Jesuiten 2023-4 (Deutschland-Ausgabe)

Klarer sehen Obwohl Marius Jocys SJ erst Anfang 30 ist, steht in seinem Lebensregal bereits eine Reihe an Gefäßen verschiedener Elixiere, die ihm Freude und Inspiration bereiten. Eines dieser Elixiere stellt er uns hier vor: Mit Kunst in Beziehung treten. Im Laufe meines Lebens wuchsen meine Sensibilität und mein Interesse an Kunst und ihrer Beobachtung. Derzeit lebe und studiere ich im Mekka der Kunst, in Rom. Während meines Studiums habe ich damit begonnen, Literatur über Ästhetik, Kunstgeschichte und Architektur zu lesen. Ich habe an der Universität einige Kurse zu diesem Thema belegt, und natürlich habe ich viele Museen, Kunstsammlungen und Ausstellungen besucht, die Kunstwerke von der Antike bis zur Gegenwart zeigen. Diese Erfahrungen wurden durch Reisen nach Griechenland, durch ganz Italien und viele andere europäische Städte bereichert. Ich habe das Gefühl, dass die Kunst, insbesondere die bildende Kunst – also alle visuell gestaltenden Künste – mich zunehmend das Sehen lehrt. Mein Alltag ist schnelllebig. Wenn ich soziale Medien nutze oder durch die Straßen der Stadt gehe, habe ich manchmal das Gefühl, in einem „Meer“ von Bildern zu ertrinken. Ich fange an, die Umgebung nicht mehr zu sehen. Vieles entzieht sich meiner Wahrnehmung, das Bild scheint zu verschwimmen. Dann stelle ich fest, dass ich Details übersehe, die vielleicht wichtig sind. Ein Kunstwerk lässt mich innehalten, still und ruhig werden, und um es besser zu verstehen, lädt es mich ein, es zu betrachten. Deshalb gibt es im Laufe meines Lebens immer mehr Momente, in denen ich nicht nur im Museum, sondern auch auf der Straße innehalten möchte. Wie groß ist die Freude, wenn ich auch hier die schönsten und interessantesten Kunstwerke zu sehen bekomme! Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass ich mir oft viel Zeit nehme, um die Person, das Leben, die Zeit und die Technik des Künstlers oder der Künstlerin zu studieren, bevor ich mir ein bestimmtes Kunstwerk ansehe. So erlebe ich die Betrachtung des Werkes oft als eine Begegnung mit dieser Person selbst. Ich erinnere mich, wie ich in einer Galerie zum ersten Mal ein Caravaggio-Gemälde gesehen hatte. Nach all dem, was ich über ihn gelesen hatte, wirkte das Kunstwerk besonders eindrücklich auf mich. Da ich in Rom lebe, komme ich oft mit christlicher Kunst in Berührung. Diese spielte nicht nur zur Zeit ihrer Entstehung eine besondere Rolle, sie ist auch heute noch wirksam. Ich verwende manche Gemälde für die persönliche Meditation und mein persönliches Gebet. Das Beten mit einem Kunstwerk hat für mich die gleiche Wirkung wie das Lesen der Heiligen Schrift. Ich glaube, dass Künstler*innen oft vom Heiligen Geist selbst inspiriert wurden, der auf höchst kreative Weise auch heute noch mein eigenes Herz durch die Kunst berührt und bewegt. Klarer sehen, in Beziehung treten und von Gott berührt werden – sind das nicht wunderbare Wirkungen meines Lebenselixiers? Marius Jocys SJ studiert im Rahmen seiner Ordensausbildung seit Herbst 2021 Theologie an der Universität „Gregoriana“ in Rom. Kunst hat für ihn einen besonderen Stellenwert. 19

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