Jesuiten 2017-3

Die Identitätsfalle Ich kann gleichzeitig Halb-Inder, deutscher Staatsbürger, Einwohner von Amsterdam, Christ, Jesuit, Priester, Philosophiestudent, Freund von guter Rockmusik und Liebhaber griechischer Kochkunst sein. So oder ähnlich kann ich mich beschreiben, wenn ich dem Ansatz des indischen Ökonomen Amartya Sen folge, der Identität als plural begreift. In seinem Buch „Die Identitätsfalle“ beschreibt er auf sehr persönliche Weise, wie uns unsere Identitäten prägen. Dabei können verschiedene Aspekte je nach Situation und Kontext mal mehr, mal weniger wichtig sein. Wenn ich eine Messe feiere, ist es den mitfeiernden Christen vermutlich weniger wichtig, wie meine CD-Sammlung aussieht. Und wenn ich beim Griechen eine Pizza esse, werde ich wohl nur selten mit dem Kellner über die Philosophie Wittgensteins ins Gespräch kommen. Amartya Sen glaubt dabei an die Freiheit der eigenen Entscheidung: Ich muss selbst wählen, wann ich welchem Aspekt meiner Identität den Vortritt gebe. Der kleine Amartya ist gerade einmal elf Jahre alt, als er erlebt, dass Identität auch tödlich sein kann. Ein Muslim, mit Namen Kader Mia, ist gerade auf dem Weg zur Arbeit, als er von Hindu-Extremisten angegriffen und lebensgefährlich verletzt wird. Er sucht im Garten der Sen-Familie nach Hilfe, die ihn schnellstmöglich ins Krankenhaus bringt. Doch wenig später erliegt er seinen Verletzungen. Auch Kader Mia hatte eine plurale Identität: Doch an diesem Tag wurde er von seinen Peinigern auf seine religiöse Identität reduziert und somit zum Feind. So kann Gewalt entstehen. Auch in den Niederlanden habe ich erlebt, wie Populismus Menschen auf einen Aspekt ihrer Identität verkürzt. „Wollt ihr mehr oder weniger Marokkaner?“ fragt Geerd Wilders seine Zuhörer, die zurückrufen: „Weniger!“ In diesem Moment vergisst das aufgestachelte Publikum, dass Marokkaner auch Familienmütter und Familienväter, Musiker und Tänzer, Kassierer im Supermarkt und Rechtsanwälte sind. Populismus polarisiert und macht sich dabei sehr oft die „Identitätsfalle“ zunutze, über die Amartya Sen schreibt. Auch mir kann es manchmal so ergehen, wenn ich als Jesuit in einer säkularisierten Umgebung an meiner Promotion schreibe. Dann bin ich sehr schnell „der Jesuit“ oder „der Katholik“ – werde also auf einen Aspekt meiner Identität reduziert. In meinem Fall führt das zum Glück nicht zu Diskrimination, sondern in der Regel zu Neugier und Dialog – was mich sehr freut. Gewalt entsteht aber dann schnell, wenn die Person, die auf einen bestimmten Aspekt ihrer Identität reduziert wird, sich darauf versteift und radikalisiert. Dann gibt es keine Neugier mehr untereinander – und Dialog wird unmöglich. Es existieren nur noch Fronten. 6 SCHWERPUNKT JESUITEN n SEPTEMBER 2017 n POLARISIERT

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