Jesuiten 2016-4

Schöpferische Fülle – die Kunst des Lebens Ich erwache aus einer bewegten Nacht. Mit dem Eindruck, wieder in eine so komplizierte Welt hineinzumüssen. Mein Körper rettet mich. Beim Yoga muss ich erst einmal nichts tun, um in ihr zu sein. Nur spüren, was alles in mir wiegt und zittert. In diesem Leben folge ich einem inkarnierten Gott. Hinter meinen Augenlidern schaue ich auf ihn. Meine Anziehung zu ihm findet ihren Ausdruck in der Torheit Mariens, die seine Füße mit Parfüm salbt. Mein Skrupel spricht durch Judas: „Und die Armen?“ Jetzt aber hat Schönheit Priorität. Der unnötige Duft der Bewunderung soll die Welt erfüllen. Als Künstler müssen wir die Welt umarmen, nicht erobern. Verwandeln? Durch den Blick. Leben ist zuerst Gabe, nicht Aufgabe. Auf der Straße sehen die Leute blass und traurig aus. Der unendliche Louvre würde mich retten. Aber kilometerlange Malerei ist auch leblos: Ich würde sie bloß konsumieren. Wie die Produktreihen im Supermarkt, deren irdischen, göttlichen Ursprung wir vergessen haben. Kunst erreicht mich in Schlichtheit. Eine alte Postkarte auf meiner Tür erfüllt meinen Tag mit ausreichender Schönheit. Ein listiger Engel von Klee, aus einer Bleistiftlinie. Oder glänzende schwarze Farben von Soulages. Oder das anonyme Kreuz eines anonymen Gottes. Sinn in knappster Form, mitten im Absurden. So werden jetzt alle Menschen Kunst in meinem Blick, in ihrer unerreichbaren Einmaligkeit. Und die weite Welt, bald zerstört von uns. Von unserer Gleichgültigkeit, wenn meine, deine Kontemplation ihr keine Existenz verleiht. Wahrnehmen heißt Mitschöpfer sein. Ich gehe ins Theater, nicht weil ich diese Sprache verstehe, sondern damit sie mich verletzt. Und in mir weiterlebt. Der Schauspieler wirft den nächsten Satz vor sich hin – und wartet, bis er in uns nachklingt. Auch ich spiele, nie allein. Selbst beim Proben eines Monologs auf der Straße muss ich jeden Satz aus der Stille herausreißen. Und vergessen, dass ich ihn kenne, damit er neu erklingt. Die Vielfalt der Gedanken und Zeiten lässt mich endlich in Ruhe. Ich bin nur dieser Satz. In jeder Begegnung meines Tages wird sich das gleiche Drama abspielen. Die geheimsten Botschaften meiner Mitmenschen werde ich nur aufnehmen, wenn ich mich nackt mache von dem, was ich schon glaube zu wissen. Wenn ich ihre ansprechenden Gesichter als die einzige Nachricht Gottes für mich jetzt betrachte. Leben heißt Künstler sein. Verantwortlich für die einmalige Rolle meines Lebens. Und für das ganze Stück: „für alles, für alle, vor allen“, wie Dostojewski schrieb. Julien Lambert SJ 6 SCHWERPUNKT JESUITEN n DEZEMBER 2016

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