Jesuiten 2017-4

Wunschzettel Auf der Spirituale-Konferenz hatte jeder Teilnehmer einen großen weißen Bogen Papier erhalten. „So, dann legen Sie das Blatt bitte im Querformat vor sich hin und falten es einmal der Länge nach in der Mitte durch.“ 25 Spirituale schauen fragend zum Referenten, und ehe der sich versieht, haben einige das Blatt schon falsch, nämlich im Hochformat in der Mitte, gefaltet. Nach einiger Aufregung, unter viel Lachen und durch Abgucken beim Nachbarn liegt schließlich vor jedem der Teilnehmer ein im Querformat gefalteter Bogen Papier, der durch zwei weitere Falze in etwa sechs gleich große Rechtecke unterteilt war, drei oben, drei unten. Das Ganze war kein Origami-Kurs, sondern lief unter dem Titel Biografiearbeit. „Hier sind Buntstifte und Wachsmalkreiden, bedienen Sie sich! Denn Sie bekommen jetzt ausreichend Zeit, um in die oberen drei Felder drei Begebenheiten aus Ihrem Leben zu malen, an die Sie sich gerne erinnern und für die Sie dankbar sind. In die unteren Felder malen Sie bitte drei Wünsche, drei Dinge, die Sie gerne noch erleben möchten.“ Alle wurden sofort nachdenklich, deckten sich mit Stiften ein, und es wurde still im Raum. Vom jüngsten bis zum ältesten Spiritual, jeder saß hingebungsvoll malend vor seinem Blatt Papier. Keiner ist aus der Übung ausgestiegen. Beim anschließenden Austausch in Kleingruppen wurde das ein oder andere Bild mit den Worten „Ich kann nicht gut malen …“ eingeleitet, aber alle haben die Übung gerne gemacht, und ich kann mich nicht erinnern, dass bei jemand ein Feld leer geblieben ist. Die Übung aus der Biographiearbeit ist bezaubernd, sie weckt Dankbarkeit und Lebenslust. Ich habe sie in mein Repertoire für Gruppenarbeiten aufgenommen, und selbst in Predigten als Gedankenspiel zeigt sie ihre Wirkung. Ich lade die Hörerinnen und Hörern ein, wenigstens gedanklich zu skizzieren, welche drei Bilder sie für die obere Reihe, die Dankbarkeitsgalerie, und welche sie für die untere, die Wunschgalerie, malen möchten. Beim letzten Mal kam nach der Predigt ein Hörer auf mich zu und sagte mir mit einem glücklichen Gesichtsausdruck: „Ich habe mein Bild gefunden, ich weiß, was ich noch erleben möchte!“ „Wie wunderbar, das freut mich!“ Ich wollte an der Kirchentür nicht zu neugierig sein. Deshalb habe ich nicht weiter nachgefragt, aber wir haben uns beide zufrieden schmunzelnd die Hand geschüttelt. In der Predigt hatte ich erzählt, dass ich mit Blick auf die Kirche für meine Wunschgalerie ein Bild malen möchte, das Unbeschwertheit ausdrückt. Mir kommt vor, vieles in der Kirche ist so schwer, so bedrü22 JESUITEN n DEZEMBER 2017 n ANBETUNG GEISTLICHER IMPULS

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