Jesuiten 2012-4

Dezember 2012/4 Jesuiten 1 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, wenn wir in der Straßenbahn Jugendliche sehen, wie sie mit ihrem Smartphone spielen, oder wenn wir ahnen, wie sie zu Hause stundenlang vor dem Bildschirm sitzen und in fremde Welten abtauchen, dann sagen wir, sie leben in einer „virtuellen Welt“, also nicht in der realen, sondern in einer künstlichen, erdachten, rein geistigenWelt.Wenn wir beten, malen wir uns mit der Phantasie Bilder aus, die erdacht sind, nicht real, und wir tauchen geistig in diese Bilder ein, lassen uns faszinieren, berühren, trösten. Und wenn wir an Gott denken: Ist nicht auch er irgendwie weit weg, in einem fernen „Himmel“, einem Ort der Phantasie, wunderschön, aber doch irgendwie so etwas wie virtuell? An Weihnachten feiern wir, dass Gott Mensch wurde. Gott kam aus seiner Ferne in unsere Nähe, aus seiner geistigen Welt in unsere irdische, leibliche Welt, aus der gleichsam virtuellen Erfahrbarkeit in die sinnlichkonkrete Existenz. Er überwand den Graben, um uns nahe zu sein. Gibt es ein schöneres Glaubensgeheimnis? Und seit Ostern, seit Christus ganz beim Vater und damit wieder mehr „virtuell“ erfahrbar ist, bleiben Spuren seiner Menschwerdung in unserer realen Welt erhalten: Gott ist einfach da, uns immer nahe, faszinierend, berührend, tröstend. Durch die elektronischen Medien hat sich in wenigen Jahrzehnten unsere Welt radikal verändert. Virtuelle Welten sind dominant geworden, sie prägen uns, sie verändern unsere Wahrnehmung, unser Leben. Verändern sie auch unseren Glauben? Zumindest zeigen sie uns: Rein materialistisch kann man die Welt nicht verstehen; es gibt ein Jenseits der realen Welt, des sinnlich Erfahrbaren; es gibt das Übersinnliche, das Transzendente, das Geistige. Vielleicht gibt ja unser Glaube heute eine neue und tiefere Antwort auf das Geheimnis der Welt: Ja, es gibt die virtuelle, geistige Welt; in ihr ist Gott da, und er ist erfahrbar, spürbar. Ja, es gibt die reale, irdisch-leibliche Welt; auch in ihr ist Gott präsent – das Kind in der Krippe zeigt uns dies konkret, im wörtlichen Sinn anschaulich. Ja, in beiden Welten gibt es Krankes und Böses, etwa im Suchtpotential des Internets oder in der materiellen Habgier auf Erden. Ja, Gott ist überall präsent, in beiden Welten, mitleidend mit den Leidenden, heilend und erlösend. Ja, Gott selbst schlägt die Brücke zwischen beidenWelten, und am Ende werden beide in ihrer jetzigen Gestalt vergehen und in Gottes Ewigkeit eingehen. Wir Jesuiten versuchen, aus unserer Spiritualität angstfrei auf die Welt zuzugehen. Unser Glaube gibt uns dazu das nötigeVertrauen.Auch wenn die neuen virtuellen Welten so viel verändern, gibt es keinen Grund zur Verzagtheit oder gar zur Verzweiflung. Gott, der für uns Mensch wurde, ist uns nahe in allen Dingen. Ich wünsche Ihnen von Herzen den Frieden des Weihnachtsfestes, und für das Neue Jahr, dass Sie die Nähe Gottes immer tiefer und beglückender erfahren. Stefan Kiechle SJ Provinzial

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