Jesuiten 2023-2 (Deutschland-Ausgabe)

Jesuiten Am toten Punkt 2023-2

Jesuiten 2023-2 Dieses Druckerzeugnis wurde klimaneutral hergestellt, d. h. die mit der Produktion quantifizierten CO2-Emissionen werden durch Klimaschutzzertifikate kompensiert. Die Fotos in diesem Heft bieten diesmal einen Rundgang durch Maria Regina Martyrum – Maria als Königin der Märtyrer. Vor genau 60 Jahren wurde die Kirche in Berlin-Charlottenburg eingeweiht. Der Ort markiert einen toten Punkt der Menschlichkeit: 2891 Menschen richteten im nahe gelegenen Strafgefängnis Plötzensee die Nationalsozialisten hin. Die Architektur mutet den Besucherinnen und Besuchern diese Geschichte zu: Gleich zu Beginn vermittelt der von dunklen Mauern umgebene Feierhof die Anmutung eines Appellplatzes. Der Kirchenbau selbst, ein Betonkubus, scheint über dem Martyrium zu schweben. Er beherbergt Gedenkraum, Kirchenraum – und eine Taufkapelle: Am Ort der Todesherrschaft herrscht heute Segen für neues Leben. Was für ein starkes Zeugnis dafür, dass an Orten und in Zeiten von Aussichtslosigkeit immer mit Hoffnung und dem Leben zu rechnen ist. Stefan Weigand Das Bild oben zeigt den Bau in den Sechziger Jahren. Mehr über die Gedenkkirche erfahren Sie über www.gedenkkirche-berlin.de Alle Fotos in diesem Heft hat Lutz Nehk aufgenommen, er ist Pfarrer an der Gedenkkirche. ID-Nr. 23142272 1 Editorial Schwerpunkt 2 Der tote Punkt 4 (H)eilige Kirche – Ein Schweizer zwischen den Fronten 6 Lust auf Kirche in zerbrochenen Welten 8 In der Ohnmacht unserer menschlichen Mittel liegt unsere Stärke 10 Damit aus dem toten Punkt der Kirche keine Flatline wird 11 Vom Wunder und vom Wundern 12 Einfach tun, jetzt! 16 Kirche, wo die Waffen nicht schweigen 18 Sprich so, dass man gerne mitspricht! 20 Der tote Punkt bei Delp Geistlicher Impuls 22 Schau wie zum ersten Mal Was macht eigentlich …? 24 Fabian Retschke SJ Nachrichten 26 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 30 Jubilare und Verstorbene Medien/Buch 31 Niklaus Brantschen SJ: Gottlos beten – Eine spirituelle Wegsuche Vorgestellt 32 Was macht ein „Prokurator“? 34 Die besondere Bitte Standorte der Jesuiten in Zentraleuropa Impressum Foto: privat

„die Kirchen scheinen sich hier durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Weg zu stehen. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von der Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen. Das gilt sowohl für das persönliche Schicksal des einzelnen kirchlichen Menschen wie auch für die Institutionen und Brauchtümer. Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt.“ – Schonungslos analysierte der Jesuit P. Alfred Delp in seiner politischen Haft 1944/1945 „das Schicksal der Kirchen“: „2000 Jahre Geschichte sind nicht nur Segen und Empfehlungen, sondern auch Last und schwere Hemmung.“ 2023 scheint – mindestens in Deutschland – die Kirche unbestreitbar am toten Punkt angekommen zu sein. Die Krise hierzulande strahlt auf Österreich und die Schweiz aus, auch wenn Konflikte in diesen Ländern traditionell anders ausgetragen werden. Die römische Leitung glaubt noch an die deutsche Sondersituation und warnt vor einem Sonderweg und einer Kirchenspaltung. Aus der Sicht der allermeisten Menschen sieht die Situation dagegen so aus: Der „richtende Blitz“ hat längst eingeschlagen; das Dach brennt, aber Teile des Klerus in Rom und der Weltkirche scheinen immer noch auf Zeit spielen zu wollen. In dieser Ausgabe wollen wir unterschiedlichen Perspektiven auf den „toten Punkt“ Raum geben. Aber wir wollen den toten Punkt auch als das beleuchten, was er geistlich gesehen ist: Die Chance auf einen Neubeginn. „Die“ Kirche wird oft als anmaßend empfunden, wo sie getrieben wirkt vom Rechthaben, der Sorge um Einfluss, um Nachwuchs und die eigene Reputation. Die Kirche ist aber nicht Ziel und Ende, so schreibt Delp, sondern Sakrament, also Mittel! Und unsere Gemeinschaft ist auch heute höchst lebendig und wirksam, wo sie von Menschen verkörpert wird, denen es glaubhaft nur um eines geht: im Namen Gottes zu helfen und zu heilen. Geben wir also dem Aufgeben keinen Raum. Krempeln wir die Ärmel hoch! Unsere Zeit verdient eine Kirche, die aufsteht und lebt. Viel Freude beim Lesen! Fabian Retschke SJ P. Johann Spermann SJ Matthias Rugel SJ P. Tobias Zimmermann SJ Liebe Leserinnen und Leser, EDITORIAL 1

Der tote Punkt Tote Punkte sind für österlich geprägte Menschen immer der Ursprung und Beginn neuen Lebens. So auch für Sr. Philippa Rath OSB. Für sie befindet sich unsere Kirche derzeit in einer klassischen Karsamstags-Situation. 2

Der Karsamstag ist der Tag der Grabesruhe, des Schweigens, des Nichts. Ein Tag des Übergangs. Ein Brückentag zwischen Tod und Leben, zwischen Dunkelheit und neu aufstrahlendem Licht. Manchmal braucht es solche Tage und Zeiten. Bisweilen braucht es auch Trümmer, um durch Ruinen hindurch den Blick in den Himmel wieder frei zu bekommen. Ein erster toter Punkt, der das Ende der uns so vertrauten Gestalt von Kirche einläutet, ist für mich der immer tiefer werdende Abgrund der Missbrauchsverbrechen und deren Vertuschung. Wieviel an sexualisierter und spiritueller Gewalt, an Selbstüberhöhung und Machtmissbrauch, an falscher Loyalität und Verantwortungslosigkeit ist da bei uns und überall auf der Welt geschehen. Wen wundert es, dass die Glaubwürdigkeitskrise und der Autoritätsverlust der Kirche und ihrer Amtsträger inzwischen so groß sind, dass viele sich in unserer Kirche heimatlos fühlen. Viel zu viele sind inzwischen gegangen. Nicht wenige von ihnen machen sich intensiv auf die Suche nach neuen Formen christlicher Gemeinschaft. Graswurzelbewegungen entstehen da zurzeit, Hauskreise und (Haus-)Gemeinden wie einst in neutestamentlicher Zeit. Sie alle sind für mich Lichtzeichen in der Dunkelheit. Friedrich Nietzsche proklamierte einst: „Gott ist tot! Und wir haben ihn getötet!“ Zu seinen Lebzeiten war das noch jenseits aller Vorstellung seiner Zeitgenossen. Ebenso erging es Hanns-Dieter Hüsch mit seiner Ballade „Gott ist aus der Kirche ausgetreten“. Heute rennen die beiden mit ihren Gedanken bei vielen Menschen offene Türen ein. Nietzsche und Hüsch verbindet, dass sie Kirchenkritik mit Gottessehnsucht verknüpfen. Damit sprechen sie vielen aus der Seele. Ein zweiter Blick in die Trümmer: Diejenigen, die die Scherben auflesen, um Neues zu bauen, werden mit immer neuen Verboten und Stoppschildern ausgebremst. Römische Machtdemonstration könnte man das nennen, tiefsitzende Angst auch vor jeglicher Veränderung. Vielleicht einer der letzten verzweifelten Versuche des Sich-Aufbäumens gegen den Glaubenssinn der Gläubigen, gegen die Zeichen der Zeit und die Kraft der besseren Argumente? Wie sehr dabei über Jahrzehnte mühsam aufrecht erhaltene Fassaden ins Wanken geraten sind, zeigt die Vehemenz, mit der Reformversuche verunglimpft werden. Von Kirchenspaltung ist da die Rede, von einer zweiten Reformation gar. Die vermeintlich Schuldigen sind schnell ausgemacht, so als ob es nicht schon lange eine schleichende Spaltung gäbe, die nämlich zwischen Kirchenvolk und Amtsträgern und zwischen denen, die gehen, und denen, die (noch) bleiben. Nein, die Erneuerungsbewegung in unserer Kirche ist kein deutsches Phänomen. Menschen aller Kontinente stehen inzwischen auf und berufen sich auf ihre Würde als Getaufte und Gefirmte, als mündige Christinnen und Christen. Mutig und offen setzen sie sich für einen Neuanfang ein, für eine radikale Rückbesinnung auf die Botschaft Jesu, der weder Diskriminierung von Frauen noch Ausgrenzung von Minderheiten kannte, weder machtvolle Ämter noch klerikale Privilegien. Kein Wunder, dass es weltweit vielfach die Frauen sind, die Kirche neu denken, die die Ämterfrage neu stellen und Christsein anders leben möchten. Sie waren es schließlich auch, die nach der Leere des Karsamstags am Ostermorgen zum Grab liefen – voll Hoffnung, dass tote Punkte nicht das letzte Wort sind, sondern die Liebe den Tod überwindet. Sr. Philippa Rath OSB ist Benediktinerin der Abtei St. Hildegard. Sie war Delegierte des Synodalen Weges und ist Mitglied im künftigen Synodalen Ausschuss. Voll Hoffnung, dass tote Punkte nicht das letzte Wort sind, sondern die Liebe den Tod überwindet. 3 SCHWERPUNKT

(H)eilige Kirche – Ein Schweizer zwischen den Fronten Die eine Heilige Kirche, die ewig fest und beständig bleibt? Oder Last Chance Saloon, um alles unter Dach und Fach zu bringen, was wir verändern müssen beziehungsweise wollen? In diesem Spannungsfeld fühlt man sich als Schweizer in Rom manchmal wie zwischen zwei Fronten. Dieser Eindruck eines Zwei-Fronten-Angriffs entsteht, weil ich einerseits als Schweizer automatisch dem deutschen Sprachraum und damit Deutschland zugeordnet werde. Andererseits wird mir ebenso automatisch die Verteidigung des Synodalen Wegs zugewiesen. Aufgaben respektive Zuschreibungen sind so nicht ganz richtig. Meist antworte ich entlang dreier Gedankenlinien. Die erste betrifft meine Swissness. Die Schweiz ist nicht Deutschland. Wir haben zwar viele Gemeinsamkeiten, aber auch viele Unterschiede, gerade im kirchlichen Bereich. Wir sind ein viel kleinräumigeres Land, in dem das Zusammenleben nur mittels einer ständig neu ausbalancierten Machtteilung funktioniert. Die Lust an der Auseinandersetzung (Entschuldigung: klar benennen, was Sache ist), die wir unseren nördlichen Nachbarn gerne nachsagen, liegt uns nicht. Unser System beruht auf dem Kompromiss. Das ist nicht immer einfach, aber wir können es uns schlicht nicht leisten, die Menschen vor den Kopf zu stoßen, auf die wir morgen wieder angewiesen sind. Im Sinne eines Kompromisses mit dem jungen Schweizer Nationalstaat akzeptierte die Katholische Kirche im 19. Jahrhundert ein duales System. Darin hat die kirchliche Hierarchie zwar die Leitungsfunktion inne, die Kirchensteuern und damit ein erheblicher Machtfaktor liegen aber in den Händen der Laien. Der Bischof selbst erhält nur einen Anteil für die Priesterausbildung und die Finanzierung der zentralen Dienste. Dieses Zusammenleben erfordert ein großes Maß an Demut und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen und zuzuhören. Das funktioniert zwar auch in der Schweiz nicht immer, aber da auch unsere Bischöfe mit dem dualen Weg aufgewachsen sind, finden wir meistens eine gute Lösung. Die zweite Argumentationslinie betrifft den Vorwurf der Kirchenspaltung, wobei der Häresie-Vorwurf gegen andere der Volkssport Nummer eins unter den römischen Klerikern ist. Leider hat auch der Satz von Papst Franziskus nicht geholfen: „Wir brauchen keine zweite protestantische Kirche in Deutschland“. Denn erstens muss man sich fragen, ob wir nicht schon längst eine Kirchenspaltung haben, mit all den Gläubigen, die ausgetreten sind, sich aber nach wie vor als katholische Christen verstehen. Und zweitens glaube ich, dass gerade der Synodale Weg wie auch der Synodale Prozess der Weltkirche helfen können, eine Spaltung zu verhindern, indem zum ersten Mal wunde Punkte offen besprochen werden. Auch die Schweizer Katholiken nehmen aktiv am Synodalen Prozess teil. Ihre Postulate nach Prag deckten sich übrigens fast zu 100 Prozent 4 SCHWERPUNKT

mit den Forderungen aus Deutschland. Da gibt es also eine große Übereinstimmung, wenn es auch bei uns eine starke Minderheit gibt, die diese Anliegen nicht unterstützt. Aber genau dafür haben wir diesen Weg! Das letzte Argument betrifft den Entscheidungsprozess. Da muss ich den Kritikern recht geben. Ich glaube auch, dass zu Beginn des Synodalen Wegs der Eindruck erweckt wurde, es sei nun möglich, Beschlüsse mittels Mehrheits-Abstimmungen zu fällen. Aber die Kirche ist keine parlamentarische Republik. Sie ist von Christus begründet, der das Haupt ist. Der Leib wird vom ganzen Volk Gottes (inklusive der außereuropäischen Teile) gebildet. Und wenn wir nicht das ganze Volk einbeziehen, dann bleibt es eine europäische Nabelschau. Jedoch erinnere ich Kritiker dann auch an das erste Apostelkonzil: Paulus ging mit der Delegation aus Antiochia nach Jerusalem, um die anderen zu treffen und sich mit ihnen zu beraten. Am Schluss kam ein Kompromiss heraus, der sich auch in den folgenden Jahrhunderten als tragfähig erwiesen hat. Ich hoffe und bete, dass das auch jetzt wieder geschieht. Mathias Werfeli SJ stammt aus Basel (CH). Ursprünglich Protestant, gehört er heute zur Ukrainischen Griechisch-katholischen Kirche. In Rom studiert er ostkirchliche Liturgie. 5

Lust auf Kirche in zerbrochenen Welten Kirche kann lebendig sein: Ein Glaubenszeugnis einer jungen Frau, das Mut macht, die eigene Rolle in der Kirche zu hinterfragen. Ich bin in einer wunderbaren Pfarrei in Italien aufgewachsen und könnte stundenlang von dieser lebendigen Kirche und Gemeinschaft erzählen. Mein Wunsch war es, für meine Pfarrei zu leben und Verantwortung für sie zu übernehmen. Aber dieser Wunsch hätte mit der Zeit all die Menschen gestört, die mich zwar von Kindheit an kannten, aber in mir eine Ehefrau, Mutter oder Nonne suchten. Sie hätten mich nicht einordnen können, denn die Rolle, die ich mir wünschte, gab es nicht. Als ich vor fünf Jahren in die Schweiz kam, begegnete mir ein anderes Bild von Kirche. Ich sah Laien, oder besser: getaufte Männer und Frauen, die zusammen mit Priestern Gemeinden leiteten im ökumenische Feiern, und hörte vom dualen System. Es war schwierig zu fassen, dass „einfach“ getaufte Menschen die Verantwortung für Gemeinden übernehmen können/dürfen. Man bot mir an, als Katechetin zu arbeiten und dafür bezahlt zu werden. Ich konnte es kaum glauben, dass mein Wunsch, den Glauben zu verkünden, plötzlich zu einer Einkommensquelle werden konnte. Jetzt arbeite ich seit zwei Jahren als pastorale Mitarbeiterin in einer italienischsprachigen Mission und besuche eine Ausbildung zur Gemeindebildnerin in Luzern. Wenn ich auf meine Erfahrungen in Italien zurückblicke, bin ich dankbar dafür, dass ich erfahren habe, was es bedeutet, wenn man sagt, dass die Kirche lebendig ist. Wenn ich die gleiche Freude auch in anderen Gemeinden erlebe, dann weiß ich, dass ich vor der lebendigen Kirche stehe. Eine noch wichtigere Erfahrung in der Schweiz war der wachsende Glaube, dass, selbst wenn eine Form der Kirche zusammenbricht, das Reich Gottes bleibt. Es wird immer weiter blühen und Mitarbeiter*innen brauchen. Ein Wendepunkt war die Begegnung mit der ignatianischen Spiritualität, insbesondere den Exerzitien. Sie sind das Wertvollste, das ich erlebt habe. Durch die geistlichen Übungen habe ich entdeckt, dass es ein Zentrum gibt, das alles antreibt. Ein Fundament, zu dem ich immer wieder zurückkehren kann. Je besser ich dieses Fundament in mir kenne, desto mehr bin ich in der Lage, seine Präsenz in der Welt zu erkennen. Dieses Fundament und Zentrum heißt Gott. Die ignatianische Spiritualität hat mir die Angst genommen, meine Kirche zu verlieren, und mir die Gewissheit zurückgegeben, dass die Kirche des Herrn immer existieren wird. Ich sehe meine Aufgabe darin, mich immer mehr in ihm zu verwurzeln, um ihn auch außerhalb von mir und dort, wo er seine Kirche sprießen lässt, erkennen zu können. Gabriella Guglielmi ist seit zwei Jahren als Pastorale Mitarbeiterin in der italienischen Mission in Aarau tätig. Ein weiteres Glaubenszeugnis eines jungen Menschen finden Sie im Online-Magazin „Sinn und Gesellschaft“. 6 SCHWERPUNKT

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„In der Ohnmacht unserer menschlichen Mittel liegt unsere Stärke.“ Ein toter Punkt wird zur Wendezeit im Leben des französischen Offiziers, Forschers, Priesters und Eremiten Charles de Foucauld, auch als Bruder Karl von Jesus bekannt. Tobias Specker SJ berichtet von Foucaulds Erfahrungen. Ende Januar 1908 war der kleine Bruder Karl am toten Punkt angekommen. Krank, zutiefst erschöpft und einsam lag Charles de Foucauld auf seinem Lager in der kleinen Lehmhütte im Dorf Tamanrasset mitten in der Sahara. Er konnte sich kaum regen, bekam bei jeder Bewegung Erstickungsanfälle und hatte seit Monaten kaum Besuch erhalten. Hinzu kamen die inneren Zweifel, ob er nicht einen besseren, nützlicheren Ort für sein Leben als Mönch hätte wählen müssen als das dünn besiedelte Wadi im Herzen des Hoggar-Gebirges. Schließlich hatte ihm ein Verbot, alleine die Messe zu feiern, auch noch alle geistliche Nahrung genommen. In seinem Tagebuch finden sich zu Weihnachten 1907 die berührend kargen Worte: „Keine Messe, denn ich bin allein.“ 8 SCHWERPUNKT

Diese Monate werden zur entscheidenden Wendezeit in seinem Leben: Als die Tuareg im Dorf erfahren, wie es wirklich um ihn steht, beginnen sie, ihn mit Ziegenmilch zu versorgen. Der bedürftige Kranke repräsentiert nicht mehr die französische Kolonialmacht, der erschöpfte Beter ist nicht mehr der gebildete Missionar, der trotz aller Demut die wenig alphabetisierten Nomaden und Bauern die Überlegenheit des Christentums fühlen lässt. In der Machtlosigkeit und inneren Leere gibt Bruder Karl den Dorfbewohnern den Raum, von sich aus in eine Beziehung zu ihm zu treten. „Es brauchte dieses Zunichtewerden durch die Krankheit, damit sie ihm etwas anbieten und ihm auf Augenhöhe begegnen konnten“, schreibt sein Biograph Antoine Chatelard. Der tote Punkt lässt Charles auch innerlich frei werden. Er löst sich von seinen Vollkommenheitsidealen, von seiner strikten Regel, nichts von anderen anzunehmen, von dem strengen Willen, alles zu planen und zu bestimmen. Und er ist auch geistlich demütiger geworden: Den in seinen Augen ungläubigen Muslimen, die er durch seine Gegenwart bekehren wollte, gilt überraschend das Wort des Evangeliums: „Kommt, empfangt das Reich, denn ich war krank und ihr habt mich besucht.“ Plötzlich ist er von der quälenden Sorge befreit, wie das Heil zu seinen nichtchristlichen Nachbarn kommen kann. Die Tuareg will er nun nicht mehr bekehren, sondern verstehen – und wird so zu ihrem Herzensfreund und „Marabut“, ihrem Heiligen. Kurz, Charles hat in geistlicher Tiefe ausgemessen, was die Mechanik über den toten Punkt sagt: Die Bewegungsrichtung kehrt sich um. An diesem entscheidenden Moment im Leben von Charles de Foucauld wird wie in einem Brennglas deutlich, welche Bedeutung das Erleben des toten Punktes im geistlichen Leben haben kann: Die Erfahrung von Bedürftigkeit, die Erfahrung, auf andere angewiesen zu sein, kann, wenn ich sie nicht manipulativ einsetze und andere sie nicht missbrauchen, befreiend wirken. Die eigene Schwäche lässt den Anderen Raum, es kann tatsächlich etwas Unvorhergesehenes geschehen. Zugleich ist der tote Punkt keine harmlose Erfahrung, sondern betrifft Körper, Geist und Seele zutiefst. Er ist nicht nur eine kurzzeitige Verwirrung und Blockade, sondern das tiefe Empfinden von Isolation, Ohnmacht und Berührungslosigkeit. Vor allem aber ist der tote Punkt nicht planbar und harmonisch in das Ganze einer Lebensgeschichte integrierbar. Ein toter Punkt, an dem man weiß, dass dieser Moment nur ein Durchgangsstadium ist, ist eben kein toter Punkt. Aber tote Punkte kommen nicht nur in der Mitte des Lebens oder auch nur den Exerzitien vor und nicht jedes Leben, sei es auch noch so geistlich geführt, endet in der Erkenntnis, dass der tote Punkt seinen Sinn gehabt hat. Es gibt Leben, das am toten Punkt zusammenbricht, abbricht. Charles de Foucauld wurde am 1. Dezember 1916 bei einem Überfall getötet, obwohl ihn die Dorfbewohner in ihrer kleinen Festung aufgenommen hatten. Kein heroischer Tod, ein sinnloses Verbrechen, vielleicht sogar eine überstürzte Panikreaktion. Und dennoch nimmt in diesem abgebrochenen Leben die Aussage Gestalt an, mit dem Karl wirklich der kleine Bruder Jesu ist: „In der Ohnmacht unserer menschlichen Mittel liegt unsere Stärke.“ Der tote Punkt ist keine harmlose Erfahrung, sondern betrifft Körper, Geist und Seele zutiefst. Tobias Specker SJ ist Professor für Katholische Theologie im Angesicht des Islam an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. 9 SCHWERPUNKT

Damit aus dem toten Punkt der Kirche keine Flatline wird Nicht am toten Punkt, sondern mitten im Leben stehen katholische Schulen, weil Eltern, Schüler*innen und Lehrer*innen dieses kirchliche Angebot nachfragen – trotz des Versagens der Kirche beim Schutz junger Menschen. Bei Kirchenleitungen und Gremien sind katholische Schulen einerseits beliebt, da sie in den Jahresberichten der Bistümer die Kirchensteuer mit Verweis auf die hohen Aufwendungen für Kitas, Schulen und karitative Einrichtungen rechtfertigen können. Andererseits sind sie als Handlungsfeld außerhalb der Geborgenheit gebenden Gemeinschaft gleichgesinnter Getaufter unbeliebt, weil sie die Gefahr des theologischen Profilverlusts in sich bergen. Das ist besonders dann der Fall, wenn viele Schüler*innen nicht katholisch sind. Es wird auch argumentiert, dass das Geld, das für die Schulen ausgegeben wird, für pastorale Aufgaben fehlt. Die Reaktion: Etliche diözesane Schulträger haben Schulen schon auf- oder abgegeben. Vielen Orden fehlt der Nachwuchs, der in den eigenen Schulen arbeitet und dadurch sowohl zur Gestaltung als auch zur Finanzierung der Schulen beiträgt. So droht aus dem toten Punkt der Kirche die Flatline der Asystolie (Stillstand der elektrischen und mechanischen Herzaktion) zu werden, weil Kirche sich einer einzigartigen Dialogmöglichkeit mit jungen Menschen beraubt, die die Kirche von morgen gestalten werden – oder eben nicht. Einzigartig deshalb, weil in der Schule Religion Thema im Alltag ist, 40 Wochen im Jahr, bis zu 13 Schuljahre lang. Hier treffen an jedem Schultag junge Menschen mit all ihren Fragen inklusive der Gottesfrage, all ihren Problemen, Hoffnungen und Zukunftsängsten auf die Tradition der Wissenschaften und des Evangeliums und vor allem auf Menschen, die ihr Leben und ihr berufliches Handeln am Evangelium ausrichten. Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen und Seelsorger*innen führen diesen Dialog kreativ – nicht nur punktuell, sondern dauernd an jedem Schultag. So kann zum Beispiel eine inklusive Schule, die auch nicht getaufte Schüler*innen aufnimmt, den interreligiösen Dialog nicht auf besondere interreligiöse Begegnungen beschränken, sondern muss das tägliche respektvolle Zusammenleben trotz differenter religiöser Überzeugungen und Lebensweisen gestalten. Sie findet Wege, Vielfalt zuzulassen bei Erhalt der Einheit und religiöser Positionierung, was nebenbei bemerkt wohl die derzeitig zentrale Herausforderung für Kirche und Gesellschaft ist. Katholische Schulen können Impulse setzen gegen eine drohende Flatline. Dazu muss es sie erstens geben. Damit sie erhalten bleiben, wird künftig in Kirche und Gesellschaft mehr zivilgesellschaftliches Engagement von Lai*innen nötig sein. Zweitens müssten sie und ihre Erfahrungen nicht länger in Zukunftsprozessen der Diözesen ignoriert werden. Winfried Verburg ist Gründungsmitglied der „Stiftung katholische Schulen in Deutschland e. V.“ 10

Vom Wunder und vom Wundern Das Schulfach Religion hat viel mit Gottesbegegnungen zu tun: Es geht darum, Kindern und Jugendlichen die Deutung der Welt als Ort der Gegenwart Gottes zu ermöglichen, indem wir sie zur intellektuellen Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben befähigen. Es geht in gleichem Maße um konzentrierte, wache Offenheit der Lehrenden für Gottes Gegenwart zwischen Kapuzenpullis, Brotboxen und Kreidestaub. Lehrende und Schüler*innen sind sich in den Voraussetzungen völlig gleich: Gott ist da – ob mit oder ohne Religionsunterricht. Religionsunterricht macht – wenn er gelingt – nur sichtbar, was schon ist. Gott ist viel mehr Lehrer als jede Religionslehrkraft. Wir sind alle gleich vor Ihm. Allwissenheit und Allmacht sind keine Attribute, die der Lehrkraft zukommen. Religionsunterricht sollte das unbedingt für Schüler*innen erfahrbar machen. Sie sollten niemals den Eindruck haben, dass sie Ungerechtigkeiten hinnehmen, sie sich einer allzu menschlichen Lehrautorität beugen oder sie Sachverhalte unhinterfragt annehmen müssen. Sie sollten sich nicht als Gegenstand der Bewertung, als „Objekt der Beschulung“ erleben, sondern als einzigartige Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen. Erst dann wird gemeinsames Wundern und Staunen über die Schönheit der Schöpfung, über die Größe Gottes, über die Glücksmomente des Alltags, erst dann wird Theologie möglich. Religion zu unterrichten meint im säkularen Umfeld, „nicht müde zu werden und dem Wunder wie einem Vogel die Hand hinzuhalten“ (vgl. Hilde Domin). Nicht müde werden bedeutet: Jede Begegnung, jeder Kontakt, jede Nachfrage von Schüler*innen ist Gottesbegegnung. Sie ist keine Last. Sie ist ein Geschenk, ein Moment gemeinsamen Wunderns. Leise sein bedeutet: Es geht nicht ums laute Missionieren, sondern um Aufmerksamkeit (und zwar der Lehrenden) für die Gaben, die jede Schülerin und jeder Schüler mitbringt. Die Hand hinzuhalten bedeutet: Es geht darum, zum Können zu befähigen und nicht darum, das Nicht-Können, die mangelnde Leistung in den Vordergrund zu stellen. Es geht nicht ums Einpauken von dogmatischen Lehrsätzen, sondern ums Bereitlegen einer „theologischen Grundausstattung“, um Welt deuten, gut handeln und mit Verlusten und Scheitern leben zu können. Es ist nicht wichtig, ob die Schüler*innen katholisch sozialisiert sind oder nicht. Gott ist doch immer schon da. Wunder bedeutet: gemeinsam die Gegenwart Gottes erleben – mitten im säkularen Umfeld. Aus der Perspektive der Lehrenden gesprochen ereignet sich immer dann ein Wunder, wenn ich miterleben darf, wie Schüler*innen wachsen und über sich hinauswachsen. Es sind die geschenkten Momente, in denen große Theologie mitten im Alltag möglich wird, zwischen Kapuzenpullis, Brotboxen und dem Kreidestaub, in den das Klassenzimmer-Sonnenlicht manchmal sehr schöne Luftmuster malt. Ich glaube: Da malt Er. Katharina Goldinger ist Theologin, Pastoralreferentin und Religionslehrerin. Im Bistum Speyer ist sie Ansprechpartnerin für den Synodalen Weg und sehr gerne in digitalen (Kirchen-)Räumen unterwegs. 11 SCHWERPUNKT

Einfach tun, jetzt! Der Jesuitenorden hat seit seiner Gründung im 16. Jahrhundert einen bedeutenden Beitrag zur Bildung, Wissenschaft und Missionierung geleistet. In Deutschland hat der Orden in den letzten Jahren an Attraktivität verloren. Kann der Orden einen „Turnaround“ schaffen und wieder anziehend werden? In einer zunehmend säkularisierten Welt, in der traditionelle religiöse Institutionen und Glaubenssysteme an Relevanz verlieren, sind Menschen weiterhin auf der Suche nach einem tieferen Sinn und einer Orientierung. Sie finden diese nur leider nicht mehr im kirchlichen Kontext. Die Skandale und Enthüllungen, die die katholische Kirche erschüttert haben, sowie die zunehmende Kritik an ihrer Haltung gegenüber sozialen und gesellschaftlichen Fragen haben dazu geführt, dass viele, insbesondere junge, Menschen ihre Verbindung zur Kirche und ihrem Glauben verloren haben. Infolgedessen suchen sie nach anderen Wegen, um ihrem Leben Bedeutung zu verleihen und sich einer höheren, gemeinsamen Sache zuzuwenden. Bewegungen wie die Klimabewegung haben sich als eine solche Alternative etabliert, indem sie den Fokus auf den dringenden Bedarf an Klimagerechtigkeit, Umweltschutz und sozialem Engagement legt. Dadurch, dass sie sich dieser Bewegung anschließen, können junge Menschen ein Gefühl der Gemeinschaft und Solidarität erfahren und sich gleichzeitig für eine nachhaltigere, gerechtere Zukunft einsetzen. Sie finden einen Sinn darin, sich gemeinsam zu engagieren. Die Klimabewegung bietet jungen Menschen also eine Möglichkeit, sich in einer von Unsicherheit und Zweifel geprägten Welt zu orientieren und ihre Energien auf eine dringende, gemeinsame Herausforderung zu konzentrieren. Es ist wichtig, dass sowohl religiöse als auch säkulare Institutionen diese Sehnsucht anerkennen und auf die Bedürfnisse der jungen Generation eingehen, um gemeinsam eine gerechte und nachhaltige Zukunft zu gestalten. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, fand Sinn im Leben, indem er einen Beitrag für eine bessere Gesellschaft leisten wollte, oder – in seiner Sprache – sich in den Dienst Jesu stellte. Ihm und den ersten Jesuiten ging es – neudeutsch gesagt – um zivilgesellschaftliches Engagement. Dies ist übrigens der soziale Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält und ihre Widerstandsfähigkeit stärkt! Als Unternehmensberater und Professor für Führung und Zusammenarbeit ist es meine Aufgabe, mit Organisationen Leitbilder und Strategien zu entwickeln. Ich möchte Ihnen hier konkrete Vorschläge zur Förderung des zivilgesellschaftlichen Engagements durch den Jesuitenorden unterbreiten und dieses Leitmotiv als Basis für eine Renaissance des Ordens empfehlen. Wie könnte dies aussehen? Leitbild des Jesuitenordens Gesellschaftliches Engagement für eine gerechte und solidarische Welt Vision Wir, der Jesuitenorden, sehen uns als Teil einer globalen Gemeinschaft, die sich für Gerechtigkeit, Solidarität und Nachhaltigkeit einsetzt. Unser Ziel ist es, die Schöpfung Gottes zu be12 SCHWERPUNKT

wahren, die Würde jedes Einzelnen zu achten und die Bedürfnisse der am stärksten benachteiligten und marginalisierten Mitglieder unserer Gesellschaft zu adressieren. Mission Als Jesuiten verstehen wir unsere Mission darin, unser Handeln und unser Denken auf das gesellschaftliche Engagement auszurichten. Wir wollen dazu beitragen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, indem wir uns für soziale Gerechtigkeit, den Schutz der Umwelt und die Förderung der Menschenrechte einsetzen. Dabei legen wir besonderen Wert darauf, nicht nur mit kirchlichen, sondern mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen zusammenzuarbeiten. Kernwerte 1. Gerechtigkeit: Wir setzen uns für die Schaffung einer gerechteren Welt ein, in der alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrem sozialen Status gleiche Chancen und Möglichkeiten haben. 2. Solidarität: Wir engagieren uns für ein solidarisches Miteinander und unterstützen diejenigen, die am stärksten von Armut, Diskriminierung und Ungerechtigkeit betroffen sind. 3. Nachhaltigkeit: Wir bekennen uns zur Bewahrung der Schöpfung und setzen uns für eine nachhaltige Entwicklung ein, die die Bedürfnisse der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen berücksichtigt. 4. Dialog und Zusammenarbeit: Wir suchen den offenen Dialog und die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Akteuren, um 13 SCHWERPUNKT

gemeinsam Lösungen für globale Herausforderungen zu entwickeln. 5. Bildung und Empowerment: Wir fördern Bildung und Forschung als Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe und Selbstbestimmung und unterstützen die Entwicklung von Fähigkeiten und Kompetenzen, die den Einzelnen befähigen, sich aktiv für eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft einzusetzen. Strategische Ziele • Stärkung des gesellschaftlichen Engagements in unseren Bildungseinrichtungen und Gemeinschaften, um junge Menschen dazu zu inspirieren, sich für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit einzusetzen. • Förderung von Projekten und Initiativen, die soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und die Wahrung der Menschenrechte in den Mittelpunkt stellen. • Aufbau von Partnerschaften und Netzwerken mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, um Synergien zu schaffen und gemeinsame Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu entwickeln. • Entwicklung von Programmen und Ressourcen zur Förderung von Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement, um den Einzelnen die Möglichkeit zu geben, sich aktiv für das Gemeinwohl einzusetzen. • Kommunikation und Vermittlung unserer Werte und unseres gesellschaftlichen Engagements in der Öffentlichkeit, um ein Bewusstsein für die Dringlichkeit unserer gemeinsamen Herausforderungen zu schaffen. Hat Sie dieses Leitbild inspiriert? Dann seien Sie Teil einer neuen Bewegung und unterstützen Sie die Reform des Ordens! Der Jesuitenorden kann durch die Förderung von zivilgesellschaftlichem Engagement nicht nur seine eigene Attraktivität für die nächste Generation steigern, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung einer lebendigen, inklusiven und demokratischen Gesellschaft leisten. Es ist an der Zeit, dass der Orden diese Herausforderung annimmt und sich entschlossen für das Gemeinwohl und die Zukunft unserer Gesellschaft engagiert. Übrigens hat der Orden jüngst vier apostolische Präferenzen verabschiedet, die diese Schwerpunkte setzen: 1. Den Menschen durch die geistlichen Übungen den Weg zu Gott (Sinn) zu eröffnen. 2. Sich an der Seite der Benachteiligten für deren Würde und für Gerechtigkeit einzusetzen. 3. Sich besonders in den Dienst der jungen Menschen und ihrer Zukunft zu stellen. 4. Die Schöpfung in sozial verträglicher Weise zu bewahren. Also, lieber Jesuitenorden: Just do it. Alles andere kommt dann von selbst! Portrait: G. Kraus Die Jesuiten wollen dazu beitragen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, indem sie sich für soziale Gerechtigkeit, die Bewahrung der Umwelt und die Förderung der Menschenrechte einsetzen. Georg Kraus ist Professor für Führung und Zusammenarbeit an der technischen Universität Clausthal, CEO der Unternehmensberatung Kraus & Partner Transformation Experts und Autor verschiedener Bücher. In seinem letzten Buch „Erfüllt leben“ hat er gemeinsam mit den Jesuiten Johann Spermann und Tobias Zimmermann die ignatianische Weltsicht neuzeitlich übersetzt. 14

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Kirche, wo die Waffen nicht schweigen Mit einem Friedensabkommen zwischen Regierung und den Rebellen der Farc-Guerilla endeten 2016 mehr als 60 Jahre Bürgerkrieg in Kolumbien. Ein Gespräch mit dem kolumbianischen Jesuiten José Darío Rodríguez über die Rolle der Kirche. 16 SCHWERPUNKT

Welche Rolle hat die Kirche im bewaffneten Konflikt in Kolumbien gespielt? Die Frage ist sehr komplex und in der Kürze kaum zu beantworten. Die Rolle der Kirche ist so divers und heterogen wie die regionalen Kulturen Kolumbiens. Sie hat vor allem in den 1990er und 2000er Jahren sehr viel in diesen Konflikten durchgemacht, etwa in der Begleitung der von Gewalt betroffenen Gemeinden. Als Vermittlungsinstanz mit verschiedenen bewaffneten Gruppen ist sie bis heute tätig. Wichtig war sie auch in den Bereichen Bildung und Gesundheit, Aufgaben, die der Staat seit 1902 auch religiösen Gemeinschaften anvertraut hat. In meiner Forschung zeigte sich diese Vielfalt an Erfahrungen, die auf das unterschiedliche Vorgehen der bewaffneten Akteure und auf die aktiven religiösen Gemeinschaften mit ihren unterschiedlichen kreativen Initiativen zurückzuführen sind. Wie haben die kirchlichen Akteur*innen vor Ort gehandelt? Die Bandbreite ist schier endlos und reicht von Friedensprogrammen bis zu symbolischen Aktionen wie dem nationalen Kreuzweg für den Frieden, von waghalsigen Projekten zur Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten bis zu katechetischen Zentren und Beobachtungsstellen zur Registrierung von Menschenrechtsverletzungen. Bischöfe, Priester und Gemeindemitglieder führten in Gruppen „Pastorale Dialoge” mit den Anführern paramilitärischer oder Guerrilla-Gruppen, wenn jemand ermordet oder entführt wurde, und fragten direkt: „Warum habt ihr das getan?“ Viele Entführte konnten so befreit werden. Auch in den Verhandlungen mit den ELN-Rebellen, der letzten verbliebenen Guerrilla-Gruppe, ist die Kirche derzeit vertreten. In solchen Fällen handelt die Kirche direkt auf Einladung des Staates wie im Fall von Pater Francisco de Roux SJ. Er wurde dabei nicht als Jesuit in die „Kommission zur Aufklärung der Wahrheit“ über die Geschichte des Konflikts in Kolumbien berufen, sondern wegen seiner besonderen Erfahrung in der Versöhnungsarbeit. Ansonsten agiert die Kirche eigenständig und unabhängig von den aktuellen Regierungen. Welche Eigenschaften brauchen die kirchlichen Akteur*innen für diese Arbeit? Grundsätzlich wichtig ist, dass diese Personen in den entlegensten Gebieten des Landes im Einsatz sind. Alle Autoritäten sind weit weg. Aus den Großstädten wie Bogotá oder den Bischofssitzen heraus kann niemand verstehen, was dort wirklich passiert. Ferner sollten für sie keine ideologischen Fragen eine Rolle spielen. Zwar haben sich einige bewaffnete Akteure auf die Befreiungstheologie berufen, darunter auch eingewanderte Missionare, aber für die Entstehung der Rebellengruppen war sie irrelevant. Überhaupt: Wenn in deinem Dorf Massaker, Vergewaltigungen oder Entführungen geschehen, hilft dir deine noch so kluge Predigt von der Vergebung Gottes nichts. Das hält den Kugelhagel nicht auf. Alle schönen Theorien fallen in sich zusammen. Was brauchst du also? Gesunden Menschenverstand und eine tiefe Erfahrung von Gott, die dich die Würde der Menschen verteidigen lässt. Mehr hast du nicht. Was macht an diesem Beispiel Hoffnung? Es zeigt, dass die Kirche in solchen Grenzsituationen große Potenziale entfalten kann, weil sie merkt, dass es um die Grundlagen ihres Glaubens, um ihre DNA geht: das Leben in seiner Würde zu verteidigen. Ihre Kreativität erwächst dem tiefen Wunsch, Leben zu retten. Von diesem menschlichen und spirituellen Reichtum können wir heute Zeugnis geben, diese Geschichte erzählen. Die Barmherzigkeit geht über die Gerechtigkeit hinaus, weil sie nicht die Schuldigen opfert, sondern alle Leben retten will. Interview und Übersetzung: Fabian Retschke SJ José Darío Rodríguez SJ ist Assistent für Unterscheidung und apostolische Planung seiner Provinz und promovierte über die Kirche im bewaffneten Konflikt in Kolumbien. 17 SCHWERPUNKT

Sprich so, dass man gerne mitspricht! Die Rede vom toten Punkt der Kirche in Deutschland ist allgegenwärtig. Mag sein, dass vieles ans Ende gelangt, was einem in den letzten Jahrzehnten des Glaubenslebens lieb und teuer gewesen ist. Dann stimmt das Satzzeichen des finalen Punktes. Und es gehört unbestritten zur Zeichensprache des Glaubens wie das Frage- oder Ausrufezeichen. Allerdings: So mancher vermeintliche Schlusspunkt kann sich im Rückblick auch als Doppelpunkt erweisen: Und dann war er Startsignal für etwas, was man vorher nicht ahnen konnte. Das Bochumer „Zentrum für angewandte Pastoralforschung“ (www.zap-bochum.de) hat sich seit gut zehn Jahren solchen Doppelpunkten verschrieben. Einer unserer Schwerpunkte ist der entschlossene Einsatz gegen religiöse Sprachlosigkeit und für eine Rede von Gott, in die man sich gerne und mit Gewinn hineinziehen lässt. Dieser Beitrag stellt vier unserer Projekte vor. Sie können an allen teilhaben! Glauben kompetent kommunizieren: Das Studienangebot „Crossmediale Glaubenskommunikation“ Medienrealitäten verändern sich rasant. Auch religiöse Organisationen sind Anbieterinnen von Kommunikation und müssen sich mit hohem Tempo weiterentwickeln, um mit der Entwicklung Schritt zu halten und im Wettstreit der Meinungen und Meldungen überhaupt noch durchzudringen. Bei der Produktion eigener Inhalte und bei ihrer öffentlichen Kommunikation bleiben die Kirchen aktuell hinter ihrem Potential zurück. Das Weiterbildungsprogramm „Crossmediale Glaubenskommunikation“ tritt an, auf diese Bedarfslage hin einen Unterschied zu machen. Wir qualifizieren Mitarbeiter*innen aus Pastoral und kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit, damit sie ihren Glauben mit theologischen Kompetenzen reflektieren, mit religionssoziologischem Wissen planen und mit kommunikationspraktischen Fähigkeiten umsetzen können. Unser Angebot umfasst kurze Zertifikatskurse mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen bis hin zu einem umfangreichen berufsbegleitenden Masterstudiengang. https://cmgk.de/ 18 SCHWERPUNKT

Schwimmen im Meer der Kircheninnovation: Die Plattform zap:pool Zap:pool ist eine Plattform für innovative und kreative Projekte zu Glaubensthemen. Eine Expert*innen-Jury für (Web-)Design und Theologie wählt regelmäßig kirchliche Kampagnen, Podcasts, Digitalprojekte und Print-Produkte aus. Alles wird auf Design, Konzeption und Originalität hin begutachtet. Wir sind überzeugt: Moderne Glaubenskommunikation braucht hochwertige und aussagekräftige Darstellungen christlicher Inhalte. Lassen Sie sich davon inspirieren, wie Glaube und Kirche heute vermittelt werden können. https://zap-pool.de/ Entdecken, was im anderen steckt: Die FRISCHZELLE Jeder Mensch ist wie ein Kühlschrank, prall gefüllt mit tollen Sachen, die er zur Gestaltung seines Lebens braucht. Manches liegt auf Eis und wartet auf seinen Einsatz, anderes vergammelt, weil wir gar nicht mehr wissen, dass wir es besitzen. Bringen Sie zur Sprache, wer Sie sind und was Sie können. Und eröffnen Sie diese Chance auch Ihren Leuten! Das „Kurshandbuch zur Frischzelle“ (Herder Verlag 2018) mit 30 ausgearbeiteten Übungen in sechs Modulen unterstützt Sie. Ideal für die Arbeit mit Ehrenamtlichen, Firmlingen, Brautleuten oder Tagen religiöser Orientierung. https://frischzelle.info/ Unser Videokurs ist sofort für Sie anklickbar: https://www.youtube.com/ @frischzelle-entdeckenwasmi3303 Düfte sagen mehr als Worte: Mit der zap:aerothek das Kirchenjahr erschließen Die Hoffnung des Ostermorgens, die Geborgenheit des kleinen Kindes im Stall, die Dynamik von Pfingsten – all das wird jetzt für Sie riechbar. Mit der zap:aerothek bekommen Sie vier fein komponierte Raumdüfte, die Sie zu den Geheimnissen des Kirchenjahres führen. Erweitern Sie Ihr pastorales Angebot durch Duftmeditationen, Salbungsgottesdienste oder geruchsintensive Jugendevents. Das Toolbook „Weil mehr als Weihrauch möglich ist“ (Echter Verlag 2022) bietet Ihnen theologische Begründungen und viele bereits ausgearbeitete Impulse. https://zap-aerothek.de Matthias Sellmann ist Professor für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Theologe und Soziologe, Institutsgründer, Wissenschaftsmanager, Vater, Autor, Partner und Redner. 19

Der tote Punkt bei Delp Vom toten Punkt zur Hoffnung: Sr. Mechthild Brömel OCD beschreibt die Verbindung zwischen dem Altarbild des Künstlers Georg Meistermann in der Berliner Gedenkkirche Maria Regina Martyrum und den Worten des inhaftierten Paters Alfred Delp SJ – und was beide für ihr Leben und ihren Glauben bedeuten. Für den Künstler Georg Meistermann setzt Farbe Wirklichkeit. Er sagt: „Das Leben des Menschen ist eingehüllt in Farbe.“ Sein Altarbild nimmt mich mit. Es begegnet mir Auge in Auge. Die hellen und dunklen Blöcke nehmen mein zerbrechliches Leben auf: Die Krisen und Hoffnungen, die offenen Fragen. Auch die großen Brüche und Wunden der Kirche. Alfred Delp SJ schreibt im Winter 1944/45 in der Haft über das Schicksal der Kirchen: „Wir sind an einem toten Punkt.“ Das berührt mich. Das Bild von Georg Meistermann und die Erfahrung von Pater Delp tragen mich, als ich eine Krebsdiagnose bekomme. Während der Karwoche gehe ich in den Hinrichtungsschuppen nach Plötzensee. Die alten Symbole von Lamm, Auge und Sichel werden sprechend. Pläne zerbrechen. Die Endlichkeit meines Lebens rückt nahe. Das Kreuz ist im Altarbild nicht sichtbar. Doch der Prozess des Kreuzes dringt aus jeder Pore des Werkes. Im Zerbersten der dunklen Blöcke zeigt sich eine Spiralbewegung. Die Spirale hat ihren Quellpunkt zwischen Auge und Lamm. Dort sind die hellsten Farben des Werkes. Der Künstler Hundertwasser sagt: „Die Spirale liegt genau dort, wo die leblose Materie sich in Leben umwandelt.“ Kunst ist eine schöpferische Bewegung des Heiligen Geistes. Grauen, Sprachlosigkeit, Ohnmacht und Schmerz können sich in hoffnungsvolle Kräfte wandeln. Alfred Delp schreibt: „Aus allen Poren der Dinge quillt Gott uns gleichsam entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen.“ Der tote Punkt kann sich zu einem Brunnenpunkt wandeln. Tote Punkte können Wendepunkte werden. Das zeigt uns der Weg Jesu ans Kreuz und das Schweigen des Karsamstags. Die hellen Tropfen oder Tränen links im Altarbild wandeln behutsam die dunklen Farben. Nach der jüdischen Mystik zerbrachen die Gefäße am Anfang der Schöpfung. Seitdem irren Millionen Scherben durch die Welt, an denen Lichtspuren haften. Funken des Lebens können wie versiegelte Brunnen überall aufzuspüren sein. Gottes zerstreute Funken: Kommen sie mir in den sieben Farbtupfern rechts im Altarbild entgegen? Ist in der dunklen Fläche darüber eine geöffnete Tür angedeutet? Delp sieht Hoffnung für das Schicksal der Kirchen, wenn wir einander helfend und heilend begegnen. Dann ist unsere menschliche Gebrechlichkeit begnadet. Wir ahnen den Schatz des göttlichen Funkens im Gegenüber. Dann schauen wir im Altarbild von Meistermann ein Hoffnungsbild. Sr. Mechthild Brömel OCD lebt und arbeitet im Karmel Regina Martyrum in Berlin bei der Gedenkkirche Regina Martyrum in der Nähe von Berlin-Plötzensee. Die geistliche Begleitung und Leitung einer Meditationsgruppe ist ihr ein wichtiges Anliegen. Bild: Karmel Regina Martyrum 20 SCHWERPUNKT

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Schau wie zum ersten Mal In der Krise fand Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, vor rund 500 Jahren Wege, mit geistlichen Übungen dem Sinn seines Lebens neu auf die Spur zu kommen. Wir laden Sie zu einer Übung ein, die für unsere Zeit übersetzt worden ist. Alles, was Sie brauchen, ist ein ruhiger Ort und eine Viertelstunde Zeit. Sie können die Übung auch als Podcast hören – der QR-Code am Ende des Artikels führt Sie zur Audiodatei. Die Übung ist einfach und hilft dabei, meinem eigenen Platz und meinen eigenen Zielen nachzuspüren. HINFÜHRUNG Such Dir einen Platz, der Dir entspricht und dazu einlädt, bei Dir selbst einzukehren. Atme einige Mal durch. Spür in Deinen Körper hinein: Wie ist es, hier zu sitzen? Öffne Deine Augen, Nase, Ohren und Deine Seele ganz bewusst, um mit allen Sinnen alles genau wahrzunehmen. Nimm Dir dafür Zeit. DIE ÜBUNGSSCHRITTE Schließ die Augen. Werde Dir klar: Du und dieser Ort, Ihr seid nur ein winziger Teil der umgebenden Stadt oder Landschaft, Teil eines Kontinents, Teil der Erde. Versuch Dir vorzustellen, wie es als Alien jetzt gerade wäre, aus dem All immer näherkommend diesen kleinen blauen Planeten am Rande einer Galaxie in einer entfernten Ecke des Weltalls erstmals anzuschauen. Schau wie zum ersten Mal! Was erfüllt Dein Herz? Komm langsam näher, nimm Kontinente wahr, Meere, Pflanzen, Tiere, Städte, Lichter … Nimm Dir Zeit. Lass Dich von Dir selbst überraschen, was Du entdeckst. Schau auf die Menschenströme in den Städten, die Völker … Was empfindest Du, während Du all dies so wahrnimmst? Komm jetzt zu den Orten, wo Du lebst, wenn Du nicht gerade als Alien unterwegs bist. Wer läuft da über die Straße und was machen die Leute so? Was bewegt sie? Wen oder was nimmst Du besonders wahr? Wenn Du auf all das blickst, was da jetzt ist: Möchtest Du bewusst auf Menschen zugehen oder etwas Besonderes unternehmen? Welche Wünsche (nicht Vorsätze!) entstehen in Deinem Inneren? Triff eventuell eine konkrete Verabredung mit Dir selbst. SCHLUSSREFLEXION UND GEBET Öffne die Augen und komm behutsam zurück in Dein Alltagsbewusstsein und in die Wahrnehmung des Ortes, wo Du sitzt. Was klingt in Deinem Inneren nach? Vielleicht spürst Du so etwas wie Gottes Gegenwart? Oder Du wünschst Dir jetzt gerade einen Menschen an Deiner Seite, der etwas Besonderes für Dich ist. Was magst Du ihnen jetzt erzählen? Wovon ist Dein Herz voll? Geistlicher Impuls Tobias Zimmermann SJ ist Theologe und Kunstpädagoge. Er leitet das Heinrich Pesch Haus und das Zentrum für Ignatianische Pädagogik (ZIP) in Ludwigshafen. Außerdem ist er Chefredakteur der Publikation JESUITEN. 22 GEISTLICHER IMPULS

Buchtipp! glücklich – Eine Gebrauchsanleitung Dieses Buch folgt den Ideen des Ignatius von Loyola, der vor rund 500 Jahren Wege gefunden hat, dem Sinn seines Lebens neu auf die Spur zu kommen. Seine Erfahrungen hat er in den „geistlichen Übungen“ zugänglich gemacht - dieses Buch übersetzt seine Übungen in unseren heutigen Alltag. Die fünf Kapitel mit je drei Übungen schenken den Leser*innen Ideen für einen kleinen inneren Pilgerweg, um sich selbst, den Mitmenschen und der Welt mit frischer Neugier zu begegnen. Denn Gott lässt sich in allem finden, und auf dem Weg dahin, wie nebenbei, finden die Leser*innen hoffentlich auch ihr Glück. Mit Audio-Dateien zum Herunterladen. glücklich – Eine Gebrauchsanleitung Ignatianische Impulse für eine spirituelle Pilgerreise Herausgegeben von Ulrike Gentner, Johann Spermann SJ und Tobias Zimmermann SJ Pilgerverlag 2023 120 Seiten, mit Fotos ISBN 978-3-946777-28-1 Bestelladresse: Heinrich Pesch Haus Frankenthaler Straße 229 67059 Ludwigshafen E-Mail: info@hph.kirche.org 23

24 Was macht eigentlich …? Fabian Retschke SJ Es liegt in meiner Hand. Da ich die seltene Gelegenheit habe, mich selbst zu befragen, was ich eigentlich mache, beschränkt es sich mal nicht auf die mit zunehmender Regelmäßigkeit gestellte Frage: Was macht die Doktorarbeit? Seit Dezember 2021 lebe und promoviere ich theologisch in Bogotá, der zu groß gewachsenen Hauptstadt Kolumbiens, an der 400-jährigen Päpstlichen Universität Javeriana, mit aktuell etwa 23.000 Studierenden und einem herausragenden Einsatz von 120 (!) Mitarbeitenden in den Bereichen Seelsorge, Kultur, Sport, Identitats- und Gemeinschaftsbildung. Doch zuerst zur ständigen Verlegenheit meines täglichen Brots. Meiner Doktorarbeit zugrunde liegen zwei Feststellungen. Erstens vom Papst: „Es wird keine neue Beziehung zur Natur geben ohne einen neuen Menschen.“ (Laudato Si’, 118). Zweitens: Gerade Männer müssen nach Fabian Retschke SJ (hinten, 4. von rechts) im Arupemonat in El Salvador.

WAS MACHT EIGENTLICH...? 25 „Gerade Männer müssen nach einer neuen Beziehung zur Umwelt suchen.“ einer neuen Beziehung zur Umwelt suchen, nach Fürsorge statt Ausbeutung. Das kann theologisch inspiriert werden, indem wir das Menschsein von seiner Verflechtung in Leben schaffende Beziehungsnetzwerke (z. B. Dreifaltigkeit) her verstehen. Das behaupte ich einfach mal. Mal sehen, wo ich damit hinkomme. Die Jesuiten in Kolumbien haben geschichtlich gesehen drei Vertreibungen überlebt und sind heute vor allem im Bildungs- und Sozialbereich tätig. Ich begleite einige pastorale Aktivitäten in einem Jesuitenkolleg in Bogotá – an meinen deutschen Akzent haben sich die Schüler*innen inzwischen gewöhnt. An Schuluniformen und die Musikrichtung Reggaeton ich mich dagegen weniger. Musikalisch spielt sich bei mir eher die Geige ab und im Hochschulchor war von Salsa bis Cumbia schon alles dabei. Dem Großstadtdunst entkomme ich bei regelmäßigen Radtouren. Der Sommer ist hier immer nur einige hundert Höhenmeter entfernt. In einer sozial-ökologischen Hochschulgruppe begleiten wir umweltpädagogische Aktivitäten, einschließlich Bienen streicheln, Bäume umarmen, Blumen pflanzen. Neue Erfahrungen für Fabian Retschke SJ: Bienen kann man sogar streicheln! Bereichert hat mich auch der Arrupemonat in El Salvador: Das Priesterwerden mit offenen Augen für die Opfer grausamer Gewalt betrachten – ein geistlicher Horizont mit Gänsehautmomenten, versprochen! Kolumbien ist megadivers, jung, vielversprechend. Ökologisch betrachtet eine Weltmacht. Exportiert diverse Produkte, die mit K anfangen. Politisch verdient es schlicht mehr. Frieden zum Beispiel, oder Sicherheit. Wahrenddessen warmen wir uns an der menschlichen Nahe hier, die viel zu viele Wunden überlebt hat. Eure, meine Zukunft? Es liegt nicht in meiner Hand.

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