DER BARMHERZIGE SAMARITER

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