Jesuiten 2014-3

Verachtung des Kompromisses Wer radikal denkt und lebt, steht in Gefahr, den Kompromiss zu gering zu schätzen, aber damit auch das Leben Anderer, das von Kompromissen durchzogen ist, ihre Entscheidungen und ihre Tragik. Waren Jesus und Paulus, Franziskus und Klara, Johannes Paul II. und Mutter Teresa radikal? Helmuth Plessner, einer der Begründer der Philosophischen Anthropologie im frühen 20. Jahrhundert, versteht unter Radikalismus die „Überzeugung, dass wahrhaft Großes und Gutes nur aus bewusstem Rückgang auf die Wurzeln der Existenz entsteht; den Glauben an die Heilkraft der Extreme; die Methode, gegen alle traditionellen Werte und Kompromisse Front zu machen“. Der Radikale kritisiert die Gegenwart vom Standpunkt einer Kontrastgesellschaft, in der jeder seine eigenen Interessen vergisst und nur ein Interesse hat, sei es das Interesse seiner Klasse, seiner Partei, seiner Religion oder seines Gottes. Gesellschaften, die religiös und weltanschaulich plural sind, bauen auf dem Interessenausgleich und dem Kompromiss auf. Für den Radikalen ist jeder Kompromiss „faul“. Für ihn besteht nämlich kein Konflikt zwischen Sollen und Können, Erfüllbarkeit und Realisierung („wer will, der kann“). Das Abwägen von Gütern, Werten und Handlungsfolgen sowie der Instanzen von Gewissen, Tradition, Autorität gilt ihm als Schwäche, Halbheit oder Unglaube. Die Trennung von Recht und Moral, Politik und Religion ist in seinen Augen eine Verirrung des westlichen Liberalismus. Den Radikalen stört an der modernen Rechtsordnung, dass sie nicht „Tugend- und Wahrheitsordnung, sondern Friedens- und Freiheitsordnung“ ist (E.-W. Böckenförde). Dass diese historisch gesehen aus einem Kompromiss hervorgegangen ist – der Befriedung der Konfessionsgegensätze im Zeitalter der Religionskriege – scheint gegen sie zu sprechen. Mit dem hier neutral skizzierten Radikalismus ist es vollkommen kompatibel, dass er gegenwärtig beinahe ausschließlich in Gestalt des religiösen Extremismus vorkommt. Religionen haben in vielen Weltgegenden die Rolle der Ideologien und säkularen Heilslehren (Anarchismus, Sozialismus, Rassismus, Faschismus, Nationalismus) übernommen. Die überall spürbare Globalisierung produziert einen Typ von radikalem Gläubigen, der über die Religionsgrenzen hinweg ähnlich strukturiert ist und eine verwandte Agenda verfolgt. Gemeinsam ist jungen Muslimen, jungen Juden, jungen orthodoxen oder katholischen Christen, jungen Hindus der tiefe Wunsch, die eigene 14 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal Für den Radikalen ist jeder Kompromiss „faul“.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==