Jesuiten 2012-4

2 Jesuiten Schwerpunkt: Virtuelle Welt Schwerpunkt Virtualität – Anwesenheit des Abwesenden Der Faszination, die von sogenannten virtu - ellen Realitäten ausgeht, scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein. Ihr können sich die Menschen nur schwer entziehen. Ob auf der Straße, im Zug, im Restaurant, in der Freizeit und im Beruf - sehr viele Menschen sind fixiert auf kleinere oder größere technische Geräte mit Bildschirmen, die scheinbar konstitutiver Bestandteil ihres Lebens geworden sind. Diese Maschinen ermöglichen es uns heute, die Alltagsrealität, in der wir uns physisch bewegen, mit anderen sprechen, essen, trinken usw., zu übersteigen. Mit ihrer Hilfe überwinden wir große Distanzen. Es ist eine Art von Transzendieren, von Hinausgehen über unsere Grenzen.In Sekunden kann das Fernste präsent werden.Aber es ist eben nicht selbst anwesend, sondern nur ein Abbild von ihm. Es ist eine virtuelle Präsenz. Dieser Abbildcharakter scheint wegzufallen, wenn wir virtuelle Realitäten im Sinne des Cyberspace betrachten. Scheinbar wird hier nichts mehr abgebildet, sondern eine Realität sui generis geschaffen. Es sind künstliche Welten, die mit fortschreitender Technik sich immer mehr unserer Alltagswelt angleichen. Hier tut sich ein Freiheitsspielraum auf, wie wir ihn in der äußeren Wirklichkeit nicht kennen. Hier können sich die Menschen eine zweite Identität erschaffen, deren Erscheinungsform, Charakter, Geschlecht usw. sie nach Belieben selbst wählen. Diese Geschöpfe, mit denen sich ihre Schöpfer wohl identifizieren, können sogar ihre physischen Repräsentanten überleben. Die Frage ist, welche Art von Realität wir in diesen virtuellen Welten und Individuen vor uns haben. Dieselbe Frage stellt sich bei allem, was uns über elektronische Medien präsentiert wird. Blicken wir zurück in die Zeiten, bevor Elektrotechnik unseren Alltag prägte, dann zeigt sich, dass wir auch hier von Virtualität sprechen können. Das Phänomen ist nicht neu.Wir haben dieses Erfassen fremderWelten schon in den frühesten Dokumenten menschlicher Kultur. Der Begriff des Virtuellen wurde nicht erst im Computerzeitalter geprägt. Wir finden ihn in der mittelalterlichen Philosophie: Virtualiter steht als Gegenbegriff zu formaliter. Der Ausdruck virtualiter wird verwendet für die Erklärung von Ursache und Wirkung. Die Wirkung ist virtualiter in der Ursache enthalten, aber nicht umgekehrt. Was damit gemeint ist, steckt in dem Substantiv virtus, die hier am besten mit „Kraft“ wiedergegeben wird. Am Begriff der Kraft lässt sich verdeutlichen, was virtualiter meint. Eine Kraft zeigt sich uns erst, wenn sie wirkt. Dann ist sie real. Wirklichkeit ist hier also gleichzusetzen mit Wirksamkeit. Damit die Kraft aber wirken kann, muss sie schon vorher dagewesen sein. Diesen Zustand der Kraft beschreibt das Wort virtualiter. Virtualität und Realität Die Frage bleibt: Ist Virtuelles „real“? Sind „Welten“, wie sie Computer auf unsere Bildschirme zaubern oder die sich sogar dreidimensional darstellen lassen, real oder sind sie Fiktion? Sind sie wirklich oder nur eine Phantasie, die wir beliebig wieder auflösen können? Oder sind sie (etwas verfälschte) Abbilder der Realität? Wenn ja, von welcher „wirklichen“ Welt? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir Kri-

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