Jesuiten 2016-1

EDITORIAL Liebe Leserinnen, liebe Leser, „Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter?... Klar, kenn ich schon.“ Vielen ist es vertraut aus der Erzählung Jesu im Lukasevangelium (das wir auf den folgenden Seiten aus der Übersetzung von Fridolin Stier zitieren). Das Jahr der Barmherzigkeit kann uns vielleicht zu einem zweiten Blick ermutigen. Geht es doch gerade in diesem Gleichnis um den Wechsel von Perspektiven. Der heilige Ignatius lädt in seinen geistlichen Übungen denjenigen, der die Exerzitien macht, dazu ein, die biblischen Texte und Gleichnisse in sich lebendig werden zu lassen. Die bildhafte Vorstellungskraft und alle menschlichen Sinne haben ihren Platz in dieser Art der Meditation, weil sie Tore zur Gottesbegegnung öffnen können. Besondere Sorgfalt verwendet Ignatius auf die Vorstellung der Personen, die im zu meditierenden Abschnitt vorkommen. Ihre Erscheinung ist wichtig: die Gestalt, die Kleidung, die Gesichtszüge. Zuerst noch statisch, dann aber geht es darum, sich von diesen Charakteren in die Geschichte hineinnehmen zu lassen – immer dynamischer. Zu hören, was sie sagen; zu sehen, wie sie handeln; die Berührungen zu spüren – sich ganz hineinzuversetzen, um zu empfinden, was sie empfinden. Diese Weise des Betens öffnet neue Perspektiven. Ich kann die Welt aus einem anderen Blickwinkel betrachten, ohne meinen eigenen zu verlieren. Mein Leben ist auf einmal in der biblischen Erzählung gegenwärtig und das Gleichnis wird ganz neu in meinem Alltag lebendig. Und dann kann es passieren, dass wir die Akteure wiedererkennen. Sie wohnen gleich um die Ecke. Tag für Tag treffen wir sie. Es sind Typen wie du und ich mit ihren Ecken und Kanten, mit allen sympathischen und bewundernswerten Seiten. Ob Samariter oder Schriftgelehrter, Wirt oder Räuber. Ganz zu schweigen vom Überfallenen, Levit oder Priester, mit denen wir vielleicht sogar unter einem Dach leben. Manche der folgenden Seiten zeigen sie in einem neuen Licht und ermutigen zu einem hoffnungsvollen Lächeln. Papst Franziskus spricht vom Mut des Samariters. Es geht darum, verschlossene Türen zu öffnen und auf den Nächsten zuzugehen. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist eine ganz konkrete Einladung, uns und unsere Mitmenschen mit neuen Augen zu sehen. Matthias Kramm SJ Claus Pfuff SJ Claus Recktenwald SJ 1 JESUITEN n MÄRZ 2016 n DER BARMHERZIGE SAMARITER

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==