Jesuiten 2015-1

Liebensbriefe Ende Oktober 2014 haben Kinder in St. Michael „Liebensbriefe“ geschrieben und gemalt. An langen Tischen wurde kurz erklärt, was ein Liebensbrief ist: eine Botschaft an verstorbene Menschen und Tiere. Auf einer Spezialfolie, für Blinde entwickelt, wird mit weißem Stift gezeichnet. Die Spuren sind eingeprägt. Weiße Zeichnungen auf einem weißen Hintergrund lassen das Licht durchscheinen. Die Kinder durften ihre Liebensbriefe vor den Gittern der Seitenaltäre aufhängen und dahinter ein Liebenslicht aufstellen. Das Projekt wurde von der Kunstpädagogin Marielle Seitz entwickelt. Es soll die Auseinandersetzung mit dem Tod auf eine neue, lichte Weise in die Gesellschaft bringen. Mehr als viertausend Kinder haben in Kindertagesstätten oder Schulen teilgenommen. Auf einem Friedhof und in der Münchner Fußgängerzone waren rund um Allerheiligen die Botschaften der Kinder als soziale Plastik ausgestellt. Die transparenten Folien hingen wind- und wetterfest wie an einer Wäscheleine. Als Marielle Seitz 2013 das Projekt startete, fragte sie sich: Wie werden Kinder aus unterschiedlichen Religionen und Kulturen reagieren, Kinder von Atheisten, von Christen und Muslimen? Die Initiatorin stellte danach fest: „Die meisten Kinder gehen davon aus, dass es nach dem Tod ein Leben gibt. Sie bezeichnen es als Himmel und glauben, dass es dort schön ist.“ Anrührende Geschichten sind passiert. Eine Gruppenleiterin fragte sich: „Kann ich das meiner Gruppe zumuten, wo wir ein Mädchen haben, dessen Mutter vor kurzem gestorben ist? Aber es war eine Befreiung“, sagte sie später. Die Kinder hatten einfühlsame Fragen gestellt und das Mädchen getröstet. Viele Pädagogen und Eltern waren überrascht, wie mitfühlend kleine Kinder mit dem Thema umgingen. Alle berichteten, dass sie trotz der traurigen Augenblicke viel mit den Kindern gelacht haben. Ein Mädchen hat zu weinen angefangen, als sie vor der Folie saß; weil sie froh war, sagte sie. Ihr Opa war ganz plötzlich gestorben, kurz zuvor hatte er ihr noch etwas geschenkt, aber sie konnte sich nicht mehr bedanken. In ihrem Liebensbrief hat sie das nachgeholt. Opa und Oma waren die häufigsten Adressaten. Was mich überraschte: Viele schrieben an ihre Großeltern, obwohl sie die gar nicht gekannt hatten. Da meldet sich offenbar ein Gespür für die eigenen Wurzeln. Die am meisten gebrauchten Worte waren alle Spielarten von „Liebe und lieb haben“, das Verb „vermissen“ und das Substantiv und Adjektiv „Tod/t“. Der Tod und die Liebe, die großen Themen des Lebens – für Kinder und Erwachsene. Im Allerseelengottesdienst regte ich an: Lassen wir uns von den Kindern zu einem tieferen Glaubens- und Lebenswissen führen. 22 Jesuiten n März 2015 n Vom guten Tod Geistlicher Impuls

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