Jesuiten 2012-3

6 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Konsequenz statt gnädigem Vergessen? Überlegungen zu einer Erziehungsfrage Immanuel Kant hat in seiner Schrift „Über Pädagogik“ ausgerufen: „Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen.“ Damit ist das Dilemma einer Pädagogik beschrieben, die sich als Ziel die Mündigkeit von Heranwachsenden, Bildung als Fähigkeit zur Selbstbestimmung, als Gewinnung eines sachlich und sittlich gültigen Verhältnisses zur Welt, zu sich selbst und den Mitmenschen auf die Fahnen geschrieben hat. Wo Heranwachsende aus Anlass von Bildung in einer Schule oder einem Internat zusammenkommen, geht es natürlich nicht nur um guten Unterricht, um musische, sportliche oder sittliche Erziehung. Es geht eben auch um Disziplin, um Anerkennung von Regeln, bisweilen auch um den Verweis von Schule und Internat, wo Schul- und Internatsordnung mehrfach oder in gravierender Weise verletzt worden ist, sich ein Schüler dauerhaft als nicht einsichtsfähig erweist und Einzelne oder die Gemeinschaft geschützt werden müssen. Ja, das ist fast schon banale pädagogische Realität: Es geht eben auch um Konsequenz, um Strenge und Klarheit in der Anwendung von Regeln – Konsequenz, die (1) nach Vernunftgründen erfolgt und transparent ist, (2) zeitnah und mit direktem Bezug auf das Fehlverhalten erfolgt und (3) den Schüler direkt anspricht und in seiner Situation fordert. Darf es, muss es demgegenüber auch so etwas wie ein gnädiges Vergessen geben? In Anlehnung an eine wunderbare Passage des Babylonischen Talmuds setze ich voraus: Konsequenz muss sein! Fehlverhalten braucht Grenzziehung, weil die Erfahrung der Grenze eine notwendige Voraussetzung für das Einsetzen von Reflexion auf das eigene Fehlverhalten ist – Reflexion als Grundbedingung für den besseren Gebrauch der Freiheit. Aber in welchem Maß soll die konsequente Reaktion erfolgen? Der Talmud gibt drei Erklärungen: (1) Die Konsequenz, die Strafe ist „nur“ die Strafe, also Instrument auf dem Weg zur Heilung, nicht die Heilung des Fehlverhaltens selbst. Das „Maß“ der Strafe darf dem „Unmaß“ des Fehlverhaltens nie zu entsprechen versuchen. (2) So groß das Fehlverhalten ist, es muss danach getrachtet werden, den Schüler zu retten. Das Gute, das an seinem Verhalten aufgestöbert wird, ist wertvoller als das Fehlverhalten; es wiegt schwerer. (3) Wer angesichts seines Fehlverhaltens um Hilfe ersucht, muss Hilfe erhalten. Der Talmud hegt die Strenge und Schärfe der konsequenten Reaktion ein; er durchbricht die Frage nach der Konsequenz durch die Frage nach der Heilung. Das „Mittel“ dazu ist das gnädige Vergessen. Es ist ein uneigentliches Vergessen. Vergessen wird ja eigentlich nichts. Gnädig ist dasVergessen, weil es nicht weiter auf dem Fehlverhalten insistiert – und damit den Schüler entlastet und Neubeginn, Raum zum besseren Gebrauch der Freiheit eröffnet. Gnädig ist dieses Vergessen, weil sich in ihm die Haltung der Güte manifestiert. Das gnädigeVergessen ist somit das notwendige Korrelat der Konsequenz – und manchmal auch ihr Korrektiv. Christopher Haep

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