Jesuiten 2016-4

Kontrollierte Sehnsucht Kontrolliertes Trinken ist ein Programm für Alkoholiker. Viele Abhängige würden sich wünschen, ihre Abhängigkeit kontrollieren zu können. Das Programm Kontrolliertes Trinken ist schon mehrfach ausgewertet worden, es hat offenbar Potential für Alkoholabhängige. Aber bei starkem Konsum von Alkohol und anderen Drogen wird das Ziel kontrollierte Abhängigkeit fast unerreichbar. In einem Gespräch zwischen zwei Abhängigen hat Herbert darüber nur müde gelächelt, als sein Freund es vorhatte: „Ein Heroinabhängiger, der sich selbst kontrollieren will, wo hast Du denn schon mal so was gehört!“ Fünf Flaschen Bier am Tag, jeden Tag zwei Valium, Benzodiazepine, Tilidin, Kokain, Crack; das sind Konsummengen, die unter Abhängigen üblich sind. Da wird eigene Kontrolle unmöglich, es braucht fremde Hilfe. Aber muss dann wirklich für immer Schluss sein mit einem Glas Wein, einer Zigarette oder mit einer Pfeife vor dem Kamin? Ist völliger Verzicht der einzige Umgang mit süß gewordenen Anhänglichkeiten? Kontrollierte Sucht, gibt es das? Und was ist mit der Sehnsucht? Sehnsucht klingt nach Romantik, und niemand will kontrollierte Romantik. Genauer bedacht ist der Ausdruck Sehnsucht aber verdächtig: Sehnen verbinden wir im Deutschen gewöhnlich mit Positivem, Sucht aber nicht. Sucht setzt sich gewöhnlich durch, Sehnen hingegen nicht immer. Auch wenn es tief in mir ist, kann mein Sehnen durch Anderes überdeckt werden oder durch Allzutägliches erstickt. Sehnen hat mich schon oft weitergeführt in meinem Leben, und es war gut, auf seine leisen Impulse zu hören. Kann ein Sehnen auch zur Sucht werden? Wohl schon, ich erinnere mich, dass sie mich schon oft gequält hat, mir schmerzliche Abende oder durchwachte Nächte bereitet hat. Oder auch: dass Sehnsucht mich und Andere nur selten frei gemacht hat, egal ob sie mich zu einer Person gedrängt hat, zu einer Musik oder zu etwas Anderem. Das erinnert mich an ein Lied von Police: „Every breath you take, every mile you make, I’ll be watching you”. Wenn es Sting gesungen hat, habe ich mich daran kaum satt hören können, und noch heute höre ich es gern. Inzwischen ist mir bei diesen Worten aber nicht mehr ganz wohl… So sehr ich mich danach sehne, von Anderen geliebt und angenommen zu werden – jemand, der jeden Atemzug von mir hören will, ist mir unheimlich. Ohne Sehnen und tiefe Wünsche kann ich nicht leben. Sie machen mein Leben bunt. „Das Sehnen lässt alle Dinge blühen, der Besitz zieht alle Dinge in den Staub“, so Marcel Proust. Aber manchmal wird das Sehnen zur Sucht. Was dann? Gibt es dafür eine Lösung? Ist kontrollierte Sehnsucht eine Aussicht? Ansgar Wucherpfennig SJ © fotolia/oksix 10 SCHWERPUNKT JESUITEN n DEZEMBER 2016

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