Jesuiten 2017-2

Zwischen Recht und Barmherzigkeit Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen. (Mt 1,19) Was für Josef die Alternative gewesen wäre, wird im Evangelium nicht gesagt. Es wird einfach vorausgesetzt: Josef hätte Maria anklagen können wegen unehelichen Geschlechtsverkehrs; darauf stand nach dem Gesetz des Mose die Steinigung. Aber Josef verzichtet auf eine Anklage. Und zwar, weil er „gerecht“ ist. Das Gesetz in all seiner Härte anzuwenden, wäre nicht gerecht. Um im Sinne des Evangeliums „gerecht“ zu sein, genügt es nicht, einfach Vorschriften anzuwenden; Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit wäre keine echte Gerechtigkeit. Von Josef hat vielleicht auch der kleine Jesus diese Art von Gerechtigkeit gelernt. Unzählige Male kritisiert Jesus später eine buchstabengetreue Anwendung der Vorschriften, die dabei deren Sinn verfehlt. Als die Pharisäer eine Ehebrecherin zu ihm bringen und fragen: „Nun, was sagst du?“ – da erweist sich auch Jesus in diesem Sinne als ein Gerechter. Er appelliert an das Gewissen der Ankläger und erreicht, dass die Frau nicht verurteilt wird. Dass Ehebrecher nicht gesteinigt werden dürfen, erscheint uns heute selbstverständlich. Gegen die Todesstrafe sind wir sowieso. Und ob jemand in der Ehe treu ist oder nicht, sieht der moderne Mensch als Privatsache an, die jemand mit seinem Partner und seinem Gewissen ausmachen muss, aber aus der sich die Gemeinschaft heraushalten soll. In der Kirche haben Strafen überhaupt nichts mehr zu suchen, sagten viele in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Dass diese scheinbar so barmherzige Grundeinstellung dazu beigetragen hat, dass man nach Fällen sexualisierter Gewalt den Tätern immer wieder eine neue Chance gegeben hat, anstatt mit der nötigen Härte gegen sie vorzugehen, hat man sich damals nicht klar gemacht. Heute wird wieder „Null Toleranz“ gefordert. Für manche schlimmen Taten erscheint uns keine Strafe schwer genug; das Gesetz soll mit aller Härte angewendet werden. Sind wir wirklich barmherziger als die Pharisäer zur Zeit Jesu? Oder besteht der Unterschied zu früher nur darin, dass wir heute andere Taten als früher hart bestraft sehen wollen? Das Evangelium fährt fort: „Während Josef noch darüber nachdachte, erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum“. Wie Josef in Ruhe nachzudenken, anstatt einfach den spontanen Emotionen zu folgen, das ist auch heute empfehlenswert. Ulrich Rhode SJ 6 SCHWERPUNKT JESUITEN n JUNI 2017 n JOSEF

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