Jesuiten 2012-3

Vergessen ISSN 1613-3889 2012/3 Jesuiten

Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Ich will vergessen können! 4 Vergisst Gott? Von der Barmherzigkeit Gottes 6 Konsequenz statt gnädiges Vergessen? 8 Quälende Erinnerungen 10 Aus den Medien, aus dem Sinn… 12 Menschliche Identität und ewiges Leben – trotz Demenz? 14 Mit Geduld und Freundlichkeit 17 Heiliger Antonius, hilf! 18 Fragen an das Vergessen 21 Unvergessene und unvergessliche Momente Geistlicher Impuls 22 Einladung zur Vergebung Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 28 Jubilare Medien 29 von Moltke: Abschiedsbriefe Vorgestellt 30 Freiwilligendienste Nürnberg 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte Paten fürs Altenheim 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2012/3 2012/3 © Fotolia / tina7si Spuren im Sand Das Schwerpunktthema dieser Ausgabe wird illustriert mit Motiven, die die Symbolik des Wassers sprechen lassen: Ob es die reinigende Kraft des Wassers oder die Bewegung des Fließens und Verfließens ist – es können sich daraus fruchtbare Assoziationen zum Thema „Vergessen“ einstellen.

September 2012/3 Jesuiten 1 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, wenn Sie die 34 Seiten dieses Magazins durchgelesen haben, werden Sie viele Details der einzelnen Artikel mit großer Wahrscheinlichkeit bereits vergessen haben. Nur herausragende Einzelheiten mancher Artikel werden Ihnen auf längere Zeit im Gedächtnis bleiben: Was berührt, was herausgefordert hat. Mit dieser ernüchternden Perspektive müssen wir leben – sie bestimmt alle Bereiche unseres Alltags. Vergessen hat keinen guten Ruf. Niemand möchte als vergesslich gelten, und die Aussicht, irgendwann vielleicht einmal an AlzheimerDemenz zu erkranken und Schritt für Schritt das Gedächtnis zu verlieren, bereitet vielen Menschen unserer Wissensgesellschaft Sorgen. Nicht nur der Gedächtnisverlust schreckt, sondern auch der damit einhergehende Verlust an Beziehung und Selbständigkeit, ja an Identität und Würde. Alzheimer-Demenz ist eine weit verbreiteteVolkskrankheit, und noch immer ist keine Heilung in Sicht.Wie können wir damit umgehen? Ist das Erleben einer zunehmend dementen Person wirklich nur eine Erfahrung vonVerlust und Abschied? Vergessen hat aber auch positive Seiten: Wer vergessen kann, trägt nicht nach und befreit das eigene Gedächtnis. Doch kann dies nicht auch gefährlich werden, wenn wir das Gedenken zu schnell beenden? Nicht zuletzt die Begegnung mit Opfern von Missbrauch und Gewalt stellt uns hier vor neue Herausforderungen. Und nicht umsonst hat sich gerade in Deutschland in den letzten Jahrzehnten eine Gedenk-Kultur entwickelt, die neben allen positiven Entwicklungen im Umgang mit der eigenen Geschichte auch immer Fragen aufwerfen kann nach dem, was dennoch absichtlich oder unabsichtlich vergessen wird. Die gesellschaftliche Bedeutung dieses Themas ist offenkundig – und doch wird über die alltagsbestimmende Macht des Vergessens wenig nachgedacht. Diese Ausgabe von JESUITEN soll deshalb zunächst erkunden, was Vergessen überhaupt bedeutet: Ist es letztlich vielleicht sogar eine „unaufdringliche Wirkweise Gottes an uns“ (Knut Berner), auf die wir uns nur einlassen, sie aber weder beschleunigen noch aufhalten können? In weiteren Beiträgen kommt zur Sprache, wie das Vergessen als Signatur und Herausforderung unserer Gesellschaft erfahrbar wird. Besonders möchten wir Jesuiten dazu beitragen, dass Gottes Großtaten nicht vergessen werden. Denn gewöhnlich entfallen positive Momente der Erinnerung schneller als schmerzliche. Eine dieser Großtaten war das Zweite Vatikanische Konzil, das in diesen Wochen vor 50 Jahren eröffnet wurde. Es lohnt sich, daran mit Freude und Dankbarkeit zu erinnern und darauf zu achten, was dieser Aufbruch für heute bedeuten könnte. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre! Marc-Stephan Giese SJ Bernhard Knorn SJ Johann Spermann SJ

2 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Ich will vergessen können! Erinnern und Vergessen auf dem Weg zur Versöhnung Nicht wenige Bürger beantragten bei der Stasi-Unterlagen-Behörde die Einsicht in ihre Akten, weil sie wollten, dass ihre quälende Erinnerung an die DDR-Vergangenheit zur Ruhe kommen kann. Denn erst die Gewissheit, ob, wie und von wem man bespitzelt wurde, macht es möglich, sich mit dieser dunklen Vergangenheit auseinanderzusetzen und dann ein Kapitel der eigenen Geschichte abzuschließen. Vielleicht wird es sogar einmal möglich werden, sich mit einzelnen Personen oder dem eigenen Schicksal zu versöhnen und das Frühere zu vergessen.ImVergessen kommt die getriebene Seele zur Ruhe: Ein neues Leben kann beginnen. Vergessen ist wie eine Gnade:Wir können es nicht willentlich machen, es geschieht und wir bemerken es allenfalls, wenn wir uns nicht mehr erinnern können. Statt für immer an die eigeneVergangenheit gefesselt zu sein,bekommen wir neue Chancen, befreit in die Zukunft zu blicken.Auch wennVergessen letztlich heilsam ist, weil es die Reinigung des eigenen Gedächtnisses ermöglicht und uns Nachsicht erfahren lässt, ist es lebenslang herausfordernd, mit dieser Unsicherheit zu leben: Was wird wann vergessen sein? Man kann es versprechen und sich vornehmen: Ich will es vergessen! – Aber wann wird es wirklich soweit sein? Wann werden wir wieder ruhig schlafen können, wann wird die leidvolle Geschichte endgültig passé sein? Beim Vergessen sind zwei verschiedene Ebenen zu unterscheiden, die der Philosoph Paul Ricœur (1913–2005) folgendermaßen aufschlüsselt: Zum einen das tiefe, auslöschende Vergessen,das die eingravierte Erinnerung mit der Zeit schwinden und damit eigentlichVergangenheit entstehen lässt. Zum anderen das Vergessen, das etwas bewahrt, das bleibt und wieder erscheinen kann. Sich anVerschüttetes wieder zu erinnern ist möglich, doch zeigen sich hier auch problematische Züge:Verdrängtes kann zu Wiederholungszwang führen, unaufrichtig Vermiedenes hilft vor Unangenehmem zu fliehen, unehrenhaft Ausgesondertes kann eine Geschichte tendenziös manipulieren. Dennoch bleibt einem Autor nichts anderes übrig, als aus dem vorhandenen Material auszuwählen, um Geschichte gut darzustellen und eine Erzählung klar und spannend werden zu lassen. Manches interessiert, anderes wird demVergessen übergeben. Gerade diese Gefahren, die das nicht kontrollierbareVergessen in sich birgt, lassen zweifeln, ob Vergeben und Vergessen für eine Versöhnung schon ausreichen:Haben wir das,was wir einander angetan haben, so vergessen, dass keine Rache mehr aufkeimen kann? Habe ich etwas, das ich vergessen wollte, vielleicht nur verdrängt, so dass es mich irgendwann krank macht? Schreiben manche Täter, ohne sich wirklich versöhnt zu haben, die Geschichte so, dass Unrecht vergessen scheint? Führen staatliche Amnestien zumVergessen von Missbräuchen? Dient die vom Gesetz geforderte Gerechtigkeit nicht auch dem Schutz der Opfer? Nicht selten haben derartige politische Entscheidungen negative Konsequenzen für eine gesellschaftliche Versöhnung. Diese Anfragen zeigen: Beim Verzeihen und besonders bei derVersöhnung kommt es nicht darauf an, den Sollsaldo einer berechenbaren Bilanz zu löschen, sondern komplexe Knoten zu entwirren.Versöhnung ist der Prozess und das Ziel einer oft langwierigen Erinnerungs-

September 2012/3 Jesuiten 3 und Trauerarbeit. Ricœur spricht vom schwerenVerzeihen, bei dem erst ganz am Ende die Gnade und die Leichtigkeit des Vergessens zu verkosten sind. Alleine und irgendwann auch gemeinsam mit dem Anderen, mit dem man sich versöhnen will, zu erinnern und zu trauern – nur dies nimmt dieTragik und die Komplexität des Handelns ernst und geht an die Wurzeln des Konflikts heran. Nur so kommt der Andere als Mensch in den Blick, und nicht nur die monströs erscheinende Untat, der Ärger und der Groll. So entsteht Vertrauen, auf dessen Basis irgendwann ein Vergessen möglich werden wird, wenn beide das Erinnerte friedlich und gemeinsam verwahrt wissen.Vergessen heißt dann auch,das Erinnerte zu übergeben – letztlich an Gott, denVater, der „seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute“ (Mt 5,45), wie es im Zusammenhang von Jesu Aufruf zur Feindesliebe in der Bergpredigt heißt. Dieses Erinnern sollte allerdings zwei Seiten haben und auf keinen Fall nur darin bestehen, der leidvollenVergangenheit zu gedenken und heldenhaft die Feinde zu lieben. Was dazukommen muss, kann der Grundvollzug christlichen Gedenkens lehren: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir.“ – In der Eucharistie erinnern sich Christen an das, was Menschen Christus angetan haben: das Kreuz, das Zeichen des Grundkonflikts menschlicher Sündenverstrickung. Gleichzeitig aber preisen sie deren Überwindung. Jesu Hingabe in den Tod aus Liebe bricht mit allzu menschlichen Selbstverständlichkeiten von Gewalt und Gegengewalt, und der Vater hat dies angenommen. Neben der verstörenden Erinnerung an die Passion steht das Gedenken an dieVergebung und den Triumph über die tödliche Macht in der Auferstehung. Beides ist wichtig auf dem Weg zur Versöhnung. Bernhard Knorn SJ © Fotolia / Krüttgen

Schwerpunkt Vergisst Gott? Von der Barmherzigkeit Gottes Vergisst Gott? Natürlich nicht! – so möchte man wohl spontan antworten.Gott – das ist reine Wirklichkeit, „actus purus“, wie die Theologen im Hohen Mittelalter sagten;in Gott gibt es keine Veränderung, keinen Wandel – und deshalb selbstverständlich auch keinVergessen. In Gott gibt es deshalb aber auch nicht eigentlich ein „Lernen“,einen Zugewinn anWissen. Alle Wirklichkeit, das Vergangene, das Gegenwärtige und auch das Zukünftige, ist in Gottes alles umfassendem Bewusstsein unmittelbar gegenwärtig. Andernfalls nämlich müsste ein Werden in Gott angenommen werden. Dann aber wäre Gott nicht als immer schon vollendete und vollkommene Wirklichkeit gedacht. Dass dieser metaphysisch anscheinend zwingende Gedanke die Existenz endlicher Freiheit neben Gott fragwürdig erscheinen lässt, wurde bereits von den Theologen der Spätantike gesehen. Noch der Gnadenstreit des 17. Jahrhunderts suchte das Verhältnis von göttlichemWissen und menschlicher Freiheit zu erhellen, ohne doch eine allseits befriedigende Lösung zu erzielen. Der Stuttgarter Philosoph Robert Spaemann (geb. 1927) hat in einem alles umfassenden Bewusstsein Gottes sogar die Garantie dafür erblickt,dass es überhaupt so etwas wieWirklichkeit und Geschichte gibt. Denn was ist, so fragt Spaemann, wenn es einmal im Kosmos keine Wesen mehr geben wird, die sich an das Vergangene erinnern? Wird dasVergangene dann, weil von niemandem mehr erinnert, niemals gewesen sein? Wird aber unsere Gegenwart einmal nicht gewesen sein, dann ist sie auch heute nicht Wirklichkeit – so Spaemann. Um dieser Konsequenz zu entgehen, postuliert er die Existenz eines absoluten Bewusstseins, in dem alle Wirklichkeit in Ewigkeit Bestand hat. Spaemann sieht in diesem Postulat so etwas wie den letzten noch möglichen Gottesbeweis. Vor allem in seinen späteren Schriften hat der französische Philosoph Paul Ricœur (19132005) hingegen auf die „Gnade des Vergessens“ hingewiesen. Menschen sind wesentlich fehlbareWesen;unvermeidlich werden wir aneinander, an uns selbst, aber auch vor Gott schuldig. Wie können wir mit dieser Schuld weiter leben? Wie können wir Neues beginnen, ohne durch die Last desVergangenen erdrückt zu werden? Nach Ricœur ist es nicht nur dasVergeben-Können, das uns einen neuen Anfang ermöglicht – ein Gedanke, der besonders für Hannah Arendt (1906-1975) wichtig wurde. Es ist auch das Vergessen von Schuld, das uns von den Fesseln der Vergangenheit befreit und Zukunft eröffnet. Kann man von Gott diese „Gnade desVergessens“ erhoffen? Die kirchliche Tradition scheint in eine andere Richtung zu weisen: beim Jüngsten Gericht wird der Mensch unausweichlich mit seiner schuldbeladenen Biographie konfrontiert,so die verbreiteteVorstellung. Seit dem 11. Jahrhundert erscheint das geöffnete „Buch des Gerichts“ (vgl. Dan 12,9) auf zahlreichen Darstellungen des Weltgerichts. In diesem Buch stehen dem „armen Sünder“ die guten ebenso wie die bösenTaten unabwendbar vor Augen.Vor dem göttlichen Richter wird er womöglich mit Schuld konfrontiert, die schon längst in sein Unbewusstes abgeglitten ist, die er verdrängt oder eben auch vergessen hat. 4 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen

Wollten wir diese Konfrontation mit der eigenen Schuld tatsächlich als Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes deuten? Oder ist sie nicht vielmehr Ausdruck jener wegen der menschlichen Fehlbarkeit unvermeidlich schmerzhaften Gerechtigkeit Gottes? Die traditionelle Lehre vom Fegefeuer scheint dies so zu sehen: die Konfrontation desVerstorbenen mit seiner schuldbeladenen Vergangenheit initiiert einen Läuterungsprozess, der letztendlich die unverstellte Gemeinschaft mit Gott ermöglicht und sich gerade so als Gestalt seiner Barmherzigkeit erweist. Also noch einmal: Vergisst Gott? Nein, Gott vergisst nicht. Ein Gott, der vergisst, wäre jedenfalls nicht größer „als alles, was gedacht werden kann“ (Anselm von Canterbury). In Gott ist alle Wirklichkeit in Ewigkeit bewahrt und „aufgehoben“ – im Guten wie im Bösen. Anzunehmen, dass Gott vergisst, verbietet also die philosophische Reflexion.Aber diese Reflexion wiederspricht keineswegs der biblischen Offenbarung.Diese nämlich bezeugt einen Gott, auf den gerade deshalb gesetzt werden darf, weil er nicht vergisst. Die Bedrängten und Unterdrückten wissen: ihnen wird gerade deshalb Hilfe und Rettung zuteil, weil Gott ihr Leid nicht vergisst. Besonders in den Psalmen artikuliert sich diese Hoffnung auf vielfältigeWeise.Und ein dem jüdischen Gelehrten Baal Shem Tov (16981760) zugeschriebenes Wort lautet: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ In Jerusalem steht dieses Wort über der Gedenkstätte für die Opfer der Shoah „Yad wa Shem“. Wenn es bei Jesaja heißt: „Ich, ich bin es, der deineVergehen tilgt, um meinetwillen, und an deine Sünden werde ich nicht mehr denken“ (Jes 43,25), so ist damit kein Vergessen gemeint, wie es uns Menschen oftmals belastet, nicht selten aber auch überhaupt erst weiter leben lässt. Es ist vielmehr ein „aktivesVergessen“: ein Nicht-mehr-erinnern-Wollen aus der Haltung vergebender Barmherzigkeit heraus. Solches Vergessen ist ein Vergeben-Wollen. Es ist Ausdruck der göttlichen Sehnsucht, dass die Menschen trotz aller Schuld eine Zukunft haben mögen. Dann nämlich, in Gottes Zukunft, „werden mich vom Kleinsten bis zum Größten alle erkennen; denn ich werde ihre Schuld verzeihen, und an ihre Sünden werde ich nicht mehr denken“ (Jer 31,34). Dass Gott nicht vergisst, darauf beruht die Hoffnung der Unterdrückten und Benachteiligten. Dass Gott vergibt, darauf beruht die Hoffnung derjenigen, die sich als fehlbare Menschen und als Sünder wissen.Wie beides zusammen geht – Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes – bleibt vermutlich eine offene Frage, solange der Mensch im irdischen „Pilgerstand“ lebt.Ob sie sich freilich „am Ende der Tage“ und im Angesicht der überwältigenden Liebe Gottes überhaupt noch stellt? Dirk Ansorge September 2012/3 Jesuiten 5 Dirk Ansorge ist seit diesem Jahr Professor für Dogmatik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Er hat den Lehrstuhl von Prof. Medard Kehl SJ übernommen, der 2011 emeritiert wurde. Prof. Ansorge hat zuvor an der Katholischen Akademie des Bistums Essen „Die Wolfsburg“ gearbeitet. Mit diesem Artikel, der einen kleinen Einblick in die Themen seiner Forschung gibt, stellt er sich dem Leserkreis von JESUITEN vor.

6 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Konsequenz statt gnädigem Vergessen? Überlegungen zu einer Erziehungsfrage Immanuel Kant hat in seiner Schrift „Über Pädagogik“ ausgerufen: „Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen.“ Damit ist das Dilemma einer Pädagogik beschrieben, die sich als Ziel die Mündigkeit von Heranwachsenden, Bildung als Fähigkeit zur Selbstbestimmung, als Gewinnung eines sachlich und sittlich gültigen Verhältnisses zur Welt, zu sich selbst und den Mitmenschen auf die Fahnen geschrieben hat. Wo Heranwachsende aus Anlass von Bildung in einer Schule oder einem Internat zusammenkommen, geht es natürlich nicht nur um guten Unterricht, um musische, sportliche oder sittliche Erziehung. Es geht eben auch um Disziplin, um Anerkennung von Regeln, bisweilen auch um den Verweis von Schule und Internat, wo Schul- und Internatsordnung mehrfach oder in gravierender Weise verletzt worden ist, sich ein Schüler dauerhaft als nicht einsichtsfähig erweist und Einzelne oder die Gemeinschaft geschützt werden müssen. Ja, das ist fast schon banale pädagogische Realität: Es geht eben auch um Konsequenz, um Strenge und Klarheit in der Anwendung von Regeln – Konsequenz, die (1) nach Vernunftgründen erfolgt und transparent ist, (2) zeitnah und mit direktem Bezug auf das Fehlverhalten erfolgt und (3) den Schüler direkt anspricht und in seiner Situation fordert. Darf es, muss es demgegenüber auch so etwas wie ein gnädiges Vergessen geben? In Anlehnung an eine wunderbare Passage des Babylonischen Talmuds setze ich voraus: Konsequenz muss sein! Fehlverhalten braucht Grenzziehung, weil die Erfahrung der Grenze eine notwendige Voraussetzung für das Einsetzen von Reflexion auf das eigene Fehlverhalten ist – Reflexion als Grundbedingung für den besseren Gebrauch der Freiheit. Aber in welchem Maß soll die konsequente Reaktion erfolgen? Der Talmud gibt drei Erklärungen: (1) Die Konsequenz, die Strafe ist „nur“ die Strafe, also Instrument auf dem Weg zur Heilung, nicht die Heilung des Fehlverhaltens selbst. Das „Maß“ der Strafe darf dem „Unmaß“ des Fehlverhaltens nie zu entsprechen versuchen. (2) So groß das Fehlverhalten ist, es muss danach getrachtet werden, den Schüler zu retten. Das Gute, das an seinem Verhalten aufgestöbert wird, ist wertvoller als das Fehlverhalten; es wiegt schwerer. (3) Wer angesichts seines Fehlverhaltens um Hilfe ersucht, muss Hilfe erhalten. Der Talmud hegt die Strenge und Schärfe der konsequenten Reaktion ein; er durchbricht die Frage nach der Konsequenz durch die Frage nach der Heilung. Das „Mittel“ dazu ist das gnädige Vergessen. Es ist ein uneigentliches Vergessen. Vergessen wird ja eigentlich nichts. Gnädig ist dasVergessen, weil es nicht weiter auf dem Fehlverhalten insistiert – und damit den Schüler entlastet und Neubeginn, Raum zum besseren Gebrauch der Freiheit eröffnet. Gnädig ist dieses Vergessen, weil sich in ihm die Haltung der Güte manifestiert. Das gnädigeVergessen ist somit das notwendige Korrelat der Konsequenz – und manchmal auch ihr Korrektiv. Christopher Haep

September 2012/3 Jesuiten 7 © Fotolia / Moreno Novello

8 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Quälende Erinnerungen Vier Jungen waren wir zu Hause.Wenn unsere Mutter wieder einmal Begebenheiten aus unserer Kinderzeit zum Besten gab, leitete sie das gerne mit der Formel ein: „Ich vergesse nie, als der …“ Bei diesem Stichwort pflegte ich mich behaglich in den Sessel zurückzulehnen und mit gespielt ungläubiger Mine die ausmalenden Schilderungen der Mutter mit den eigenen, meist viel spärlicheren Erinnerungen abzugleichen. Immer wieder konnte man da Neues über sich erfahren… Jahrzehnte später hielt ich als damaliger Provinzial zum ersten Mal einen an mich gerichteten Brief eines Mannes in der Hand, der als Jugendlicher Opfer von sexuellem Missbrauch durch einen Mitbruder geworden war. Der entscheidende Absatz im Brief begann mit den Worten „Ich vergesse nie, als der …“ Hier gab es nun kein behagliches Zurücklehnen, sondern eine äußerst unbehagliche Schilderung zu ertragen,die mir am EndeTränen in denAugen stehen ließ. Erstmalig verstand ich, wie buchstäblich „ätzend“ eine fürchterliche Erinnerung sein kann, die sich in die Seele gefressen hat, lange verdrängt, aber nie vergessen wurde, und die dann plötzlich, etwa im Rahmen einer Therapie, wie eine Eiterbeule aufbricht und das nunmehr erwachsene Opfer quält.AusVergangenheit wird Gegenwart. Viele haben den Opfern ihr plötzliches Erinnern nicht abkaufen wollen, ja insinuiert, diese hätten sich scheinbar erst „erinnert“, als am Horizont eine Entschädigung winkte.Wer wie ich gezwungen war, sich mit Dutzenden von Missbrauchsfällen zu befassen, weiß, dass diese Unterstellung schlicht nicht wahr ist und zurecht als blanker Zynismus von denen erfahren wird, die nur zu oft selber wünschen, sie wären niemals wieder an das an ihnen begangeneVerbrechen erinnert worden. Als die Deutschen die Gräuel des Zweiten Weltkrieges mitsamt der Frage, wie es dazu kommen konnte,vergessen wollten,haben kritische Zeitgenossen immer wieder an einWort des amerikanischen Schriftstellers George Santayana erinnert:„Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.“Vor allem die Nachgeborenen, am lautesten wohl in den Protesten der 68er Jahre, haben eine radikale Konfrontation mit derVergangenheit eingefordert.Im Osten des Landes,wo sich das Regime bis zum Schluss weigerte, irgendeine Verantwortung für Nazi-Deutschland zu übernehmen, konnte dieser Prozess erst nach der Wende beginnen. In anderen postkommunistischen Gesellschaften des Ostens und insbesondere auf dem in den 90er Jahren von Krieg,Völkermord und Vertreibung heimgesuchten Balkan steht auch heute noch viel an schmerzlicher Erinnerungs-Arbeit aus. Einfach vergessen kann aber selbst da nicht die Lösung sein, wo die Erinnerung weh tut. Denn Aufarbeitung der Vergangenheit ist nun einmal die beste Prävention. Auch für die Kirche in Deutschland ist das Nicht-Vergessen des Missbrauchsskandals und des darin zutage getretenen menschlichen, mitbrüderlichen und strukturellen Versagens die wichtigsteVoraussetzung,um die Gefahr einer Wiederholung des Geschehenen in der Zukunft, wenn auch nicht auszuschalten, so doch zu verringern. Oft haben wir Jesuiten das vielleicht nur so dahingesagt oder gar als vermeintlichen Demutsbeweis vor uns hergetragen, aber die grundlegende Erfahrung des Heiligen Ignatius, „als

September 2012/3 Jesuiten 9 Sünder berufen zu sein“, ermutigt uns, auch mit unseren Schatten zu leben. Mit dem Missbrauch ist ein wirklich dunkles Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte sichtbar geworden. Und wenngleich das von manchem Mitbruder und von manchen Freunden des Ordens nicht verstanden wurde, haben wir uns entschieden, diesen Schatten nicht zu übertünchen. Heißt das, dass wir selbstquälerisch veranlagt sind, wie einige es uns vorgeworfen haben? Nein, im Gegenteil.Während ich in der allerersten Phase des Missbrauchsskandals noch mit dem Gefühl kämpfte, die Beschäftigung damit gehe sozusagen auf Kosten meiner eigentlichen Arbeit als Provinzial, stellte sich sehr bald das Bewusstsein ein, dass wir Jesuiten in Deutschland hier unerwartet vor einem Ernstfall unseres Einsatzes für Glaube und Gerechtigkeit standen, der keine Heldentaten verlangte, wohl aber Umkehr durch Einnehmen der Opferperspektive. Hic Rhodos, hic salta! Die vergangenen zweieinhalb Jahre waren für uns Jesuiten keine verlorene Zeit, sondern ein echtes „exercitium“ im ignatianischen Sinne des Wortes, wo die „memoria“ eine sehr wichtige Rolle spielt,um das Evangelium für mich,für uns hier und heute zu entdecken und zu leben. Natürlich gibt es andere wichtigeThemen, denen wir Jesuiten uns heute widmen wollen und es auch tun.Aber auf die zwar menschlich verständliche, letztlich aber versucherische Frage, ob wir Jesuiten das leidige Thema Missbrauch nicht endlich abhaken sollten, kann es für mich nur eine Antwort geben:Vergiss es! Stefan Dartmann SJ © Fotolia / ispstock

10 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Aus den Medien, aus dem Sinn… „Allem Anschein nach verdampft das Gefühl der Menschlichkeit und wird schwächer, indem es sich über die Erde ausdehnt und es ist uns nicht gegeben,von den Unglücksfällen bei den Tataren oder in Japan ebenso berührt zu werden wie von dem, was einem europäischen Volk zustößt“, schreibt der vor genau 300 Jahren geborene Philosoph Jean-Jacques Rousseau und bringt damit ein Dilemma zum Ausdruck,das ich so beschreiben möchte:Leid,das uns nahe ist, geht uns auch nahe; entferntes Leid hingegen weniger. Ist das „Gefühl der Menschlichkeit“ also abhängig von der Entfernung? In unserer globalisierten Welt könnte man meinen, dass diese Frage durch die weltumspannende Live-Berichterstattung obsolet geworden sei. Die Bilder des 11. September, des Tsunamis im Indischen Ozean oder der Reaktorkatastrophe von Fukushima erreichen uns durch Fernsehen und Internet sofort und direkt. Das „ferne Unglück“ (Henning Ritter) bekommt ein Gesicht, das unbekannte Leid steht uns direkt vor Augen. Selbst das entfernteste Unheil kann uns durch die Vermittlung der Medien so nahe kommen, dass wir uns durch das Leid berühren und zu solidarischem Handeln treiben lassen. Die internationalen Medien lenken dabei aber die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit mal hierhin, mal dorthin und bestimmen somit auch unsere Wahrnehmung der Welt. Hilfsorganisationen fordern uns auf, sofort zu helfen.Mitleid und hohe Spendenaufkommen für die Notleidenden in der Region, die gerade im Bild ist, sind die Folge. Doch kaum ziehen die Journalisten und Kameras weiter,ist das Leid dieser Menschen demVergessen anheimgegeben.Gestern noch Hungersnot in Ostafrika, heute Aufruhr und Befreiung, aber auch Elend im Nahen Osten, morgen vielleicht eine Naturkatastrophe in Ostasien, und übermorgen? Aus den Medien, aus dem Sinn... Es bleibt also dabei, dass die Mitmenschlichkeit mit der Entfernung abnimmt. Es ist nicht mehr so sehr die räumliche, sondern eine virtuelle Entfernung, die ihr Maß am kollektiven Vergessen nimmt.Unsere Solidarität mit dem Leid der Menschen in weiten Teilen der Welt hat demnach etwas geradezu „Episodisches“ (Boris Holzer) an sich. Die Bilder aus den Krisenherden machen aus dem unbekannten Opfer, demVertreter einer nur abstrakten Mitmenschlichkeit, ein konkretes Gegenüber – aber nur für den Moment, in dem wir das Leid dieses konkreten Menschen noch erinnern. Doch „verdampft“ unser Mitgefühl zu diesem Menschen schnell, sobald neue Bilder aus einer anderen Weltregion unser Mitleid anregen. Diese Form von kurzfristiger Solidarität ist nun nicht nur deswegen fragwürdig, weil verantwortliche Entwicklungszusammenarbeit langfristig und nachhaltig sein müsste, sondern weil sich darin auch eine bestimmte Vorstellung von der Welt oder besser gesagt von der Menschheit offenbaren dürfte. Diese Weltkonstruktion hinterlässt vergessene und doch offene Wunden in der Menschheit. Wie ist dies zu moralphilosophisch zu deuten? Wie können wir darauf reagieren? Dazu hilft ein Blick auf eine der geistesgeschichtlich fol-

September 2012/3 Jesuiten 11 genreichsten Katastrophen der Geschichte: 1755 hatte ein großes Erdbeben nicht nur Lissabon schwer getroffen, sondern auch eine Vielzahl von Diskussionen im philosophischen wie im theologischen Bereich ausgelöst. Unter diesen Debatten ist sicherlich die Frage nach der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes gegenüber dem Leid, die bekannteste. Nicht minder wichtig ist die Frage nach dem Mitleid: Wie entsteht es? Ist es anders,wenn ich das Opfer persönlich kenne? Aus dieser Debatte stammt auch das Rousseau’sche Eingangszitat. Eine weiterführende Unterscheidung bringt Adam Smith in diese Diskussion mit der Parabel vom humanen Londoner ein: In diesem Gedankenexperiment erfährt ein Bewohner der Stadt London von einer großen Katastrophe in China, bei der viele Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten. Der Mann lässt sich nun vom Leid dieser vielen Menschen berühren und beginnt über die Folgen und notwendigen Handlungen nachzudenken. Aber mit der Zeit wendet er sich wieder seinem Alltag zu. Plötzlich hat er selbst einen kleinen Unfall und verfällt in große Bestürzung, die ihm sogar den Schlaf raubt und ihn mehr angeht als das Leid so vieler Chinesen. Smith folgert aus dieser Geschichte, dass es um die Menschheit schlecht bestellt wäre, wenn sie sich den eigenen Gefühlsregungen überlassen würde. Er fordert, die Moral der Gefühle von der Moral des Handelns zu trennen. Mitleid mit fernem Unglück ist für Smith Ausdruck einer überfeinerten Moral, er will das Mitleid auf die Menschen in der unmittelbaren Nähe beschränkt sehen:Wir sollten mehr die Hilfe für den konkreten Nächsten als die für den Übernächsten im Blick behalten. Diese Parabel und ihre Auslegung ist psychologisch nachvollziehbar und stellt den Zusammenhang von Selbstmitleid und dem auf andere bezogenen Mitleid in sehr realistischer Weise dar. Dennoch wäre es unangebracht, das Mitleid so zu begrenzen. Schon die immer weiter fortschreitende Globalisierung bringt uns den einzelnen fernen Menschen nahe, macht ihn gleichsam zu meinem Nachbarn. Die Weltgesellschaft wird zwar vielleicht nicht zu einem „global village“, aber eine gewisse Integration der Menschheit ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Dabei geht es natürlich auch um wirtschaftliche und ökologische Interdependenzen, im Grunde aber wird uns daneben zunehmend bewusst, dass wir eine einzige Menschheit sind, und dass bei offenen Grenzen und Handelswegen auch das Mitgefühl globalisiert werden muss. Unter diesem Blickwinkel erscheinen die leidvollen Weltereignisse als besondere Momente (als Kairos!) einer weltweiten Menschlichkeit. In ihnen wird erfahrbar, dass es – aller Entfernung des Leids und aller Verdampfung des Mitgefühls zum Trotz – immer wieder weltweite Solidarität gibt und sich die Menschheit zunehmend als Solidargemeinschaft erfährt, fast will man sagen: ereignet. Wenn es uns dann noch gelingt, diese Ereignisse nicht als Episoden abzutun und ins Vergessen abrutschen zu lassen, dann könnten sie zu Meilensteinen der Menschlichkeit werden. Dieses Nicht-Vergessen-Wollen ist dabei aber ein bewusster und aktiver Prozess, den wir als einzelne und als Gesellschaft leisten müssen.Es gilt dann, die Wunden dieser Welt eben nicht zu vergessen,nur weil die Medien sie uns nicht mehr vergegenwärtigen. Marc-Stephan Giese SJ

12 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Menschliche Identität und ewiges Leben – trotz Demenz? Ein an Alzheimer-Demenz erkrankter Mensch vergleicht sich und seine Situation: „Es ist als wäre ich auf einer einsamen Insel mitten im Ozean.“ Der Betroffene weiß nicht, ob jemand wirklich weiß, dass er sich auf dieser Insel befindet oder ob ihn jemand abholen wird. Das Bild der Insel im Ozean beschreibt die Isolation des Erkrankten:Weder die engsten Freunde oderVerwandten noch der geliebte Partner können wiedererkannt werden. Mit dem Verlust jeder Erinnerung steht immer mehr die eigene Identität in Frage: Wie kann sich der erkrankte Mensch noch mit seiner eigenen Geschichte, mit prägenden Ereignissen und ihm verbundenen Menschen identifizieren und daraus seine Identität gewinnen, wenn ihm allein eine isolierte Gegenwart bleibt? Philosophen, die das Personsein des Menschen ausschließlich an ein funktionierendes Selbstbewusstsein binden, gehen soweit, einem an Demenz erkrankten Menschen das Personsein und die damit verbundenen Grundrechte abzusprechen. Für die christliche Tradition sind die Identität des Menschen und seine personale Würde nicht auf ein funktionierendes Bewusstsein und auf das Erinnerungsvermögen des Menschen reduzierbar, sondern grundgelegt in der Gottebenbildlichkeit des Menschen und der damit verbundenen partnerschaftlichen Beziehung Gottes zum Menschen. Dieses partnerschaftliche Verständnis menschlicher Identität prägt auch die christliche Hoffnung auf ein Leben nach demTod: Unsere Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod ist darin begründet, dass Gott treu ist und sich unserer erinnert, wie er sich in Treue seines am Kreuz gestorbenen Sohnes erinnert hat.Wenn wir von der Seele des Menschen als dem Identitätsträger über den Tod hinaus sprechen, dann ist damit auch eine Bestimmung des Menschen zum Dialogpartner Gottes gemeint, die unzerstörbar ist. DerVerlust des Gedächtnisses und der Erinnerungen kann diese grundlegende Identität des Menschen über den Tod hinaus nicht in Frage stellen. Zum christlichen Glauben an das ewige Leben gehört auch dieVorstellung einer richtenden Begegnung mit Gott. Der Gedanke an das Gericht Gottes war lange Zeit in der Geschichte vor allen Dingen mit einem Schreckensszenario und der Drohung einer ewigen Verdammnis des Menschen verbunden. Dieses Bild des Gerichts muss jedoch korrigiert werden: Von seinen biblischen Ursprüngen wendet sich der Gerichtsgedanke gegen das Vergessen aller unmenschlichen Geschehnisse, die unsere Freiheitsgeschichte prägen. Gott wird die Kleinen, die Armen und die Opfer der Geschichte nicht vergessen. Das Ende der menschlichen Geschichte wird dadurch geprägt sein, dass Gott endgültig seine heilende und versöhnende Gerechtigkeit aufrichtet. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass Gott seinem Sohn das Gericht übertragen hat: Der Sinn der Gerichtsbotschaft liegt in der hoffnungsvollen Erwartung der rettenden Wiederkunft des Menschensohnes Jesus Christus. Er wird kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Der Menschensohn Jesus ist jedoch der „gerichtete Richter“ (Hans Urs von Balt-

September 2012/3 Jesuiten 13 hasar): Dieser Richter hat das Gericht, d.h. die inneren Konsequenzen einer sündigen Abkehr von Gott, an sich selbst erfahren. Jesus, der gerichtete Richter, kennt unsere armselige und sündige Identität von innen her und hat die von Gott abgewandte Seite unseres Ichs durch seine Solidarität wieder mit Gott in Berührung gebracht. Mehr noch: Der gerichtete Richter birgt in seinen Wunden jede menschliche Leidensgeschichte und Passion. Der leidvolleVerlust an Erinnerung und Identität, der mit einer so schweren Krankheit wie der Alzheimer-Demenz verbunden ist, ist für Jesus und somit auch für Gott nicht vergessen. Christus wird sich im Gericht daran erinnern, was die Kranken durchlitten haben. Er kann ihre Identität und Würde wieder herstellen. Wir können uns den Tod des einzelnen Menschen als Durchgang zu jener unverborgenen Begegnung mit Gottes richtender Liebe vorstellen, von der die biblischen Schriften berichten. Im Gegenüber zu Christus, dem gerichteten Richter, wird die Wahrheit des menschlichen Lebens offenkundig. Alle Illusionen, alle falschen Ideale und Anmaßungen, mit denen wir unsere Existenz ausgeschmückt haben, werden in der Begegnung mit Christus verlöschen. Das „Maskenspiel des Lebens“ (J. Ratzinger) ist vorbei und was wir sind, unsere Identität, wird uns selbst offenbar. Die Wahrheit unseres Lebens besteht jedoch nicht in einer schonungslosen Abrechnung. Die Wahrheit unseres Lebens ist keine neutrale Faktizität, sondern eine Person, die uns entgegengekommen ist und uns im Gericht entgegenkommt, um uns zu retten. Es ist Christus, der selbst der gute Hirt ist, der dem Verlorenen unserer Lebensgeschichte hinterhergeht. Er kennt sicher alle Dunkelheiten unserer Freiheitsgeschichte. Allerdings kennt er uns so viel besser, als wir uns selbst © Fotolia / tomitom

14 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Mit Geduld und Freundlichkeit Leben mit dementen Mitbrüdern Gerade habe ich einen Mitbruder besucht. Er sitzt still und freundlich vor seinem Schreibtisch, hat ein Buch in der Hand, liest darin oder schaut Bilder an. Beim „Grüß Gott“ schaut er mich an, lächelt und freut sich über den Besuch. Er antwortet meist nur mit Ja oder Nein.Wenn ich auf ein Bild hinweise: „Kennst du den?“, dann kommt zurück: „Jo, freili“. Wenn er bekannte Gesichter sieht bzw.sich selbst,lacht er und freut sich. Am Schreibtisch und ebenso auch in der Kapelle bleibt er sitzen, bis man ihn abholt. Er nimmt jeden Tag an einer Therapiestunde teil, wo man miteinander singt, bastelt oder spielt und die verschiedenen Feste vorbereitet. Beim Gehen, auch mit Rollator, muss man ihn begleiten. Noch vor einem halben Jahr ist er ganz allein marschiert, ja er ist auch mal hinausgegangen und hat nicht mehr heimgefunden. Die Motorik hat inzwischen sehr nachgelassen und erst recht seine Orientierung. Hier im Alten- und Pflegeheim haben wir etwa 100 Bewohner. Dabei sind wir konfrontiert mit verschiedenen Stufen der „Vergesslichkeit“ bis hin zur Demenz, des „abnehmenden Geistes“. Einige Bewohner erzählen immer wieder dasselbe, vor allem aus ihrer Kindheit oder von ihren Kriegserlebnissen.Viele tun sich schwer, Worte zu finden für das, was sie sagen wollen. Andere wollen etwas, aber wissen nicht mehr, was. Früh gelernte Gedichte können sie rezitieren, auch bekannte Gebete mitsprechen oder Melodien mitsummen. kennen, dass es ihm möglich ist, unsere Würde, unsere wirkliche Bestimmung und Schönheit wieder freizulegen. In der Begegnung mit ihm können wir unserer uns von Gott zugedachten Identität als geliebte Söhne und Töchter inne werden.Werden wir uns damit endgültig identifizieren können? Das wäre unsereVollendung. Menschen stehen in der Gefahr, ihre Identität zu verlieren und zu vergessen. Dies geschieht in dem furchtbar erlittenen Gedächtnisverlust einer Demenzerkrankung. Aber es gibt die Gefahr eines „Gedächtnisverlustes“ auch für die „Gesunden“:Wenn das eigentliche Ziel des Lebens, die eigene Bestimmung oder die innerste Sehnsucht immer mehr in Vergessenheit geraten und ersetzt werden durch Oberflächliches, durch Rechthaberei, durch Materielles. Die Begegnung mit der richtenden Liebe Gottes ermöglicht es, die eigentliche Identität wiederzufinden und anzunehmen. Die Begegnung mit Christus im Gericht verleiht dem Menschen die Identität, die er in Ewigkeit annehmen und ertragen kann: Die des endgültig und restlos angenommenen verlorenen Sohnes, der endgültig und restlos von Gott angenommenen verlorenen Tochter (vgl. Lk 15). Das ewige Leben gleicht sicher nicht dem Aufenthalt auf einer einsamen Insel mitten im Ozean. In der Gemeinschaft mit Gott und der Gemeinschaft der Vollendeten, der Gemeinschaft der Heiligen, ist die Vollendung des Menschen ein ewig gleich-zeitiges Ereignis von Beschenktwerden und Sich-Verschenken, von Beglücktwerden und Glück-verschenken: das Gegenteil einer isolierten Gegenwart. Klaus Vechtel SJ

September 2012/3 Jesuiten 15 Viele können sich schlecht orientieren und vergessen großenteils ihre Vergangenheit, bekannte Menschen und ihr eigenes Lebenswerk. Mehr und mehr brauchen sie Hilfe beim Essen, beim Waschen, beim Anziehen sind sie auf andere angewiesen. Egal, welche Phase jemand durchmacht, alle brauchen unsere Hilfe und vor allem unser Wohlwollen. Ich frage mich, wie empfinden die Kranken selber ihre Situation? Ein ehemaliger Mitbruder hat mir mal gesagt: „Es ist schlimm, wenn man neben der Kappe ist, aber ganz schlimm ist es, wenn man es selber noch merkt.“ Es ist schwer einzuschätzen, was diese Menschen fühlen und leiden; sie können sich eben nicht mehr richtig äußern. Anfangs erschrecken sie vor ihrem eigenen Unvermögen und viele finden die verschiedensten Ausreden für ihr Verhalten. Ich denke, alle empfinden ihre Hilflosigkeit und ihre Hilfsbedürftigkeit; sie tun sich zunächst schwer damit, doch die meisten können sich mit der Zeit darauf einlassen. Langsam geht der körperliche und geistige Abbau weiter, so dass sich die ganze Persönlichkeit verändert.Die meisten werden dann wohl diese Situation nicht mehr registrieren. Aber alle sind noch emotional ansprechbar. Sie reagieren, wenn man sie freundlich anspricht, ihre Hand berührt oder sie in den Arm nimmt. Sie leben in ihrer eigenen Welt. Die andere Frage ist:Wie und was empfinden wir, vor allem die Schwestern und Pfleger, und wie gehen wir mit diesen Kranken um? Das Allerwichtigste, scheint mir, ist das einfache „Dasein“ bei den Patienten. Sie brauchen jemanden, den sie kennen. Wichtig und hilfreich ist ihnen eine gewisse Regelmäßigkeit bei Mahlzeiten, Veranstaltungen, Gottesdiensten usw.Wir brauchen viel Geduld mit den Patienten und auch mit uns selbst.Sie wird oft auf eine harte Probe gestellt, wenn z.B. einer x-mal nach den banalsten Dingen fragt. Oder wenn einer sagt: „Wer sind Sie eigentlich?“, oder gar laut wird.Wir wissen zwar, dass all das nicht persönlich gemeint ist, aber es berührt einen schon. Wir können die Situation und den Menschen nicht ändern, aber unsere Einstellung dazu. Ich kann nur freundlich zuhören, auch wenn jemand sich immer wieder wiederholt oder dreimal amTag anruft.Allerdings ist auch wichtig, klar und freundlich Grenzen zu setzen – gerade wenn einer gewohnt ist, andere in Beschlag zu nehmen und Ansprüche zu stellen. Die meisten Bewohner sind freundlich, viele warten auf einen Besuch. Die kranken Mitbrüder treffe ich jeden Tag und versuche kurz mit ihnen zu sprechen. Ab und zu gehe ich auch mit einem eine Runde im Park spazieren. Es berührt mich schon, wenn ich jemanden von früher her kenne und ihn jetzt so hilflos sehe. Gut ist, dass unsere Gemeinschaft hier diese Möglichkeit hat, wo die älteren und pflegebedürftigen Mitbrüder gut versorgt werden.Vor allem dürfen wir den Schwestern und Pflegern dankbar sein, auch den vielen Ehrenamtlichen, die regelmäßig helfen. Ich staune nur und freue mich, wie sie ganz natürlich und liebevoll mit den Patienten umgehen. Ebenso bewundere ich manche Männer und Frauen, die tagtäglich zu ihren Ehepartnern kommen; oder die Kinder, die ihre Mutter, ihrenVater umsorgen, auch wenn sie nur still bei ihnen sitzen oder sie im Park spazieren fahren. Alle tun das selbstverständlich mit erstaunlicher Geduld und mit größtem Wohlwollen. Für sie, für uns alle, ist jeder Tag eine neue Herausforderung. Markus Laier SJ

16 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen © Fotolia / mythja

September 2012/3 Jesuiten 17 Schwerpunkt Heiliger Antonius, hilf! Antonius von Padua ist einer der populärsten Heiligen. 1195 in Lissabon geboren, trat er in den gerade entstandenen Franziskanerorden ein. Er wurde zu einem wortmächtigen Prediger, dem einer Legende zufolge sogar die Fische lauschten. Der antiklerikale Wilhelm Busch widmete dem Heiligen eine ganze Serie seiner Bildergeschichten. In einer davon widersteht er standhaft den Versuchungen des Teufels, der ihm in Gestalt eines hübschen Mädchens erscheint, am Ende aber sein wahres Gesicht zeigt und mit großem Rumor durchs Ofenrohr entweicht. Wilhelm Busch zieht augenzwinkernd die folgende Moral: „Oh, heil’ger Antonius von Padua, Du kennst uns ja! So laß uns denn auf dieser Erden, auch solche fromme Heilge werden!“ Am bekanntesten ist der heilige Antonius als Patron für das Wiederfinden verlorener Dinge. Dies geht auf die Überlieferung zurück, dass ein junger Mönch den Psalter des Antonius ohne dessen Erlaubnis mitnahm. Daraufhin wurde er von Erscheinungen heimgesucht, so dass er das Buch schleunigst zurückbrachte. Nun mag es manchem mit dieser besonderen Zuständigkeit des heiligen Antonius gehen wie dem berühmten Atomphysiker Niels Bohr mit dem Hufeisen, das er über dem Eingang seines Landhauses hängen hatte. Als ihn ein Kollege fragte, ob er denn abergläubisch sei, antwortete er: „Natürlich nicht! Aber es soll auch helfen, wenn man nicht daran glaubt.“ Selber habe ich vor kurzem folgendes erlebt. Ich habe eine Fahrradtour von München auf die Bayeralm oberhalb des Tegernsees gemacht. Als die Sonne herauskam habe ich meine normale Brille mit meiner Sonnenbrille ausgetauscht. Am Abend bei einem kühlen Bier wollte ich die Brillen wieder wechseln, doch das Etui war leer.Vielleicht war die Brille herausgefallen. Ich durchwühlte zuerst meinen Rucksack – erfolglos. Wo hatte ich nur die Brille gewechselt? Es schien mir fast aussichtslos, dies zu rekonstruieren. Dann dachte ich an den heiligen Antonius – und siehe da, mir fiel die Bank vor einem Geschäft ein, wo ich die Brillen gewechselt hatte. Könnte es nicht so gewesen sein, dass ich die Brille einfach auf der Bank hatte liegen lassen? Mir fiel auch noch ein, dass das Geschäft bis 18 Uhr geöffnet hatte. Es blieb gerade noch eine halbe Stunde. Ich stieg in die Pedale und traf kurz vor 18 Uhr vor dem Geschäft ein. Ob eine Brille auf der Bank gefunden wurde, fragte ich die Verkäuferin. Sie bejahte, wollte aber zur Sicherheit noch eine kleine Beschreibung. So hatte ich meine Brille tatsächlich wiedergefunden und spürte etwas von der Freude der Frau im Evangelium, die die verlorene Drachme wiedergefunden hat. Zwei etwa zehnjährige Jungen seien es gewesen, die die Brille entdeckt und bei ihr abgegeben hatten. Gerne hätte ich ihnen einen Finderlohn gegeben, doch die Verkäuferin kannte sie leider nicht. Nun gibt es von einem Skeptiker einen psychologischen Erklärungsversuch für die Hilfe des heiligen Antonius. Das Beten zu ihm helfe, von der verzweifelten und verkrampften Suche wegzukommen, und so würden tiefere Schichten des Gedächtnisses freigelegt. Das mag so sein. Doch nachdem sich Gott der natürlichen Fähigkeiten des Menschen bedient, spricht nichts dagegen, dass der heilige Antonius auch auf diesen Wegen wirken und helfen kann. Martin Maier SJ

18 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Fragen an das Vergessen Ist Vergessen peinlich und ärgerlich? „Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen“, sage ich manchmal, wenn es besonders eilig ist und mehrere Dinge auf einmal erledigt werden sollen. Doch dann entdecke ich, doch etwas vergessen zu haben, etwas Wichtiges und muss denWeg zwei Mal gehen und habe letztlich nichts gespart und zu allerletzt ärgere ich mich auch noch über mich selber. Mit ein klein wenig mehr Ruhe und nochmaligen Nachdenken wäre Zeit und Energie gespart gewesen und Ärger. Wer beruflich mit vielen Menschen, zum Beispiel in der Schule, zu tun hat, weiß vielleicht um die Not, sich immer wieder neue und viele Namen von Schülern und Schülerinnen einprägen zu müssen. Das klappt dann im Klassenverband auch ganz gut, aber sobald mir dann jemand außerhalb der Schule begegnet, habe ich den Namen oft genug nicht präsent, habe ihn vergessen. Das ist manchmal peinlich und oft unangenehm und ärgerlich. Klar, mit einigen Tricks und mancher Berufserfahrung lässt sich diese Art von Vergessen etwas kompensieren, aber beneidenswert sind Menschen, die andere immer mit Namen anreden können. Wer in einer Bürostruktur arbeitet, weiß, wie wichtig Zeit- und Büromanagement sind, um wichtige Termine und zu bearbeitende Angelegenheiten nicht einfach zu vergessen. Wenn es geschieht, ist es peinlich und ärgerlich. Kann Vergessen entlastend sein? „Bitte schicken Sie mir eine Email“, sage ich häufig zu den Studierenden, die mir zwischen Tür und Angel etwas sagen, was sie gerade jetzt in diesem Augenblick regeln wollen. Der positive Effekt einer solchen Vorgehensweise hilft beiden Seiten. Durch das Aufschreiben wird stärker reflektiert und unterschieden, was jetzt wirklich wichtig ist. Wenn dann keine Mail kommt, ist eine Angelegenheit vielleicht schon wieder vergessen, weil sie nicht wichtig war, oder hat sich anderweitig erledigt und kann somit getrost vergessen werden. Andererseits kann ich mit dem Gesprächspartner auch gleich entscheiden, ob vielleicht ein Gespräch gerade jetzt dran ist und es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes geht als das, was gerade benannt worden ist. Als Seelsorger bekomme ich viel Lebensgeschichte erzählt. Manches davon beeindruckt mich, weil Parallelen zum eigenen Leben deutlich werden oder mir wieder etwas einfällt, was ich schon vergessen glaubte. Aber in diesen Gesprächen steht der Andere im Zentrum. Durch Erzählen werden Zusammenhänge deutlich, er bzw. sie entdeckt sich dabei selber und kommt persönlichen Antworten näher. Somit ist es für mich wichtig, dass ich vieles von dem, was ich erzählt bekomme, wieder vergesse und nur Wesentliches behalte. Das empfinde ich als entlastend. Kann Vergessen Ausdruck von Heilung sein? „Ein gutes Gedächtnis ist eine gute Gabe Gottes, Vergessen-können ist oft eine noch bessere Gabe Gottes“ (Georg Christoph Lichtenberg). Auf mein eigenes Leben schauend kann ich sagen, dass ich vieles, was ich erlebt habe, scheinbar schlicht vergessen habe. Gut, aus der Psychologie weiß ich, dass nichts wirklich vergessen wird, sondern in den Tie-

September 2012/3 Jesuiten 19 fen des Unterbewussten gespeichert bleibt und von dort wirkt.Aber zumindest ist Erlebtes oft so gut ‘verpackt’, dass ich nicht einfach darauf zugreifen kann und der Eindruck des Vergessens die Realität ist. Hier kommt ein weiterer Aspekt zum Tragen. Martin Luther sagte: „Nichts wird langsamer vergessen als eine Beleidigung und nichts eher als eine Wohltat“. Dieses Nicht-vergessen-können hat offenbar mit seelischen Verwundungen im Leben zu tun, die dort entstehen, wo Menschen mit anderen zusammen leben. Wie schwer ist es doch,Verwundungen undVerletzungen vergessen zu können. Sie bereiten doch Schmerzen, und Schmerzen kann ich nicht vergessen. In ihrem Song „Forgiven, Not Forgotten“ – „Vergeben, aber nicht Vergessen“, hat die irische Band The Corrs etwas Wichtiges anklingen lassen.Vergeben undVergessen stehen offenbar in einer Beziehung zueinander.Vergebung ist dort ein Thema wo es um Verwundungen geht.Vielleicht ist Vergebung nötig, damit Verwundungen heilen können. Wenn ich weiß, dass der andere mir vergibt, kann innere Heilung geschehen. Dann kann ich auch Kraft haben, denen zu vergeben, die mich im Leben verwundet haben. Es bleiben zwar Narben zurück, die ich eben nicht vergesse. Aber während ich die Narbe spüre, vergesse ich den Schmerz, den die Verwundung verursacht hat. So können Vergeben und Vergessen zusammen Ausdruck von Heilung sein. Dieser Zusammenklang ist für mich als gläubiger Mensch nur vom Handeln Jesu her zu sehen, glaubend, dass Gott mich immer wieder annimmt undVergebung und Heilung schenkt. Das erlebe ich immer wieder in Gesprächen mit Menschen, die nicht vergessen können, weil sie so verwundet sind und sich nach Heilung sehnen. Michael Beschorner SJ © Fotolia / Sergej Khackimullin

20 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Unvergessene und unvergessliche Momente Woran will ich mich gerne erinnern? Interview mit Wolfgang Seibel SJ Pater Seibel, Sie stehen im 85. Lebensjahr, seit 1955 sind Sie Jesuit.Woran erinnern Sie sich im Rückblick besonders gern? An das ZweiteVatikanische Konzil natürlich. Es war das wichtigste Ereignis der Kirche seit mindestens 400 Jahren. Es war faszinierend, weil das Konzil die Kirche wirklich verändert hat. Und ich hatte das Glück, dabei gewesen zu sein. In welcher Funktion? Ich war Berichterstatter für die Nachrichtenagenturen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Bis auf die dritte Konzilssession habe ich alle großen öffentlichen Sitzungen zwischen 1962 und 1965 mitbekommen. Sie waren 34 Jahre alt, als das Konzil am 11. Oktober 1962 begann. Ja, und ich hatte vorher lange Jahre eine enge, starre Kirche erlebt, die sich vor allem selber zelebriert und in Szene setzt. Pius XII. wurde ja nicht umsonst „engelgleicher Papst“ genannt. Ich bin als Priester in den Orden eingetreten.Vorher hatte ich aber als Germaniker in Rom studiert. Die damals herrschende Enge habe ich hautnah mitbekommen. Das Konzil wirkte da auf mich, wie auf viele andere, befreiend. Worin bestand diese Befreiung? War sie mehr atmosphärisch oder mehr inhaltlich? Beides. Zum einen war einfach durch Papst Johannes XXIII. eine andere Atmosphäre entstanden, nicht nur optisch – nach dem hageren Pius-Papst ein rundlicher, lächelnder Johannes, den viele unterschätzten. Auf ihn folgte der große Intellektuelle Paul VI., dessen Bild nach dem Konzil durch die Enzyklika „Humanae vitae“ von 1968 leider verdüstert wurde. Zum andern aber ging die Kirche inhaltlich in die Breite: Bischöfe aus alten Erdteilen waren da, Weltkirche wurde erlebbar, auch in ihren vielfältigen Zugängen zu einzelnen Themen. Es geschah das Wunder einer intensiven Meinungsbildung. In vielen Fragen ist es den Bischöfen gelungen, gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Was sind die entscheidendsten Änderungen, die das Konzil auf den Weg gebracht hat? Das Konzil hat die Kirche verändert. Irreversibel, wie wir alle meinten. Und es ging dabei nicht nur um Stilfragen. Ich nenne nur die Stichworte Dialog, Religions- und Gewissensfreiheit, das Bild von Kirche als dem wanderndenVolk Gottes. Das gab es vorher so nicht. Heute wird darum gerungen und gestritten. Ich befürchte, dass es da und dort einen Rückbau geben soll. Konzilstexte werden relativiert, umgebogen, klein geredet. Und tragisch ist, dass einer, der auf dem Konzil als fortschrittlich galt, jetzt in seiner neuen Rolle als Papst extremen Kräften in der Kirche entgegen kommt und ständig Konzessionen macht. Diese Kräfte sind zwar eine kleine Minderheit, aber sie artikulieren sich lautstark. Sie wollen das Konzil im Grund rückgängig machen und frühere Zustände wieder herstellen.

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