Jesuiten 2010-2

Juni 2010/2 Jesuiten 9 Religionen als moralische Ressource? Welche Rolle kommt ihnen aber nun in Demokratien zu? Wie weit darf ihr politisches Engagement gehen? Solche Fragen beschäftigen nicht nur Bürger, sondern auch Wissenschaftler.An der Hochschule für Philosophie in München wurde im vergangenen Jahr über solche Fragen diskutiert (die Ergebnisse sind im Kohlhammer-Verlag unter demTitel „Religion und die umstrittene Moderne“ erschienen).Dabei kamen auch Positionen zur Sprache,die Religionen skeptisch sehen,weil sie den Gläubigen zu viele Vorgaben mit auf den Weg geben.Religiöse Überzeugungen seien außerdem nicht allgemein verständlich.Deshalb könnten sie nur im Privaten eine Rolle spielen,aber nicht in der Politik. In den vergangenen Jahren haben „religiös unmusikalische“ Wissenschaftler diese religionsskeptische Haltung zumindest teilweise aufgegeben.Das wohl bekannteste Beispiel ist Jürgen Habermas.In seinen Gesprächen mit Joseph Kardinal Ratzinger (2004) und Vertretern der Hochschule für Philosophie in München (2007) zeigte sich diese neue Offenheit gegenüber der Religion.Habermas spricht dabei von einer postsäkularen Gesellschaft. Damit meint er,dass sich demokratische Gesellschaften auf das Fortbestehen von Religionen einstellen sollten.Ja noch mehr:Gesellschaften können von diesen etwas lernen. Denn angesichts drängender sozialer Probleme können sie Solidarität stärken und Menschen motivieren,sich für die Lösung solcher Herausforderungen einzusetzen. Religion als Perspektivenwechsel Eine solche Offenheit gegenüber den Religionen ist sehr begrüßenswert.Allerdings ist sie auch mit Gefahren verbunden.Denn es scheint manchmal,als würden Religionen dann ausschließlich zu Lieferanten von Werten.Wenn sich ein schwieriges ethisches oder politisches Problem zeigt (von der Stammzellendebatte bis zur Klimakrise),wird schnell auf die Religion verwiesen.Religionen werden damit zu moralischen Ressourcen für säkulare Gesellschaften. Religionen sind aber mehr.Dies gilt nicht nur für das Christentum,sondern für alle Religionen.Religionen betreffen nicht nur die Moral, sondern auch viele andere Aspekte des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens.Im Kern geht es Religionen um etwas,das menschliches Leben zutiefst trägt,aber nicht eindeutig fassbar ist.Dies kann ein tieferer Sinn,ein letzter Ursprung oder Gott sein. Deshalb ist es z.B.verkürzt,Religion ausschließlich fürWertebildung zu instrumentalisieren.Sicherlich können sie hierfür einen wichtigen Beitrag leisten,aber sie wollen mehr.Sie provozieren Menschen,weil sie diese mit etwas Unaussprechlichem konfrontieren, das radikal neue Sichtweisen auf die Welt eröffnet.Der prophetische Charakter,den viele Religionen betonen, meint mehr alsWertebildung in Kindergärten oder Schulen.Der Perspektivwechsel betrifft vielmehr den Menschen als Ganzen und hat vielfache Auswirkungen auf Gesellschaft und Kultur. Religion im Plural Gerade in dieser Umkehrung von Perspektiven liegt das Besondere von Religionen,das sie in gesellschaftliche Debatten einbringen können.Dabei sind Religionen keine einheitlichen Gebilde. In der öffentlichen Wahrnehmung wird dies manchmal vergessen.Es wird dann schnell von dem Katholizismus oder dem Islam gesprochen.

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