Jesuiten 2013-1

Wenn die Zukunft stirbt Es war am Abend des 13. März 1995. Wir feierten meinen 60. Geburtstag. Wir, das waren meine Frau Anni, mein Sohn Thomas, 1992 zum Priester geweiht, mein Sohn Richard, und ein Haus voller fröhlicher Freunde und Bekannter. Als sich Thomas kurz nach 22 Uhr verabschiedet, um mit dem Auto in seine Pfarrei ins Allgäu zurückzufahren, wissen wir noch nicht, dass wir ihn zum letzten Mal umarmen. Wir ahnen noch nicht, dass wir beim Aufgang der Sonne in einer für uns völlig veränderten Welt erwachen werden. Am frühen Morgen klingelt der Pfarrer unserer Gemeinde an der Haustür. Er beginnt behutsam zu sprechen: „Der Thomas – er hat einen Unfall erlitten.“ Ich frage: „Tot?“ Der Pfarrer nickt schweigend. Die unfassbare, schockierende Nachricht trifft uns wie ein Keulenschlag. Lähmendes Entsetzen überkommt uns. Unsere Seelen krümmen sich vor Schmerz. Die Tage bis zur Bestattung stehen unter dem Zwang von geschäftiger Organisation. Die Überführung des toten Sohnes, die Wahl des Sarges, die Todesanzeige, in die wir schreiben: „Ins Leben eingegangen ist Thomas…“ Sind diese Worte Zeichen einer in uns noch wohnenden verschütteten Hoffnung auf Zukunft? Der Abschied am offenen Sarg. Die Berührung des Toten. Wie erschreckend kalt seine Hände sind und seine Stirn. Wie gealtert sein Gesicht ist mit seinen 29 Jahren. Es ist der endgültige Abschied, die Gewissheit, ihn nie mehr umarmen zu können, nie mehr seine Stimme zu hören. Nach dem Begräbnis begann das Weiterleben, die Zeit der Trauer. Es kamen die Zeiten der Auflehnung gegen das Geschehene, des Ringens mit Gott, des Klagens und des ihn Anklagens, des Nicht-Annehmen-Wollens. Warum lässt es Gott zu, dass ein so junges Leben ausgelöscht wird? War der Tod des Sohnes dein Geburtstagsgeschenk an mich – Gott? Der Glaube, angefochten und angezweifelt, stand auf dem Prüfstand. Viele haben uns in dieser schweren Zeit sehr geholfen. Geholfen hat mir auch der Besuch eines Trauerkreises, in dem wir über unsere Gefühle offen sprachen, in dem wir geweint und auch gelacht haben. Es kam die Zeit, in der wir Thomas loslassen konnten, die Zeit der dankbaren Erinnerung. Indem wir Ja sagten zu seinem Frieden, erwuchs auch uns Friede mit dem Geschehen. Fast 18 Jahre später stehe ich wieder am Grab von Thomas. Ein frischer Hügel ist aufgehäuft. Wir haben meine Frau neben Thomas zur letzten Ruhe gebettet. Der Grabhügel, so niedrig und klein – kein Mensch kann ihn überspringen. Soll an ihm unsere Zukunft scheitern? Ist die Zukunft gestorben für uns, die wir nach dem Tod eines Kindes oder eines lieben Menschen weiterleben müssen? Nein! Sie ist nur verwundet, sie lebt. Ihre Wunden werden immer wieder heilen, weil Gott sie heilt. Und die Zukunft von Thomas? Auch sie ist nicht gestorben, sie lebt in der Ewigkeit Gottes weiter. Hardy Krowiorsch 8 Schwerpunkt Jesuiten n März 2013 n Die Sprache der Steine Foto: Lutz R. Nehk

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