Jesuiten 2023-2 (Deutschland-Ausgabe)

Welche Rolle hat die Kirche im bewaffneten Konflikt in Kolumbien gespielt? Die Frage ist sehr komplex und in der Kürze kaum zu beantworten. Die Rolle der Kirche ist so divers und heterogen wie die regionalen Kulturen Kolumbiens. Sie hat vor allem in den 1990er und 2000er Jahren sehr viel in diesen Konflikten durchgemacht, etwa in der Begleitung der von Gewalt betroffenen Gemeinden. Als Vermittlungsinstanz mit verschiedenen bewaffneten Gruppen ist sie bis heute tätig. Wichtig war sie auch in den Bereichen Bildung und Gesundheit, Aufgaben, die der Staat seit 1902 auch religiösen Gemeinschaften anvertraut hat. In meiner Forschung zeigte sich diese Vielfalt an Erfahrungen, die auf das unterschiedliche Vorgehen der bewaffneten Akteure und auf die aktiven religiösen Gemeinschaften mit ihren unterschiedlichen kreativen Initiativen zurückzuführen sind. Wie haben die kirchlichen Akteur*innen vor Ort gehandelt? Die Bandbreite ist schier endlos und reicht von Friedensprogrammen bis zu symbolischen Aktionen wie dem nationalen Kreuzweg für den Frieden, von waghalsigen Projekten zur Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten bis zu katechetischen Zentren und Beobachtungsstellen zur Registrierung von Menschenrechtsverletzungen. Bischöfe, Priester und Gemeindemitglieder führten in Gruppen „Pastorale Dialoge” mit den Anführern paramilitärischer oder Guerrilla-Gruppen, wenn jemand ermordet oder entführt wurde, und fragten direkt: „Warum habt ihr das getan?“ Viele Entführte konnten so befreit werden. Auch in den Verhandlungen mit den ELN-Rebellen, der letzten verbliebenen Guerrilla-Gruppe, ist die Kirche derzeit vertreten. In solchen Fällen handelt die Kirche direkt auf Einladung des Staates wie im Fall von Pater Francisco de Roux SJ. Er wurde dabei nicht als Jesuit in die „Kommission zur Aufklärung der Wahrheit“ über die Geschichte des Konflikts in Kolumbien berufen, sondern wegen seiner besonderen Erfahrung in der Versöhnungsarbeit. Ansonsten agiert die Kirche eigenständig und unabhängig von den aktuellen Regierungen. Welche Eigenschaften brauchen die kirchlichen Akteur*innen für diese Arbeit? Grundsätzlich wichtig ist, dass diese Personen in den entlegensten Gebieten des Landes im Einsatz sind. Alle Autoritäten sind weit weg. Aus den Großstädten wie Bogotá oder den Bischofssitzen heraus kann niemand verstehen, was dort wirklich passiert. Ferner sollten für sie keine ideologischen Fragen eine Rolle spielen. Zwar haben sich einige bewaffnete Akteure auf die Befreiungstheologie berufen, darunter auch eingewanderte Missionare, aber für die Entstehung der Rebellengruppen war sie irrelevant. Überhaupt: Wenn in deinem Dorf Massaker, Vergewaltigungen oder Entführungen geschehen, hilft dir deine noch so kluge Predigt von der Vergebung Gottes nichts. Das hält den Kugelhagel nicht auf. Alle schönen Theorien fallen in sich zusammen. Was brauchst du also? Gesunden Menschenverstand und eine tiefe Erfahrung von Gott, die dich die Würde der Menschen verteidigen lässt. Mehr hast du nicht. Was macht an diesem Beispiel Hoffnung? Es zeigt, dass die Kirche in solchen Grenzsituationen große Potenziale entfalten kann, weil sie merkt, dass es um die Grundlagen ihres Glaubens, um ihre DNA geht: das Leben in seiner Würde zu verteidigen. Ihre Kreativität erwächst dem tiefen Wunsch, Leben zu retten. Von diesem menschlichen und spirituellen Reichtum können wir heute Zeugnis geben, diese Geschichte erzählen. Die Barmherzigkeit geht über die Gerechtigkeit hinaus, weil sie nicht die Schuldigen opfert, sondern alle Leben retten will. Interview und Übersetzung: Fabian Retschke SJ José Darío Rodríguez SJ ist Assistent für Unterscheidung und apostolische Planung seiner Provinz und promovierte über die Kirche im bewaffneten Konflikt in Kolumbien. 17 SCHWERPUNKT

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==