Jesuiten 2016-3

Feindesliebe – zwischen Utopie und Überforderung „In anderen Religionen wird ebenfalls geliebt. Aber die Liebe, die ich bei vielen Christen wahrnehme, geht über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe macht keinen Unterschied“, schreibt Navid Kermani in seinem Buch „Ungläubiges Staunen“ über die christliche Liebe. Von dieser Liebe, die der Muslim Kermani als grundlegend für das Christentum betrachtet, lesen wir in der Bergpredigt. Jesus fordert dazu auf: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen” (Mt 5,44). Was hat es also auf sich mit der Feindesliebe? Und was soll an der Feindesliebe eigentlich so erstrebenswert sein? Eine Antwort auf diese Fragen fand ich vor einigen Jahren, als ich in Jerusalem war. Ich hatte mich mit Pater Doan, einem Mitbruder aus Vietnam, zum Kaffee verabredet. Eigentlich wollten wir ein Treffen mit ihm und einer Gruppe von Theologiestudenten vorbereiten. Doch dann kam alles anders. Pater Doan erzählte mir von seinem Leben. Es war im Jahr 1981. Vom Generaloberen unseres Ordens war er für eine neue Aufgabe nach Vietnam geschickt worden. „Was immer geschehen mag – vergiss nicht, dass du für die Sache Jesu lebst“, gab ihm Pater Arrupe mit auf den Weg. Für Pater Doan waren die Worte wie ein Vermächtnis. Eines Tages bekam er Besuch von Soldaten. Die Bibel wurde auf den Tisch gelegt und an der Stelle aufgeschlagen, wo Jesus zur Feindesliebe auffordert. „Glaubst du das?“, wurde Pater Doan angeschrien. „Ja“, war seine Antwort. „Wir bekämpfen unsere Feinde. Wir lieben sie nicht“, musste er sich ein weiteres Mal anschreien lassen. Pater Doan wurde verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Zwölf Jahre! … Ein Wort – zwölf Jahre Gefängnis. „Was immer geschehen mag, vergiss nicht, dass du für die Sache Jesu lebst.“ In dieser Gewissheit lebte Pater Doan. Bei unserem Treffen sagte er mir, dass er damals nie Angst hatte. Was ihn so ruhig sein ließ? „Die Gewissheit, dass Gott nicht nur mich, sondern auch die liebt, die mich hierher ins Gefängnis gebracht haben“, sagte er. Damals habe ich verstanden: Wem es geschenkt ist, gottbezogen zu leben wie Pater Doan, der erfährt, was Jesus in seinem Leben selbst erfahren hat, nämlich, dass die Liebe Gottes „keinen Unterschied“ macht, sondern allen gilt, auch den Sündern und Feinden. Das heißt nicht, dass Gott die Sünde deshalb gutheißen würde. Andererseits heißt dies aber auch nicht, dass den Sündern wegen ihrer Schuld die Zuwendung Gottes entzogen wäre. In einer zerrissenen Welt, wie die, in der wir leben, sind wir heute mehr denn je aufgerufen, uns der Liebe Gottes gegenüber zu öffnen, uns von ihr durchdringen zu lassen, damit Gott auch von unseren Feinden erfahren werden kann. Wilfried Dettling SJ 6 SCHWERPUNKT JESUITEN n SEPTEMBER 2016 n MEIN FEIND

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