Jesuiten 2014-3

Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser, „Radikal“ ist ein ambivalentes Wort und wird auch ambivalent gehört, je nach dem Kontext, in dem es ausgesprochen wird. Einerseits hat es einen positiven Klang. Das Evangelium ist „radikal“, weil es an die Wurzel geht und zu einem grundlegenden Umdenken („metanoia“) auffordert. Jesu Lebensweise war „radikal“. Sein Nein gegenüber den Versuchungen in der Wüste war ebenso kompromisslos radikal wie sein Ja zum Vater im Himmel, in dem er sich geborgen wusste – und auch sein Ja zu den Armen und Sündern, mit denen er sich solidarisierte. Bis heute sind viele Menschen von dieser Radikalität fasziniert. Besonders auch Jugendliche lassen sich von ihr begeistern. Aber Radikalität kann auch verführerisch sein. Gerade hochherzige Menschen können durch kompromisslose Sprache und radikale Forderungen in Fallen gelockt werden, um darin gefangen gehalten zu werden. „Radikalisierung“ kann zu Verhärtungen führen, zu scharfen Freund-FeindUnterscheidungen, zu Kampfbereitschaft ohne Sinn und Verstand, zur Verachtung der mühsamen kleinen Schritte und des unspektakulären Tagesgeschäftes, zu Rechthaberei und Unachtsamkeit. Wir gehen mit diesem Schwerpunktthema dem Begriff der Radikalität im Sinne der „Unterscheidung der Geister“ nach: Wie können wir die Radikalität des Evangeliums unterscheiden von dem Missbrauch dieser Radikalität? Wie kann die Radikalität der Liebe, wie sie auch ganz unspektakulär im Alltag gelebt wird, von lautstarken Inszenierungen unterschieden werden, die bloß radikal sind, um aufzufallen? Wann stehen radikale Entscheidungen an, und wann ist es eher angemessen, den Kompromiss zu suchen und Zugeständnisse zu machen? Im Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut fragen die Knechte den Gutsherrn: „Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher kommt dann das Unkraut? Er antwortete: Das hat der Feind von mir getan. Da sagten die Knechte zu ihm: Sollen wir gehen und es ausreißen? Er entgegnete: Nein, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus. Lasst beides wachsen bis zur Ernte. Wenn dann die Zeit der Ernte da ist, werde ich den Arbeitern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen; den Weizen aber bringt in meine Scheune.“ (Mt 13,27-30) Vielleicht ist dies ja ein Schlüssel für ein angemessenes Verständnis von Radikalität: Wenn Radikalität sich mit Machtansprüchen verbindet, wird es geistlich falsch – mag es auch noch so fromm und „richtig“ klingen. Das Evangelium sagt dazu Nein und überlässt Gott die Macht. Dieses Überlassen ist radikal. Es verändert diejenigen, die es tun, an der Wurzel. Klaus Mertes SJ Patrick Zoll SJ 1 Jesuiten n September 2014 n Radikal

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