Jesuiten 2021-4

SCHWERPUNKT 4 Die Schwester des Schlafs – Insomnia Schlaf ist auch ein weitverbreitetes Motiv in Belletristik, Poesie, Film und Fernsehen. Die Literaturwissenschaftlerin Claudia Stockinger geht auf Spurensuche. Wenn das Auge des Gesetzes im Wortsinn unermüdlich wacht, verhindert es keine Verbrechen. Im Gegenteil: Völlig übernächtigt kann man da schon einmal zum Mörder werden – so wie in Insomnia, einem Thriller des Regisseurs Christoph Nolan von 2002, in dem der unter der Mitternachtssonne Alaskas leidende Ermittler Will Dormer seinen Partner erschießt. Im Film wurde „das Auge des Gesetzes" in Dormers Auge konkret, das sich nächtens nicht mehr schloss, und so führte das fehlende Gleichgewicht zwischen Wachen und Schlafen bei ihm zu tiefgreifenden psychischen Störungen; er tötete im Wahn. Es geht aber auch anders: In Dominik Grafs Frau Bu lacht (1995), dem unerreichten Meisterwerk aus der ARD-Reihe Tatort, wälzt sich Jenny (Barbara Ahren), eine sympathische Bekannte des Kriminalbeamten Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl), schlaflos im Bett. Die Folge dreht sich um das Thema Kindesmissbrauch. An Nachtruhe ist da nicht zu denken, und auch die Kommissare arbeiten rund um die Uhr an der Lösung des Falls. Unsere Gegenwart sorgt sich um den Schlaf. In einer übermüdeten Gesellschaft, in der uns Beschleunigungsangebote und Mobilitätszumutungen unter Stress setzen und zugleich eine Art Pflicht zur Selbstfürsorge besteht, genießt die Schlaflosigkeit keinen guten Ruf. Gut und ausreichend zu schlafen, wird zu einer Forderung von unstrittiger Dringlichkeit und – das ist eine Paradoxie unserer Zeit – zur harten Arbeit an sich selbst. Die Zeichen stehen auf Entspannung. Schlaf ist Regeneration, Wellness für die Seele, überlebensnotwendige Verlagerung von Ungelöstem in die Anderswelt des Ichs, wo dann erledigt werden kann, wofür tagsüber kein Möglichkeitsraum bleibt. All das leuchtet unbedingt ein. Nur: Nicht jedem ist die Gabe des Schlafs geschenkt. Schlafen zu können ist eine Gnade, keine Leistung aus eigener Kraft. Dass etwas in einem immerfort denkt, gehört zu den Kennzeichen der Insomnia. „Das Wachen hat kein Subjekt“, wie Emmanuel Lévinas das so treffend auf den Punkt gebracht hat: „In der Schlaflosigkeit gibt es nicht mein Wachen über die Nacht; es ist die Nacht selber, die wacht. Es wacht.“ Es wacht in mir. Ich weiß, wovon die Rede ist, denn ich komme aus einer Familie der Schlafverweigerer. Der Schlaf verweigert sich uns. Wir mögen ihn, wir sehnen ihn herbei, wir erwarten ihn und hoffen auf ihn – aber doch wohl eher wie auf einen guten Freund, den man nicht allzu regelmäßig empfängt, warum auch immer. Bei den Gründen angekommen, drängt sich eine Vielzahl an Fragen auf. Ertragen wir ihn nicht? Fürchten wir ihn? Wollen wir uns ihm nicht restlos hingeben? Lasse ich aber das Fragen sein und akzeptiere diesen Zustand, tut sich Ungeahntes auf: die Ruhe der Nacht, ihre Stille, ihre Leere, ihre Kühle. Vieles, was tagsüber ablenkt, erdrückt oder bedrängt, bleibt aus, spielt keine Rolle mehr. Und dann kommen © constantgardener iStock.com

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==