Jesuiten 2012-3

Wollten wir diese Konfrontation mit der eigenen Schuld tatsächlich als Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes deuten? Oder ist sie nicht vielmehr Ausdruck jener wegen der menschlichen Fehlbarkeit unvermeidlich schmerzhaften Gerechtigkeit Gottes? Die traditionelle Lehre vom Fegefeuer scheint dies so zu sehen: die Konfrontation desVerstorbenen mit seiner schuldbeladenen Vergangenheit initiiert einen Läuterungsprozess, der letztendlich die unverstellte Gemeinschaft mit Gott ermöglicht und sich gerade so als Gestalt seiner Barmherzigkeit erweist. Also noch einmal: Vergisst Gott? Nein, Gott vergisst nicht. Ein Gott, der vergisst, wäre jedenfalls nicht größer „als alles, was gedacht werden kann“ (Anselm von Canterbury). In Gott ist alle Wirklichkeit in Ewigkeit bewahrt und „aufgehoben“ – im Guten wie im Bösen. Anzunehmen, dass Gott vergisst, verbietet also die philosophische Reflexion.Aber diese Reflexion wiederspricht keineswegs der biblischen Offenbarung.Diese nämlich bezeugt einen Gott, auf den gerade deshalb gesetzt werden darf, weil er nicht vergisst. Die Bedrängten und Unterdrückten wissen: ihnen wird gerade deshalb Hilfe und Rettung zuteil, weil Gott ihr Leid nicht vergisst. Besonders in den Psalmen artikuliert sich diese Hoffnung auf vielfältigeWeise.Und ein dem jüdischen Gelehrten Baal Shem Tov (16981760) zugeschriebenes Wort lautet: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ In Jerusalem steht dieses Wort über der Gedenkstätte für die Opfer der Shoah „Yad wa Shem“. Wenn es bei Jesaja heißt: „Ich, ich bin es, der deineVergehen tilgt, um meinetwillen, und an deine Sünden werde ich nicht mehr denken“ (Jes 43,25), so ist damit kein Vergessen gemeint, wie es uns Menschen oftmals belastet, nicht selten aber auch überhaupt erst weiter leben lässt. Es ist vielmehr ein „aktivesVergessen“: ein Nicht-mehr-erinnern-Wollen aus der Haltung vergebender Barmherzigkeit heraus. Solches Vergessen ist ein Vergeben-Wollen. Es ist Ausdruck der göttlichen Sehnsucht, dass die Menschen trotz aller Schuld eine Zukunft haben mögen. Dann nämlich, in Gottes Zukunft, „werden mich vom Kleinsten bis zum Größten alle erkennen; denn ich werde ihre Schuld verzeihen, und an ihre Sünden werde ich nicht mehr denken“ (Jer 31,34). Dass Gott nicht vergisst, darauf beruht die Hoffnung der Unterdrückten und Benachteiligten. Dass Gott vergibt, darauf beruht die Hoffnung derjenigen, die sich als fehlbare Menschen und als Sünder wissen.Wie beides zusammen geht – Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes – bleibt vermutlich eine offene Frage, solange der Mensch im irdischen „Pilgerstand“ lebt.Ob sie sich freilich „am Ende der Tage“ und im Angesicht der überwältigenden Liebe Gottes überhaupt noch stellt? Dirk Ansorge September 2012/3 Jesuiten 5 Dirk Ansorge ist seit diesem Jahr Professor für Dogmatik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Er hat den Lehrstuhl von Prof. Medard Kehl SJ übernommen, der 2011 emeritiert wurde. Prof. Ansorge hat zuvor an der Katholischen Akademie des Bistums Essen „Die Wolfsburg“ gearbeitet. Mit diesem Artikel, der einen kleinen Einblick in die Themen seiner Forschung gibt, stellt er sich dem Leserkreis von JESUITEN vor.

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