Jesuiten 2016-1

Vom Opfer zur Überlebenden Ein Blick auf den Verwundeten: „Die zogen ihn aus, schlugen ihn wund, machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen“ (Lk 10,30) Ein Jahr der Barmherzigkeit – das hebräische Wort für Barmherzigkeit „rächäm“ heißt auch Mutterschoss, Gebärmutter. In der Gebärmutter einer Frau wächst aus Samen und Eizelle über neun Monate hinweg ein Kind heran, geschieht ein Wunder! Vierzig Wochen wachsen – manchmal weniger, manchmal mehr. Ja, es braucht eine lange Zeit, dieses Heranwachsen aus einem kaum sichtbaren Anfang heraus. Die Geburt kommt dann, geschieht – oft schmerzhaft und bedrohlich, eine Grenzerfahrung für so manche Frau und manchen begleitenden Mann. Dreimal habe ich das erlebt – dreimal ganz verschieden. Und das prägt auch mein Nachdenken zu diesem Thema „vom Opfer zur Überlebenden“. Ich habe auch Missbrauch erlebt als junge Frau, sexuellen Missbrauch – jahrelang durch einen „Geistlichen“. Drei Schwangerschaften und Geburten, Missbrauchserfahrungen durch einen „Geistlichen“ und die „Geschichte vom barmherzigen Samariter“ nehme ich jetzt zusammen … Ich versuche mich in die Geschichte hineinzubegeben, wie ich das gelernt habe in meiner ignatianischen Ausbildung. Der, der ausgeraubt und zusammengeschlagen am Boden liegt, zieht mich an – ich spüre etwas davon in mir, immer noch, obwohl mein Erleben jetzt Jahrzehnte zurückliegt. Sexueller Missbrauch hat eine Vorgeschichte, um die geht es jetzt nicht. Missbrauch, sexueller Missbrauch raubt das Intimste, grapscht sich das „Ich“ der Missbrauchten, führt zu Lähmung – Widerstand ist unmöglich, geht nicht – da geschieht „etwas“, frau lässt das geschehen, kann nicht „nein“ sagen, weil es gar nicht gefragt ist. Der Mensch, der da ausgeraubt und verwundet am Boden liegt, konnte auch nicht „nein“ sagen – das hätte den Angreifer nicht interessiert. Wer etwas unbedingt haben will, fragt das Gegenüber nicht zuerst: Darf ich? Er nimmt! Ob das Gegenüber verletzt wird, interessiert nicht. Je mehr sich das Gegenüber wehrt, desto eher wird es verletzt. Also lieber geschehen lassen, auswandern aus dem eigenen Körper, wenn „es“ geschieht, gar nicht da sein, nichts spüren, Lähmung entsteht so. 6 SCHWERPUNKT JESUITEN n MÄRZ 2016 n DER BARMHERZIGE SAMARITER

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