Jesuiten 2017-4

11 JESUITEN n DEZEMBER 2017 n ANBETUNG Tabernakel des Lebens Manchmal frage ich mich, warum das Staunen über das Wunder des Lebens so schnell vergeht. (Um diese Frage zu verstehen, ist es gut zu wissen, dass ich Vater einer knapp dreijährigen und einer knapp zweimonatigen Tochter bin. Das Miterleben von Schwangerschaft und Geburt ist also recht frisch für mich.) Ein im Mutterleib heranwachsendes Kind und seine Geburt erscheinen vielen Menschen außergewöhnlich und bleiben irgendwie unfassbar. Bis das neue Leben zur Gewohnheit wird und das Staunen sich im Alltag von Windelwechseln, Schreien, Schlafmangel und Trotzphase verliert. Dabei bleibt das Wunder doch Wunder. Es meckert nur. Und entwickelt mehr und mehr seinen eigenen Willen. Und steht nach dem Gutenachtkuss zum zehnten Mal auf und muss unbedingt auf Toilette, auch wenn dann gar nichts kommt. Doch die Anbetung meiner Kinder erneuert sich immer wieder aus dem Staunen über das wundervolle Leben. Zuerst das Reifen und Wachsen im Mutterleib – der Bauch meiner schwangeren Frau erschien mir manchmal wie ein Tabernakel des Lebens. In seinem Innern eine geheimnisvolle Anwesenheit des Heiligen. Je näher die Geburt rückt, desto mehr lebt das Ungeborene schon mit: es hört die Musik, die wir hören, reagiert auf Stress, der in unserem Alltag herrscht und alles, was seine Mutter zu sich nimmt, hilft auch ihm beim Wachsen. Eine komische Zeit: Das Kind ist schon irgendwie da – aber noch nicht auf die Welt gekommen. Auch wenn ich meine Frau während der Zeit der Schwangerschaft nicht dauernd auf Händen getragen habe, war ich doch deutlich liebevoller und aufmerksamer als sonst. In gewissem Sinne ist es also schade, wenn eine Schwangerschaft vorbei ist. Aber ich sehe, vor allem mit Blick auf unsere ältere Tochter, auch weiter und immer mehr Grund zum Staunen. Was da alles zu nennen wäre! Allem voran diese unglaubliche Schöpferkraft: Das Kind schafft Neues immer fort, erfindet Worte, probiert aus, baut und arbeitet und schafft sich Spielwelten. Und diese Energie, mit dem es alles tut! Und die Entdeckerfreude, die Lust auf Neues und Unbekanntes! Die Hingabe, mit der es lebt! Aber so wie ich bei der Anbetung Gottes in der Kirche meine eigene Endlichkeit besonders spüre, so ist es auch im familiären Alltag. Neben der Faszination gibt es auch die schmerzliche Erfahrung der eigenen Grenzen. Sanftmütig und geduldig auf jede Provokation zu reagieren ist eine Herausforderung, an der ich oft genug scheitere. Aber so, wie ich in allen Lebenskrisen versuche, an Gott festzuhalten, so kehrt auch mein ehrfürchtiges Staunen immer wieder zurück. René Pachmann SCHWERPUNKT © empereur_quai/photocase.com

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