Jesuiten 2012-4

Virtuelle Welt ISSN 1613-3889 2012/4 Jesuiten

Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Virtualität – Anwesenheit des Abwesenden 6 Virtualität aus der Schulperspektive 8 Mailgewitter & Twitterstürme 10 In die Computerzeit hineinleben 11 Erreichbarkeit 2.0: Facebook ohne Ende 14 Online-Exerzitien 16 Pastorale Projekte 17 Warum ich (noch) nicht bei Facebook bin 18 Warum ich bei Facebook bin 20 blog.radiovatikan.de 21 Jesuiten in Facebook Geistlicher Impuls 22 Von der Versuchung, virtuell zu leben Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Vorgestellt 29 Gebetsapostolat Nachrufe 2012 30 Unsere Verstorbenen Medien 32 DVD: Die Schrittweisen. Zu Fuß nach Jerusalem 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte 34 Ein Abonnement „Stimmen der Zeit“ 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2012/4 2012/4 Titelbild: @ Fotolia „Virtualität ist die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen.“ Diese Definition aus „Wikipedia“ auf vielfältige Weise umzusetzen, nahm sich Simon Lochbrunner SJ mit seinen Bildern im Schwerpunktteil dieser Ausgabe vor.

Dezember 2012/4 Jesuiten 1 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, wenn wir in der Straßenbahn Jugendliche sehen, wie sie mit ihrem Smartphone spielen, oder wenn wir ahnen, wie sie zu Hause stundenlang vor dem Bildschirm sitzen und in fremde Welten abtauchen, dann sagen wir, sie leben in einer „virtuellen Welt“, also nicht in der realen, sondern in einer künstlichen, erdachten, rein geistigenWelt.Wenn wir beten, malen wir uns mit der Phantasie Bilder aus, die erdacht sind, nicht real, und wir tauchen geistig in diese Bilder ein, lassen uns faszinieren, berühren, trösten. Und wenn wir an Gott denken: Ist nicht auch er irgendwie weit weg, in einem fernen „Himmel“, einem Ort der Phantasie, wunderschön, aber doch irgendwie so etwas wie virtuell? An Weihnachten feiern wir, dass Gott Mensch wurde. Gott kam aus seiner Ferne in unsere Nähe, aus seiner geistigen Welt in unsere irdische, leibliche Welt, aus der gleichsam virtuellen Erfahrbarkeit in die sinnlichkonkrete Existenz. Er überwand den Graben, um uns nahe zu sein. Gibt es ein schöneres Glaubensgeheimnis? Und seit Ostern, seit Christus ganz beim Vater und damit wieder mehr „virtuell“ erfahrbar ist, bleiben Spuren seiner Menschwerdung in unserer realen Welt erhalten: Gott ist einfach da, uns immer nahe, faszinierend, berührend, tröstend. Durch die elektronischen Medien hat sich in wenigen Jahrzehnten unsere Welt radikal verändert. Virtuelle Welten sind dominant geworden, sie prägen uns, sie verändern unsere Wahrnehmung, unser Leben. Verändern sie auch unseren Glauben? Zumindest zeigen sie uns: Rein materialistisch kann man die Welt nicht verstehen; es gibt ein Jenseits der realen Welt, des sinnlich Erfahrbaren; es gibt das Übersinnliche, das Transzendente, das Geistige. Vielleicht gibt ja unser Glaube heute eine neue und tiefere Antwort auf das Geheimnis der Welt: Ja, es gibt die virtuelle, geistige Welt; in ihr ist Gott da, und er ist erfahrbar, spürbar. Ja, es gibt die reale, irdisch-leibliche Welt; auch in ihr ist Gott präsent – das Kind in der Krippe zeigt uns dies konkret, im wörtlichen Sinn anschaulich. Ja, in beiden Welten gibt es Krankes und Böses, etwa im Suchtpotential des Internets oder in der materiellen Habgier auf Erden. Ja, Gott ist überall präsent, in beiden Welten, mitleidend mit den Leidenden, heilend und erlösend. Ja, Gott selbst schlägt die Brücke zwischen beidenWelten, und am Ende werden beide in ihrer jetzigen Gestalt vergehen und in Gottes Ewigkeit eingehen. Wir Jesuiten versuchen, aus unserer Spiritualität angstfrei auf die Welt zuzugehen. Unser Glaube gibt uns dazu das nötigeVertrauen.Auch wenn die neuen virtuellen Welten so viel verändern, gibt es keinen Grund zur Verzagtheit oder gar zur Verzweiflung. Gott, der für uns Mensch wurde, ist uns nahe in allen Dingen. Ich wünsche Ihnen von Herzen den Frieden des Weihnachtsfestes, und für das Neue Jahr, dass Sie die Nähe Gottes immer tiefer und beglückender erfahren. Stefan Kiechle SJ Provinzial

2 Jesuiten Schwerpunkt: Virtuelle Welt Schwerpunkt Virtualität – Anwesenheit des Abwesenden Der Faszination, die von sogenannten virtu - ellen Realitäten ausgeht, scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein. Ihr können sich die Menschen nur schwer entziehen. Ob auf der Straße, im Zug, im Restaurant, in der Freizeit und im Beruf - sehr viele Menschen sind fixiert auf kleinere oder größere technische Geräte mit Bildschirmen, die scheinbar konstitutiver Bestandteil ihres Lebens geworden sind. Diese Maschinen ermöglichen es uns heute, die Alltagsrealität, in der wir uns physisch bewegen, mit anderen sprechen, essen, trinken usw., zu übersteigen. Mit ihrer Hilfe überwinden wir große Distanzen. Es ist eine Art von Transzendieren, von Hinausgehen über unsere Grenzen.In Sekunden kann das Fernste präsent werden.Aber es ist eben nicht selbst anwesend, sondern nur ein Abbild von ihm. Es ist eine virtuelle Präsenz. Dieser Abbildcharakter scheint wegzufallen, wenn wir virtuelle Realitäten im Sinne des Cyberspace betrachten. Scheinbar wird hier nichts mehr abgebildet, sondern eine Realität sui generis geschaffen. Es sind künstliche Welten, die mit fortschreitender Technik sich immer mehr unserer Alltagswelt angleichen. Hier tut sich ein Freiheitsspielraum auf, wie wir ihn in der äußeren Wirklichkeit nicht kennen. Hier können sich die Menschen eine zweite Identität erschaffen, deren Erscheinungsform, Charakter, Geschlecht usw. sie nach Belieben selbst wählen. Diese Geschöpfe, mit denen sich ihre Schöpfer wohl identifizieren, können sogar ihre physischen Repräsentanten überleben. Die Frage ist, welche Art von Realität wir in diesen virtuellen Welten und Individuen vor uns haben. Dieselbe Frage stellt sich bei allem, was uns über elektronische Medien präsentiert wird. Blicken wir zurück in die Zeiten, bevor Elektrotechnik unseren Alltag prägte, dann zeigt sich, dass wir auch hier von Virtualität sprechen können. Das Phänomen ist nicht neu.Wir haben dieses Erfassen fremderWelten schon in den frühesten Dokumenten menschlicher Kultur. Der Begriff des Virtuellen wurde nicht erst im Computerzeitalter geprägt. Wir finden ihn in der mittelalterlichen Philosophie: Virtualiter steht als Gegenbegriff zu formaliter. Der Ausdruck virtualiter wird verwendet für die Erklärung von Ursache und Wirkung. Die Wirkung ist virtualiter in der Ursache enthalten, aber nicht umgekehrt. Was damit gemeint ist, steckt in dem Substantiv virtus, die hier am besten mit „Kraft“ wiedergegeben wird. Am Begriff der Kraft lässt sich verdeutlichen, was virtualiter meint. Eine Kraft zeigt sich uns erst, wenn sie wirkt. Dann ist sie real. Wirklichkeit ist hier also gleichzusetzen mit Wirksamkeit. Damit die Kraft aber wirken kann, muss sie schon vorher dagewesen sein. Diesen Zustand der Kraft beschreibt das Wort virtualiter. Virtualität und Realität Die Frage bleibt: Ist Virtuelles „real“? Sind „Welten“, wie sie Computer auf unsere Bildschirme zaubern oder die sich sogar dreidimensional darstellen lassen, real oder sind sie Fiktion? Sind sie wirklich oder nur eine Phantasie, die wir beliebig wieder auflösen können? Oder sind sie (etwas verfälschte) Abbilder der Realität? Wenn ja, von welcher „wirklichen“ Welt? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir Kri-

Dezember 2012/4 Jesuiten 3 terien finden, anhand derer wir Realität „messen“ können. Anders gefragt:Was macht Realität zur Realität? Fangen wir von vorne an: Wir haben eine Erscheinung, ein Phänomen, und einen, der die Erscheinung wahrnimmt, ein Erkennendes und ein Erkanntes. Kommt beides zusammen, dann „ist“ etwas für den Erkennenden. Das scheint zunächst keine Frage zu sein. Doch wie lässt sich das überprüfen, wenn wir es nicht einfach glauben wollen? Wir müssten uns über die Relation Erkennendes – Erkanntes erheben und sie von außen betrachten. Aber das führt ebenso wenig zu einer Objektivität, weil damit nur die erste Relation wiederholt wird. Diese Prüfung scheitert. Ebenso alle anderen möglichen Prüfungen, denn immer brauchen wir eine kritische Instanz. Und diese muss ein Phänomen erkennen und beurteilen. Damit fallen wir immer wieder zurück in die Ausgangslage. Übertragen wir das auf die virtuellen Welten, so ergibt sich Erstaunliches.Wir können auch ihre Objektivität nicht letztlich verneinen. Wenn zwei oder mehreren Personen eine solche Welt als real erscheint, ist sie für diese real.Wir können ihnen die Objektivität nicht einfach absprechen. Aber umgekehrt gilt dasselbe. Die Objektivität dieser Welten lässt sich auch nicht beweisen. Es bleibt also – so könnten wir sagen – ein Glaube.Wir müssen, ob wir wollen oder nicht, an die Realität einer „Realität“ glauben. Der Glaube daran ist es letztlich, der ihre Wirklichkeit verbürgt. Aber das gilt nur für die, die an die eine oder andere Realität wirklich glauben. Für die, die es nicht glauben, bleibt es Schein, Irrtum, Phantasie. Das gilt nicht nur für subjektive Wahrnehmungen oder virtuelle Welten. Es gilt in gleicher Weise auch für unsere so unverrückbar dastehende Alltagsrealität. Will man den Begriff des Glaubens in diesem Zusammenhang vermeiden, weil er religiös besetzt ist, bietet sich der Begriff der Identifikation an. Wir identifizieren uns mit dem Wahrgenommenen, beziehen es auf unser Ich. Diese Bindung ist so stark, weil wir das eine ohne das andere nicht denken können. Ja sogar, weil es das eine ohne das andere gar nicht „gibt“. Die Identifikation des Ich mit dem Wahrgenommenen erzeugt erst die „Realität“, des einen wie des anderen. Übertragen wir die gewonnenen Ergebnisse auf virtuelleWelten, wie wir sie im Computer- zeitalter finden, so müssen wir differenzieren. Es gibt Welten, die an bestimmte Kontexte gebunden sind. So z. B. wird wohl niemand die Welt eines Computerspiels restlos als seineWelt betrachten. Nun gibt es aber im sogenannten Cyberspace künstliche Welten, mit denen sich manche so stark identifizieren, dass sie für jene zur (einzig wahren) Realität werden.Dann entstehen ein psychologisches und ein soziales Problem. Denn die Alltagsrealität bleibt bestehen. Und sie bleibt der Orientierungspunkt, an dem wir uns ausrichten müssen. Auch wenn man denWahrheitsgehalt dieses Alltäglichen philosophisch in Frage stellen kann und muss, entbindet uns das nicht davon, in dieser Welt zu leben und erlaubt uns nicht in eine andere, nach unseren Neigungen selbst zusammengestellte,zu flüchten. Betrachten wir diese verschiedenenWelten, so verschwinden auf einer grundlegenden Ebene die Unterschiede. Die Konstruktionsmerkmale der anderen Welten sind dieselben wie die unserer alltäglichen Welt. Die virtuellen Welten erscheinen als eine Simulation der „alten“ Welt. In den neuen Welten begegnet uns alles wieder, was wir aus der „alten“ Welt kennen. An einer Frage aber unterscheiden sich die „alte“ Welt und die neuen Welten. Es ist die Frage nach ihrem Ursprung. Die virtuellen

Welten sind eindeutig Produkte des schöpferischen Menschen. Aber wo kommt die „reale“ Welt her? Der religiöse Mensch wird an einen Schöpfergott denken, der die Welt geschaffen hat. Der Physiker spricht vielleicht von einem „Urknall“ (der nur ein Denkmodell ist). Beide, den Gott und den Anfang in einer Singularität, können wir nicht fassen. Beide bleiben „virtuelle“ Größen. An den einen wie an den anderen können wir zunächst nur glauben. Lassen sich hier überhaupt Unterschiede ausmachen? Wenn wir Gott das Höchste nennen, ewig, allmächtig usw., können wir uns letztlich nichts mehr darunter vorstellen. Er übersteigt unsere Vorstellungskraft und erst recht unsere sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit. Er ist transzendent. Trotzdem sprechen wir ihm Eigenschaften zu. Gehen unsere Beschreibungen also auf eine virtuelle Realität? Rekonstruieren wir Gott als virtuellen Punkt? Ist er nur unser Konstrukt? Wir müssen bedenken: Unser Denken läuft immer auf einen letzten Orientierungspunkt zu. Dieser ist das Höchste oder das Absolute, weil er selbst nicht mehr gedacht und hinterfragt werden kann. Wenn wir diese Denknotwendigkeit ernst nehmen, dann bieten sich die tradierten Bilder an, nach denen Gott als der Grund der Welt einerseits diese übersteigt, andererseits in jedem Punkt des von ihm Geschaffenen präsent ist. Zunächst ist das für uns nur eine virtuelle Präsenz. Das können wir glauben.Aber dieser Glaube verlangt eine Bestätigung. Erst, wenn wir diesen Glauben durch Erfahrung gefüllt haben, können wir ihn als eine unumstößliche Wahrheit verkünden. Nehmen wir diese Erfahrung als Vergleichsmoment, dann zeigt sich, dass auch virtuelle Computerwelten erfahren werden können. Gottesbilder wie virtuelle Welten sind Produkte des menschlichen Geistes. Beide Wege basieren – wie wir gesehen haben – auf demselben Glauben an ein Axiom. Sie werfen den Menschen zunächst auf sich selbst zurück, beide gehen den Weg der Erfahrung. Der Glaube an Gott führt unweigerlich an die Grenze des Menschseins, die ihn zu seinem wahren Wesen führen kann. Dahin könnte theoretisch auch der andereWeg führen. Dann nämlich, wenn der Mensch wirklich radikal sein Menschsein zu ergründen versuchen würde. Diese Intention scheint man im Cyberspace vergeblich zu suchen. Die Versuchung, beim Schein stehen zu bleiben, ist hier größer. Resümierend bleibt uns also nur, die Aufgabe, bei dem Schein, der sich uns zeigt, zu beginnen, um von dort die wahre Wirklichkeit zu suchen. Dr. Manfred Negele Privatdozent für Philosophie an der Universität Augsburg und Lehrer eines unserer Scholastiker vor dessen Ordenseintritt. Derzeit ist sein Schwerpunkt die Ausbildung angehender Ethiklehrer. Der Beitrag von Manfred Negele steht ungekürzt als App auf der Facebookseite des Ordens zur Verfügung: <www.facebook.com/jesuiten 4 Jesuiten Schwerpunkt: Virtuelle Welt

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6 Jesuiten Schwerpunkt: Virtuelle Welt Schwerpunkt Virtualität aus der Schulperspektive In den 90er Jahren wurde der Ruf in der Öffentlichkeit laut: „Neue Medien an die Schulen!“ Seitdem hat sich sehr viel getan und auch verändert – Internetzugang an der Schule, Internet-Führerschein, Schutz vor Missbrauch, neue Formen der Recherche, neue Möglichkeiten der Täuschung, neue Prüfungsformate („Präsentationsprüfungen“), Folgekosten bei Geräten und Personal (Systembetreuung), neue Systeme der Datenverwaltung und Schulorganisation und vieles andere mehr. Heute ist es nicht mehr möglich, ohne InformatikSachverstand Schule zu machen.Auf zweiVeränderungen möchte ich hier eingehen, die den schulischen Alltag in seiner pädagogischen Substanz berühren. Verringerung der Abstände zwischen Schule, Jugendlichen und Eltern Beispiel:Am Kolleg in St. Blasien veranstalteten wir kürzlich eine internationale Begegnung von Jugendlichen aus europäischen Jesuitenschulen. Über 400 Schülerinnen und Schüler folgten der Einladung.Wir brachten die Gäste in Jugendherbergen der Umgebung unter. In den Anschreiben an die Eltern machten wir mehrmals deutlich darauf aufmerksam, dass die Schülerinnen und Schüler Schlafsäcke mitbringen sollten.Trotzdem kam eine Gruppe aus Italien ohne Schlafsäcke.Mühsam organisierten die zuständigen Pädagogen noch Decken, damit die Jugendlichen nachts nicht frieren mussten. Am nächsten Tag waren die Rechner der Schulleitung überfüllt mit Mails aus Italien: Eltern beschwerten sich darüber, dass ihre Kinder unter den Decken schlecht geschlafen hatten, empörten sich über die miserable Vorbereitung der Begegnungswoche und verlangten ultimativ sofortige Abhilfe, sprich: ein Bett für jedes Kind. Die Handys und iPads waren in der Nacht zwischen St. Blasien und Genua sehr aktiv gewesen. Die neuen Medien verringern die Abstände – räumlich wie zeitlich – zwischen Eltern, Kindern und Lehrenden. Oft geht es in diesem „magischen Dreieck“ um Anliegen, die emotional hoch besetzt sind. Die Verringerung der Abstände verändert die Beziehungsstruktur. Es stellen sich neue Aufgaben, mit Nachrichten umzugehen, die zu früheren Zeitpunkten die Beteiligten gar nicht oder erst nachträglich erreicht hätten – mit entsprechend weniger Emotionen. Für die Beteiligten ist das eine Chance und eine Belastung zugleich, je nachdem. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Als wir am 28. Januar 2010 die Schülerinnen und Schüler des Canisius-Kollegs in Berlin über die Missbräuche in den 70er und 80er Jahren informierten, schickten wir unmittelbar danach allen Eltern über den großen E-MailVerteiler ein kurzes Protokoll dessen, was wir den Schülern gesagt hatten. So konnten wir absichern, dass in einer so komplexen Materie die Eltern von uns zuerst erfahren, was wir ihren Kindern gesagt haben, bevor ihre Kinder es ihnen erzählen. Denn auch das ist ja eine Lehrererfahrung: Es gelingt Kindern und Jugendlichen nicht immer, korrekt zu Hause wiederzugeben, was sie in der Schule gehört haben. Und umgekehrt kann das wiederum zu Missverständnissen zwischen Schule und Elternhaus führen, die ihrerseits dann wieder mühsam richtiggestellt werden müssen. Und je geringer die Abstände sind, um miteinander zu kommunizieren, umso höher schlagen die Emotionen. Man kann es auch so ausdrücken: Die Verringerung der Abstände erhöht den

Dezember 2012/4 Jesuiten 7 emotionalen Druck im Kessel zwischen Eltern, Jugendlichen und Lehrenden bzw. Schulleitung. Er ermöglicht zugleich aber Kommunikation, wenn man lernt, die Fallen des Mediums zu umgehen. Die Unterscheidung zwischen realer und virtueller Welt Die neuen Medien stellen die Schule neu vor die Aufgabe, Schülerinnen und Schülern bei der Unterscheidung zwischen virtueller und realer Welt zu helfen und beide Welten in ihrem Zusammenspiel zu reflektieren.Aus der Tatsache, dass sich viele Jugendliche im Netz bewegen wie Fische im Wasser, kann man nicht schließen, dass sie ihre Bewegungen im Netz reflektieren – dass nämlich alle Bewegungen im Netz Bewegungen von Menschen sind, die auch in der Wirklichkeit außerhalb des Netzes existieren. Einige gehen einfach davon aus, dass das, was in der virtuellen Welt des Netzes geschieht, etwas völlig anderes sei als das, was in der Wirklichkeit geschieht. Andere meinen, dass die Wirklichkeit im Netz die reale Wirklichkeit selbst sei und beginnen sich deswegen in der Wirklichkeit so zu verhalten wie in der virtuellen Welt. Immer stoßen sie an einem entscheidenden Punkt auf die Wirklichkeit, die sich nicht mehr mit Mausklick verändern oder mit der Löschtaste beseitigen lässt – Verletzungen, die nicht beabsichtigt waren; Folgen, für die man blind war; Mit-Leser, die etwas mit der Information in der Wirklichkeit machen; Spuren, die sich nicht mehr verwischen lassen. An der Stelle, wo sich diese beiden Welten berühren, steht die Schule dann immer vor der Aufgabe, der Wirklichkeit Geltung zu verschaffen. Wenn spontanes Handeln und MitmachenVorrecht der Jugend ist, so ist die Öffnung des Blicks für die Wirklichkeit – die eigene wie die anderer Menschen – Ziel des schulischen Bildungsauftrages. Der Blick für die Wirklichkeit wird aber geöffnet und geschärft durch die Fähigkeit zu reflektieren. Klaus Mertes SJ

8 Jesuiten Schwerpunkt: Virtuelle Welt Schwerpunkt Mailgewitter & Twitterstürme Kony 2012 1987 – Erste Meldungen über einen Joseph Kony und seine Lords Resistance Army (LRA) dringen nach Europa. Ein brutaler Warlord, der Kinder entführt und als Soldaten und Sexsklavinnen missbraucht. Nur: Afrika ist weit – wen kümmert’s? 2005 – Der Internationale Strafgerichtshof erlässt Haftbefehle gegen Joseph Kony und einige LRA-Kommandanten. Die Anklage: Detaillierte Listen mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Nur: Wen interessiert schon, was Juristen schlimm finden? 2012 – Die Nichtregierungsorganisation Invisible Children stellt, ausgehend von der Geschichte eines ehemaligen Kindersoldaten Konys, ein Video auf YouTube. Innerhalb weniger Tage wissen Millionen Menschen, wer Joseph Kony ist und warum er aus dem Verkehr gezogen gehört. Es erhoben sich Mailgewitter und Twitterstürme.Tausende Menschen begannen Briefe zu schreiben, Politiker zu nerven, Plakate zu kleben und zu fragen, warum man da nicht schon längst was getan hat. Und es bewegte sich: die US-Regierung, die Afrikanische Union, sogar der UN-Sicherheitsrat. Nicht nur „Kony 2012“, auch die „Arabellion“ oder die Kampagne „Steuer gegen Armut“ für eine Finanztransaktionssteuer sind Beispiele dafür, wie die Sozialen Medien Menschen informieren und mobilisieren können. Denn: Natürlich darf das Engagement nicht beim „Clicktivism“ stehen blei - ben. Ziel muss es stets sein, die Information in konkrete Aktion umzuwandeln – was unterschiedlich gut gelingt. „Kony 2012“ hat in Deutschland keine vergleichbare Resonanz gefunden wie in anderen Ländern, auch wenn deutsche und afrikanische Jesuiten sich sehr dafür einsetzten. Aber Erfolge der FinanztransaktionssteuerKampagne oder Bemühungen, Spekulation mit Lebensmitteln zu verbieten, belegen, dass auch in Deutschland das Web 2.0 aus der gesellschaftspolitischen Mobilisierung nicht mehr wegzudenken ist. Da mehr und mehr Menschen in Deutschland „online“ sind, gibt es wohl kaum jemand, der nicht schon mit EPetitionen, kreativen, neugierig machenden Kurzvideos, „Infotainment“, provozierenden Kampagnen über Facebook,Twitter, campact und AVAAZ mit „Fünf-Minuten-Infopacks“ konfrontiert worden ist. Man mag das für unseriös halten, weil komplexe Anliegen nicht in der nötigen Differenziertheit behandelt werden. Dabei übersieht man aber die Notwendigkeit, im Meer an Informationen zunächst Aufmerksamkeit für sein Anliegen zu erhalten. Hat man diese Aufmerksamkeit, kann man im zweiten Schritt differenzierte Information und Handlungsmöglichkeiten anbieten. Insofern können Social Media ein Aufhänger und Ansatz für seriöse Arbeit sein. Natürlich kann man auch weiterhin mit klassischen Medien und Kommunikationsmitteln die eigene „Klientel“ erreichen. Die Gefahr ist, dass die zirkulierten Informationen dann im Kreis der „üblichen Verdächtigen“ verbleiben. Mit den Mitteln des Webs 2.0 fällt es leichter, dem eigenen Milieu Fernstehende zu interessieren und parteien- und gruppen-

Dezember 2012/4 Jesuiten 9 übergreifend gesellschaftspolitisch mehrheitsfähige Bündnisse zu schaffen, die dann wiederum Einfluss auf die Politik nehmen können. Steuer gegen Armut Am erfolgversprechendsten ist dabei sicher ein „Mix“ verschiedener Methoden. Ein Beispiel aus der Kampagne „Steuer gegen Armut“. Die Woche vom 17. bis 20. Mai 2010 stand in Deutschland im Zeichen der koalitionsinternen Auseinandersetzungen, ob die Finanztransaktionssteuer oder eine Finanzaktivitätssteuer der beste Weg sei, den Finanzsektor an den Krisenfolgekosten zu beteiligen. Die FDP wollte die Aktivitätssteuer, die Kampagne die Transaktionssteuer. Folgende Mittel wurden genutzt, diese Position deutlich zu machen: Zunächst am 17.5. die von der Kampagnen-E-Petition mit angeschobene Expertenanhörung im Finanzausschuss des Bundestags, bei der auch Kampagnenvertreter Redezeit hatten. Am selben Abend fand eine gut besuchte Diskussionsveranstaltung mit Vertretern aller Parteien in der Katholischen Akademie in Berlin statt. Es folgte am 19.5. ein Medienstunt vor dem Brandenburger Tor, bei dem von attac, Jusos, Oxfam und anderen mobilisierte Robin Hoods, Maid Marians und Bruder Tucs eine Kutsche von Bankern überfiel und ihnen 0,05% des Besitzes für Armutsbekämpfung und Klimaschutz abzwackte. Während der ganzen Woche wurden Kampagnenunterstützer deutschlandweit über Facebook und Twitter aufgerufen, Bundestagsabgeordneten auf geeignete Weise mitzuteilen, dass sie Partei für die Transaktionssteuer ergreifen sollten. Mit Erfolg: Am 20.5. verkündete Finanzminister Schäuble vor dem Bundestag, dass die Bundesregierung sich ab sofort für eine Transaktionssteuer einsetzen werde. Das Problem mit Web 2.0-basierten Kampagnen ist, dass sie recht kurzlebig sein können bzw. immer wieder überlegt werden muss, wie das Interesse am Thema aufrecht erhalten werden kann. Dennoch: Ich glaube nicht, dass sich der Trend aufhalten oder gar umkehren lassen wird. Auch in Deutschland wird das Web 2.0. für thematisches AgendaSetting und gesellschaftliche Mobilisierung an Bedeutung zunehmen. Entsprechend sollte man mit Mut und Kreativität experimentieren und sich dieses Mediums so gut wie möglich für die eigenen Themen und Anliegen bedienen. Weitere Informationen <www.steuer-gegen-armut.org> <www.joergalt.de/advocacy/great-lakesregion/kony2012.html> Jörg Alt SJ

10 Jesuiten Schwerpunkt: Virtuelle Welt Schwerpunkt In die Computerzeit hineinleben Erinnerungen eines älteren Jesuiten 1968 schrieb ich meine Dissertation noch auf Schreibmaschine mit vier Durchschlägen. Druckfehler versuchte ich, noch auf der Walze auszuradieren. Man musste jeweils unter die Kohleblätter Zwischenpapier legen. Selbst mit Flüssig-Tipp-Ex war Korrigieren immer eine Geduldsprobe. Als ich 1976 eine Übersetzung der Geistlichen Übungen für den Druck im Benno-Verlag vorbereitete, entstand ein Manuskript mit sehr vielen Überklebungen in bis zu drei „Stockwerken“. Es per Post nach Leipzig zu schicken, hat damals drei Monate gedauert; die östliche Postzensur schien sich sehr zu interessieren. Mein erster Computer (1983) war ein Apple III. Er hatte keine Festplatte und auch noch keinen Bildschirm für Farben. Man musste ihn mit einer Floppy-Disk mit 64 kb Speicherplatz in Betrieb nehmen. Speichern konnte man nur auf einer anderen Floppy-Disk, für z. B. eine Datei von 23 kb dauerte dies 1-2 Minuten. Es gab noch kein Silbentrennungsprogramm und man konnte noch nicht Blocksatz schreiben. Sonderzeichen waren kaum hinzubekommen. Dennoch, welch ein Fortschritt gegenüber früher! Am Computer konnte man an Texten basteln, ohne immer das Ganze neu schreiben zu müssen. Es gab übrigens bei Apple einmal eine Reklame für Computer mit einem Bild des Portals der Freiburger Universität, über dem in goldenen Lettern steht: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Dieses Wort (Joh 8,32!) wurde als ein Beispiel für die heute doch überwundeneWissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Aber Computer würden die Zeit für das Erstellen von Texten um die Hälfte verkürzen, nein, nur um ein Drittel; die Differenz könne man nutzen, um das Produkt gegenüber früher zu verbessern. Meine Dateien ließen sich über eine elektrische Typenradschreibmaschine ausdrucken. Allerdings musste man für jede Seite unten in der Mitte einen Punkt vorsehen, damit nicht das nächste Blatt beim automatischen Einzug zerknittert und angerissen wurde. Anfang der 90er Jahre wurde im Max-PlanckInstitut für Geschichte in Göttingen die kritische Ausgabe der Ignatiustexte gescannt und als Computerdateien zugänglich gemacht, u. a. zwölf etwa 600-seitige Bände von über 6800 Briefen und Unterweisungen. Dies war für meine Übersetzung von 400 Briefen und anderer Ignatiustexte eine unschätzbare Hilfe. Man konnte in Sekundenschnelle alle sonstigenVorkommen eines Wortes im Urtext vergleichen. Eine völlig neue Qualität erhielten die Computer durch das Aufkommen des Internets, das ab 1989 als World Wide Web allgemein zugänglich wurde, zugleich entwickelte sich der E-Mail-Verkehr.Wollte man früher auf eine briefliche Anfrage antworten, musste man zunächst die Frage abschreiben, um darauf einzugehen. Im Internet kann ich einfach in das empfangene E-Mail Absatz für Absatz meine Stellungnahme hineinschreiben. Briefe nach Südamerika hatten früher eine Laufzeit von 14 Tagen bis vier Wochen. Ein E-Mail erreicht den Adressaten gewöhnlich nach Sekunden. Ich brauchte einmal ein Zitat von Thomas von Aquin und wollte nicht eigens in unsere Bibliothek gehen. Ich stieß auf eine neue Website, die sämtliche Werke von Thomas von Aquin für jeden kostenlos zugänglich macht. Das ist ein ganzer Bücherschrank, der keinen Platz wegnimmt. Peter Knauer SJ

Dezember 2012/4 Jesuiten 11 Schwerpunkt Erreichbarkeit 2.0 Facebook ohne Ende – ein Leben fürs Netz? Es ist weg! Ich greife in die Tasche: Schlüssel. Portemonnaie. Lose herumfliegende Taschentücher. Kein iPhone! Nachdem ich auf dem Weg zu den Gates am Flughafen realisiere, dass es tatsächlich weg ist, schwirrt eine einzige Frage in meinem Kopf auf und ab „Was fange ich ohne Smartphone an?“ Und schon sehe ich mich verwirrt ohne GoogleMaps durch die Straßen San Franciscos geistern. Ist das Smartphone tatsächlich bereits so stark in meinem Leben verankert, dass ich ohne es Angst bekomme? Das Smartphone ist ein multifunktionaler Taschencomputer, der Freizeit und Arbeit in sich vereint.Telefonieren wird zur Nebensache, man kann auf die verschiedensten Anwendungen zugreifen und braucht für all dies lediglich ein Gerät. Das Organisieren erfordert nicht mehr massenweise Ordner, die mit Zetteln überlaufen. Kein Wunder, dass es in der Geschäftswelt kaum noch wegzudenken ist. Kommunikation und Datenaustausch werden leicht gemacht und laufen über Smartphones in den vielfältigsten Formen ab. Für viele ist das soziale Netzwerk unerlässlich geworden. Das Smartphone prägt den Alltag. In einer Zeit immer schneller werdenden Fortschritts steigen auch die Bedürfnisse nach Mobilität und Komfort. Relativ schnell filterten sich bei diesen Vorgaben die Vorteile des Smartphones heraus, gegen die sich mittlerweile die Wenigsten wehren: ständiger Internetzugang, Google, Mailkonten, Facebook, Whatsapp, Twitter, Skype, NachrichtenApps und Co.Alles wird angepasst. Immer mehr Menschen wählen denWeg, über Online-Medien an schnelle, wenn auch teils oberflächliche Informationen zu gelangen, welche jedoch ausreichen, um das Gefühl zu haben, informiert zu sein – und so seinen Teil dazugeben zu können. Das klingt, als habe sich der Mensch bereits abhängig gemacht. Auch ich bin überrascht, wie nahe mir der Verlust meines iPhones ging. Inzwischen liegt San Francisco weit hinter mir, ich habe mich längst an mein Mobiltelefon gewöhnt und beschließe, mich an den ein oder anderen aus meinem Bekanntenkreis mit einer Frage zu wenden – per Facebook natürlich: „Könntest du auf dein Smartphone verzichten?“ Man brauche es nicht unbedingt, lauten viele Antworten. Schließlich konnte man früher auch ohne Smartphone gut auskommen. Sebastian hat Recht, wenn er sagt: „Ich könnte vermutlich auf mein Smartphone verzichten.Aber ich will es nicht wirklich. Klingt ironischerweise wie so ein richtiger Suchtispruch.“ „Aber warum sollte man das Schlechtere dem Besseren vorziehen?“, lautet eine Gegenfrage. Ob man nun gerade sein Essen fotografieren möchte, um es dann bei Facebook hochzuladen, oder mit seiner besten Freundin chatten möchte, während man mit Kopfhörern in der Badewanne liegt,oder das Geburtsdatum von Jimi Hendrix googelt, während man auf den Bus wartet: Man hat die Möglichkeit, also nutzt man sie. Jeder Einzelne hat die Chance auf Selbstdarstellung, jeder Einzelne kann mit der Gestaltung seines virtuellen Lebens imponieren. Und darin schwingt ja auch ein gewisses Moment der Freiheit mit.

12 Jesuiten Schwerpunkt: Virtuelle Welt Andererseits: Wozu wird diese genutzt? Man twittert, dass man gerade mit drei Freundinnen beim Kaffee sitzt, um dann hinterher die neusten Meldungen abzurufen. Egal, mit wem man sich trifft, irgendwie wird das Smartphone immer mal herausgeholt. Da stellt sich die Frage nach dem wahren Fortschritt der Kommunikation. Sind mehr und schnellere Meldungen per se schon bessere Meldungen? Was habe ich davon, wenn ich in Verbindung mit meinen 400 Facebook-Freunden stehe, während vor mir eine wundervolle Unterhaltung mit meinen drei Freunden zustande kommen könnte,die mir entgeht,weil ich nur an meinen nächsten Post denke? Der Drang nach ständiger Erreichbarkeit, aber auch die Erwartungshaltung, stets jemanden erreichen zu können, verwehren uns Tiefe, aber auch die Auseinandersetzung mit uns selbst.Wir unterliegen etlichen, jedoch kurzen Reizen, die Stressfaktoren gleichen und somit verarbeitet werden müssten. Doch weil sie nicht als Stressfaktoren wahrgenommen werden, schalten wir nicht ab.Im Gegenteil:Wir werden süchtig nach dem konstanten Reizfluss,haben Angst,uns von dem Rest derWelt abzugrenzen.Wir definieren uns durch die „Feeds“, „Likes“ und die Kommentare anderer. Durch die sozialen Netzwerke und die ständige Konnektivität geht die Privatsphäre zunehmend verloren. Selbst die intimsten und persönlichsten Dinge werden in der FacebookÖffentlichkeit geteilt. Das muss natürlich nicht von bloßem Nachteil sein. Es weckt das Interesse am Menschen und man kann schneller wählen und erkennen, mit wem man welche Gemeinsamkeiten teilt. Man ist freier in der Wahl und nicht auf Zwangsfreundschaften bzw. -bekanntschaften angewiesen. Außerdem kann ein offener Umgang mit der Privatsphäre dafür sorgen, dass man sich mehrere Meinungen zu den unterschiedlichsten Themen einholt, sodass mehrere Seiten beleuchtet werden. Und ein „Post“ wie etwa „Ich ziehe nach Berlin!“ macht es mir leicht, allen Interessierten Bescheid zu geben. Und dennoch hindert es mich selbstverständlich nicht daran, auch im persönlichen Gespräch darauf einzugehen – theoretisch. Die schnelle Datenverteilung kann bei Übermaß zwar eine Belastung sein, doch kann sie auch den einen oder anderen Ärger im Alltag vermeiden. So gibt es sicherlich viele Studierende, die dankbar dafür sind, nicht erst vor verschlossenen Türen stehen zu müssen, um von dem ausgefallenen Seminar zu erfahren. „Spätestens nachdem wir uns vor zweiWochen nach einem Open Air nachts imWald verlaufen hatten und nur dank GoogleMaps auf dem Smartphone nach Hause fanden, war ich absolut von meinem Smartphone überzeugt.“ Für Svens Antwort auf meine Frage habe ich vollstes Verständnis. Denn auch mir war es etwas mulmig zumute, als ich auf mich allein gestellt durch San Francisco lief, klassisch mit einem Stadtplan in den Händen.Nur zeigte der mir nicht durch einen blau leuchtenden Punkt meinen aktuellen Standort an. Der Smartphone-User gleicht einem Konsumenten, der sich nicht satt essen kann. Er nimmt viel auf, bloß bleibt vermutlich nicht viel in seinem Gedächtnis hängen. Denn solange das Ladegerät nicht fern ist und der Netzbetreiber keine Faxen macht, sind die Infos ja immer abrufbar. Überlassen wir mal dem Smartphone die Smartness. Schneller.Eindrucksvoller.Der Mensch gelangt mittlerweile so leicht und schnell an Befriedigung. Er muss sie sich nicht mehr hart

Dezember 2012/4 Jesuiten 13 erarbeiten. Ein kleiner Austausch bei Facebook kann so viel Genugtuung verschaffen, ein „Like“ ein kleines Lächeln ins Gesicht zaubern. Aber warum gehen wir davon aus, dass „schnell“ auch schon „gut“ bedeutet? Warum erkennen wir nicht, dass wir das Leben in vollen Zügen oft nur durch Entschleunigung auskosten können? Warum erkennen wir nicht den Sinn des Denkens, Wartens und Verzichtens, sondern wehren uns strikt mit allen Mitteln dagegen? Wir denken nicht: Denn die Technologie denkt für uns. Wir warten nicht: Denn ungeduldig erwarten wir auf jede Aktion eine schnelle Reaktion. Wir verzichten nicht: Denn unsere Konsumbesessenheit siegt. Ich erinnere also wieder an meine Situation in San Francisco, als ich mich ein wenig verloren in einer fremden Großstadt fühlte. Ich war gezwungen, auf jeden einzelnen Straßennamen Acht zu geben, auf Menschen zuzugehen, um sie nach dem Weg zu fragen – was für interessante Persönlichkeiten unter ihnen waren! –, wahrzunehmen, was um mich herum ge - schieht, aus mir herauszukommen. Zu realisieren, statt zu virtualisieren.Wer nur aufs Display guckt, vergisst nur allzu leicht die Welt um sich herum. Cynthia Nalewajski (20) war Schülerin an der Hamburger Sankt-AnsgarSchule und hat über die KSJ Kontakt mit dem Jesuitenorden

14 Jesuiten Schwerpunkt: Virtuelle Welt Schwerpunkt Online-Exerzitien Vor einigen Jahren fragte mich mein damaliger Kaplan, ob ich nicht Lust hätte, mal OnlineExerzitien zu begleiten. Online-Exerzitien? Davon hatte ich zwar schon gehört, ansonsten war da bei mir aber nur ein großer „Weißer Fleck“ auf der Landkarte. Doch neugierig war ich schon. Das „Abenteuer“ führte zu überraschenden Erkenntnissen: 1. Das Wort „Exerzitien“ mag zwar ein wenig hoch gegriffen sein, aber erstaunlich ist doch, welche Glaubensimpulse auch „online“ vermittelt werden können und wie viel an geistlicher Bewegung angestoßen wird. 2. Geistliche Begleitung ist – jedenfalls vorübergehend – durchaus auch virtuell möglich, also ohne dem „Exerzitanten“ jemals persönlich begegnet zu sein. 3. Der Heilige Geist schreckt auch vor modernen Medien nicht zurück. Am ehesten sind Online-Exerzitien zu vergleichen mit „Exerzitien im Alltag“. Sie sollen vier Wochen lang den Alltag begleiten mit täglichen Impulsen zum Beten und Meditieren, mit jeweils einer abendlichen Reflexion, mit einem ausführlichen Wochenbericht und einer eingehenden Antwort des Begleitenden darauf. Die Begleiterin bzw. der Begleiter orientieren sich bei der Auswahl von Impulsen in der ersten Woche an dem, was jede(r) Teilnehmende bei seiner Anmeldung über sich selbst und über seine Motivation mitgeteilt hat, und in den folgenden Wochen dann an den jeweiligen Wochenberichten. Es geht in der Regel um die Grundlegung bzw. Vertiefung eines persönlichen Glaubens, um das „Fundament“ der ignatianischen Exerzitien, um eine größere Nähe zu Jesus Christus und um eine Gebetsschule. Zum Teil erhebliche Variationen ergeben sich aus den ganz persönlichen Rückmeldungen. Zielgruppe der Online-Exerzitien sind vor allem Menschen, die Probleme mit ihrem persönlichen Glauben haben oder ganz allgemein auf der Suche nach einer Orientierung für ihr Leben sind. Vielfach sind sie „Anfänger“ im Glauben und erst recht in einem geistlichen Leben. Häufiger jedoch liegt ihnen nach langer „Abstinenz“ an einem neuen Einstieg. Neben Katholiken sind viele evangelische Christen, aus ihrer jeweiligen Kirche Ausgetretene oder Menschen, die kaum einen christlichen Hintergrund haben, an Online-Exerzitien interessiert. Das Medium Internet bringt es mit sich, dass die „Schwelle“ niedriger liegt als in der „realen“ Welt.Wer etwa beim „Surfen“ auf die Online-Exerzitien aufmerksam geworden ist, der tut sich leichter, schnell mal eine Mail zu schreiben, als „reale“ Kontakte zu einem Exerzitienhaus zu knüpfen. Das Internet, mit dem zwar mehr und mehr auch ältere Menschen vertraut sind, spricht zudem immer noch eher jüngere Menschen und Menschen in der aktiven Berufsphase an. Begleitet werden die Online-Exerzitien von Jesuiten und Congregatio-Jesu-Schwestern sowie von Pastoralreferenten/innen und anderen, die mit geistlicher Begleitung und ignatianischer Spiritualität vertraut sind. Sie alle übernehmen diese Aufgabe ehrenamtlich und begleiten maximal zwei Exerzitanten. Was unterscheidet darüber hinaus OnlineExerzitien von anderen Formen der Exerzitien? Die Teilnehmer entscheiden selbst, wieviel Zeit sie sich ausdrücklich für die „Übungen“ nehmen. Der Grundgedanke ist, dass ein kurzer Tagesimpuls sie durch den ganzen Tag begleiten soll. Das ist nicht ganz leicht, wenn einen der berufliche und private Alltag immer wieder einholt. So sind eine

Dezember 2012/4 Jesuiten 15 starke Motivation und auch etwas Selbstdisziplin erforderlich. Dennoch liegt die Abbrecherquote insgesamt bei kaum über fünf Prozent. Vor welchen Fragen stehen wir im Hinblick auf die Weiterführung von Online-Exerzitien? Da geht es zunächst einmal darum, immer wieder neue qualifizierte Begleiterinnen und Begleiter zu finden. Online-Exerzitien sind sehr „personalintensiv“. Andere Fragen ergeben sich aus den Entwicklungen rund um das Internet. So gewinnt z.B. die Frage nach Datenschutz und Datensicherheit an Gewicht. Verschlüsselungsmethoden müssten für unsere Zwecke von Teilnehmern und Begleitern so einfach handhabbar sein, dass sie keine Hürden aufbauen.Auch ist zu beobachten, dass sich die virtuelle Kommunikation zumal junger Leute immer mehr in soziale Netzwerke verlagert. Es gibt bisher keinen Gedankenaustausch darüber, welche Konsequenzen das für die OnlineExerzitien hat oder haben könnte, welche neuen Möglichkeiten sich damit ergeben, aber auch welche Probleme. Jedenfalls möchte ich abschließend ein ausgesprochen positives Resümee ziehen.DerVersuch, „online“ eine entsprechend angepasste Form von Exerzitien anzubieten, ist durchaus gelungen und sowohl für viele Menschen „auf dem Weg“ ein Gewinn als auch für die Idee von Exerzitien ein Zeichen ihrer Lebendigkeit und Flexibilität. Weitere Informationen unter <www.jesuiten.org/sonderseiten/online-exerzitien> Heribert Graab SJ

16 Jesuiten Schwerpunkt: Virtuelle Welt Schwerpunkt Pastorale Projekte www.pray-as-you-go.org Angeleitetes Beten für unterwegs – das steht hinter dem Projekt Pray-as-you-go der „Jesuit Media Initiatives“ der britischen Jesuiten. Die Idee entstand 2005. Peter Scally SJ begann während der Fastenzeit, kleine Dateien anzubieten, in denen das Tagesevangelium gelesen und eine kurze Betrachtung dazu angeboten wird, die mit Gebet und Musik unterlegt ist. Das Ganze ist nicht sehr lang, so dass man es bei einer U-Bahn Fahrt oder im Bus hören und beten kann. Dieses Projekt verbreitete sich enorm schnell: Am Morgen des ersten Tages, am Aschermittwoch 2005, waren die Audios schon 3.000 mal heruntergeladen worden, am Ende der Woche erreichten uns begeisterte E-Mails aus Australien und Kalifornien. Wir verzeichneten in einer Woche 170.000 Downloads. Also entschieden wir uns, weiterzumachen. Mit Breitbandverbindungen und der weiten Verbreitung von MP3-Playern oder iPods kann man solche Dateien fast zum Nulltarif anbieten – eine pastorale Möglichkeit, die man ergreifen musste. Und die Verbreitung gibt uns recht. Denn das Projekt erfreut sich immer noch großer Beliebtheit. Ein wichtiger Schritt war die Entwicklung des optimalen Formats für die Audio-Stücke. Wir haben uns für eine Art vereinfachtes Stundenbuch entschieden. Nach den Rückmeldungen von Hörern entwickelten wir dieses schließlich weiter bis zu dem, was das Programm heute ausmacht: Beginn mit Musik, Schriftlesung, Fragen zur Reflexion, Musik zur Reflexion, Wiederholung der Lesung und einige abschließende Worte, zum Abschluss ein „Ehre sei demVater“. Es ist schwer, die Bedeutung der Musik zu unterschätzen. Wenn die Musik richtig ausgewählt ist, dann wird das Ganze ein Erlebnis von Schönheit, eine ästhetische Erfahrung, ein sinnlicher Genuss. Außerdem können die meisten Menschen nicht ohne Vorbereitung ins Gebet einsteigen, und hier ist die Musik unbezahlbar. Die Anwesenheit Gottes, die eigene Gefühlslage, Ruhe, der „innere Ort“ für das folgende Gebet: All das versuchen wir in der Musik anklingen zu lassen. Heute haben wir etwa 350.000 Downloads jede Woche, was sich auf knapp 60.000 Hörer pro Tag umrechnen lässt. www.thinkingfaith.org Zum ersten Erfolg gesellt sich seit 2008 ein zweiter: die Webseite ThinkingFaith, ein online-Magazin der britischen Jesuiten. Seitdem wir damit online sind, haben über 465.000 Menschen sie besucht und die angebotenen Artikel, Buch- und Filmbesprechungen gelesen. Mit der Seite wollen wir geistige Nahrung anbieten. Denn wir glauben, dass die Ermutigung zum Denken Menschen zu einer tieferen Beziehung mit Gott bringen kann. Wie Pray-as-you-go das tägliche Gebet bereichern soll, so will ThinkingFaith durch aus Glaubensperspektive geschriebene Artikel Inspiration bieten, Wissen erweitern und Verständnis ermöglichen. All das gehört auch zur ignatianischen Spiritualität. Twitter: @ThinkingFaith Facebook: www.facebook.com/thinkingfaithjournal Beide Initiativen sind modernes jesuitisches „Missionsgebiet“ in einer Zeit, wo vermehrt Informationen und Unterhaltung im Internet gesucht werden. Die katholische Stimme will gehört werden. Wir wollen das Evangelium durch unsere online-Präsenz auch in dieser virtuellen Welt vernehmbar machen. Ruth Morris / Frances Murphy Übersetzung: Bernd Hagenkord SJ

Dezember 2012/4 Jesuiten 17 Schwerpunkt Warum ich (noch) nicht bei Facebook bin Wenn ich darüber nachdenke, warum ich nicht bei Facebook oder ähnlichen sozialen Netzwerken bin, fallen mir im Wesentlichen drei Gründe ein. Ich beobachte an mir selbst, wie der Besitz eines Smartphones und das nahezu ständige „Online“-sein mein Leben in den letzten Jahren erheblich beschleunigt haben. E-Mails kann ich jetzt nahezu ständig und überall abrufen, mal eben ins Internet gehen, schauen, wann und wo die nächste U-Bahn abfährt etc. Neben viel Bequemlichkeit bedeutet es aber auch Stress. Wirklich nicht erreichbar zu sein, mal ganz abschalten zu können, erscheint mir zunehmend schwerer. Es kostet mich Energie, immer wieder „Nein“ zu einem erneuten Mail-Check oder ein bisschen Surfen zu sagen. DieVorstellung, dass mit Facebook etc. nun ein weiteres Medium hinzukommt, bei dem ich ständig Entscheidungen treffen muss, mit wem ich befreundet sein will, wen ich ausblende, wem ich was auf seine Pinnwand schreibe, auf welche Nachrichten ich reagiere und auf welche nicht, schreckt mich deshalb eher ab. Ich bin nicht bei Facebook, weil es mir zu viel Abgrenzungsenergie abverlangen würde. Ein zweiter Grund ist ideologischer Natur. Facebook etc. ist nicht kostenlos. Die mir gebotenen Dienste und daraus resultierenden Vorteile haben einen Preis. Die Währung, mit der hier gehandelt wird, sind persönliche Daten. Sie werden dazu verwendet, mich ökonomisch berechenbarer und ausbeutbarer zu machen. „Gezielte Werbeprofile“ erstellen zu können, bedeutet nichts anderes als mich möglichst effektiv manipulieren und zu einem idealen Konsumenten erziehen zu können. Ich bilde mir nicht ein, mich diesem Spiel völlig entziehen zu können. Aber wenigstens entziehe ich mich ihm partiell, wo mir ein Mitspielen nicht unbedingt notwendig erscheint. Ein letzter Grund ist eher persönlicher Natur. Ich gehöre zur aussterbenden Gattung der Menschen, die immer noch Briefe schreiben. Freundschaften und die darin gepflegte Intimität sind mir wichtig. Das hat etwas mit Exklusivität zu tun. Freunde sind für mich diejenigen Personen, denen ich bestimmte Informationen über mich anvertraue, denen ich von besonderenVorkommnissen, aber auch alltäglichen Erlebnissen erzählen kann und erzählen möchte.Warum soll ich mit aller Welt teilen, wo ich in Urlaub war, was ich gerade tue oder denke? Das sind Informationen, die ich gerade nicht jedem bzw. jeder ohne Unterscheidung mitteilen möchte. Warum ich nicht bei Facebook bin? Auf den Punkt gebracht: Ich glaube, es ist nicht gut für mich. Patrick Zoll SJ

18 Jesuiten Schwerpunkt: Virtuelle Welt Schwerpunkt Warum ich bei Facebook bin „Erlich bin ich ein zicke ??“ postete Anne am 24. September via Facebook – und erhielt darauf fast hundert Kommentare ihrer „Freunde“. Man kann über eine solche Nachricht schmunzeln. Und ja, man kann auch resigniert den Kopf schütteln über das Kommunikationssystem Facebook. Man kann aber auch versuchen, ganz nüchtern zu sehen, welche Bedeutung dieses Medium inzwischen für Abermillionen von Menschen gewonnen hat. Anne zum Beispiel hat durch Facebook die Möglichkeit, auf ganz einfache Art und Weise überall ihr Leben mit anderen zu teilen – in all seiner Banalität. Sie erreicht ohne großen Aufwand ein personalisiertes Publikum von mehreren hundert Menschen, je nachdem, wie groß der „Freundeskreis“ ist. Schnell und einfach. Um diesen Artikel zu schreiben, der theoretisch ca. 60.000 Menschen erreicht, wird ein nicht unbeachtlicher Aufwand betrieben. Die Worte müssen so gewählt werden, dass sie von einer Redaktion angenommen werden.Anschließend muss der Text gelayoutet, gedruckt, verteilt, aufgeblättert und bis hierher gelesen werden – sofern diese Kette nicht längst an einer beliebigen Stelle abbrach. Wenn ich meine Meinung auf Facebook poste, ist es nur eine Frage von Sekunden, um den Leuten mitzuteilen, was mich bewegt. Zunächst sind es ca. 600 Personen, die diese Meldung theoretisch erreicht – also gut ein Hundertstel des Jesuitenmagazins. Diese Kontakte jedoch können den Beitrag liken, kommentieren und teilen – und machen ihn damit einer weiteren Vielzahl von Menschen zugänglich. Je nach Qualität der Meldung, je nachdem, wie sehr ich den Geschmack meiner „Freunde“ treffe, vergrößert sich die Anzahl derer, die den Beitrag lesen theoretisch exponentiell. Und bei alledem hat jeder Leser die Möglichkeit, seine Meinung diesem Beitrag anzufügen. Facebook als Arbeitsplatz. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass Facebook einer der wichtigsten Bereiche meiner Arbeit als Jugendseelsorger ist. Zum einen, weil die E-Mail eine immer geringer werdende Rolle spielt. Denn die Kommunikation läuft zunehmend über Facebook. Zum anderen, weil ich über Facebook vieles von dem mitbekomme, was Jugendliche meines Umfelds beschäftigt. Als Annes „Freund“ – oder besser: als jemand, den Anne ihrer Freundesliste hinzugefügt hat – weiß ich, wen sie kennt, was sie gerne macht, worüber sie sich aufregt, was sie fühlt und was sie denkt. Ich kann womöglich viel näher an Anne dran sein, als viele meinerVorgänger es je hätten sein können. Und dazu muss ich lediglich auf ihr Profil schauen. Nähe und Distanz. Sicher liegt in dieser Möglichkeit auch eine große Gefahr. Die Grenze aus Nähe und Distanz ist nicht mehr leicht zu ziehen. Ist es denn wirklich gut, wenn ich so viel von Annes Leben mitbekomme? Wahrscheinlich ist ihr mittlerweile gar nicht mehr bewusst, dass manche der über 350 Freunde, die sie derzeit hat, gar nicht die sind, die sie meint, wenn sie ihren Kommentar ins soziale Netzwerk entlässt. Vielleicht erwartet sie aber auch, dass ich bei unserer nächsten Begegnung in der „real world“ Bescheid weiß, was auf ihrem Profil los war. Denn immerhin bin ich ja ihr „Freund“. Gefahr und Problembewusstsein. Facebook ist virtuelle Realität. Doch das bedeutet nicht, dass es deswegen weniger relevant oder

Dezember 2012/4 Jesuiten 19 weniger konkret wäre als eine Begegnung auf dem Schulhof. Für viele ist diese Form der Realität weit ausschlaggebender als das, was ihnen in der unmittelbaren Begegnung mit Menschen widerfährt. Dazu kann ich stehen, wie ich will. Doch als Jugendarbeiter nehme ich diese Tatsache ernst. Zweifelsohne: Facebook birgt etliche Gefahren. Gefahren sind jedoch nur dann ein Problem, wenn man sich ihrer nicht bewusst ist. Man muss nicht zwangsläufig sein Gesicht verlieren, weil man es mit dem virtuellen Ich einer digitalen Benutzeroberfläche eingetauscht hat. Facebook bietet beispielsweise die Option, unter - schiedliche Grade der Veröffentlichung vorzunehmen. Neben diversen Kontoeinstellungen gehört dazu vor allem aber auch eine persönliche Einstellung, die es mir erlaubt, kritische Distanz zu meinem Facebook-Profil zu wahren – was nicht nur für Jugendliche eine Herausforderung darstellt. Sicher gehören dazu einiges an technischem Know-How, das Erlernen von Disziplin, Diskretion und die Begegnung mit Menschen, die mir zu echten Freunden werden. All das findet sich sicher nicht durch ein paar Klicks. Doch an dieser Stelle sind Eltern, Schule und Pädagogen gefordert. Facebook ist zu einem Teil meines Alltags geworden. Es ist nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass meine Aktivitäten auf Facebook mein Leben zu einem Großteil bestimmen. Die Frage ist, ob ich mich dieser Realität entziehen kann, wenn ich verantwortlich für Menschen bin, für die diese Realität nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken ist. Simon Lochbrunner SJ

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