Jesuiten 2012-3

8 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Quälende Erinnerungen Vier Jungen waren wir zu Hause.Wenn unsere Mutter wieder einmal Begebenheiten aus unserer Kinderzeit zum Besten gab, leitete sie das gerne mit der Formel ein: „Ich vergesse nie, als der …“ Bei diesem Stichwort pflegte ich mich behaglich in den Sessel zurückzulehnen und mit gespielt ungläubiger Mine die ausmalenden Schilderungen der Mutter mit den eigenen, meist viel spärlicheren Erinnerungen abzugleichen. Immer wieder konnte man da Neues über sich erfahren… Jahrzehnte später hielt ich als damaliger Provinzial zum ersten Mal einen an mich gerichteten Brief eines Mannes in der Hand, der als Jugendlicher Opfer von sexuellem Missbrauch durch einen Mitbruder geworden war. Der entscheidende Absatz im Brief begann mit den Worten „Ich vergesse nie, als der …“ Hier gab es nun kein behagliches Zurücklehnen, sondern eine äußerst unbehagliche Schilderung zu ertragen,die mir am EndeTränen in denAugen stehen ließ. Erstmalig verstand ich, wie buchstäblich „ätzend“ eine fürchterliche Erinnerung sein kann, die sich in die Seele gefressen hat, lange verdrängt, aber nie vergessen wurde, und die dann plötzlich, etwa im Rahmen einer Therapie, wie eine Eiterbeule aufbricht und das nunmehr erwachsene Opfer quält.AusVergangenheit wird Gegenwart. Viele haben den Opfern ihr plötzliches Erinnern nicht abkaufen wollen, ja insinuiert, diese hätten sich scheinbar erst „erinnert“, als am Horizont eine Entschädigung winkte.Wer wie ich gezwungen war, sich mit Dutzenden von Missbrauchsfällen zu befassen, weiß, dass diese Unterstellung schlicht nicht wahr ist und zurecht als blanker Zynismus von denen erfahren wird, die nur zu oft selber wünschen, sie wären niemals wieder an das an ihnen begangeneVerbrechen erinnert worden. Als die Deutschen die Gräuel des Zweiten Weltkrieges mitsamt der Frage, wie es dazu kommen konnte,vergessen wollten,haben kritische Zeitgenossen immer wieder an einWort des amerikanischen Schriftstellers George Santayana erinnert:„Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.“Vor allem die Nachgeborenen, am lautesten wohl in den Protesten der 68er Jahre, haben eine radikale Konfrontation mit derVergangenheit eingefordert.Im Osten des Landes,wo sich das Regime bis zum Schluss weigerte, irgendeine Verantwortung für Nazi-Deutschland zu übernehmen, konnte dieser Prozess erst nach der Wende beginnen. In anderen postkommunistischen Gesellschaften des Ostens und insbesondere auf dem in den 90er Jahren von Krieg,Völkermord und Vertreibung heimgesuchten Balkan steht auch heute noch viel an schmerzlicher Erinnerungs-Arbeit aus. Einfach vergessen kann aber selbst da nicht die Lösung sein, wo die Erinnerung weh tut. Denn Aufarbeitung der Vergangenheit ist nun einmal die beste Prävention. Auch für die Kirche in Deutschland ist das Nicht-Vergessen des Missbrauchsskandals und des darin zutage getretenen menschlichen, mitbrüderlichen und strukturellen Versagens die wichtigsteVoraussetzung,um die Gefahr einer Wiederholung des Geschehenen in der Zukunft, wenn auch nicht auszuschalten, so doch zu verringern. Oft haben wir Jesuiten das vielleicht nur so dahingesagt oder gar als vermeintlichen Demutsbeweis vor uns hergetragen, aber die grundlegende Erfahrung des Heiligen Ignatius, „als

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