Jesuiten 2018-3

Die Welt als Tauchgang Jan Sjoerds lebte zehn Jahre auf der Straße. Die Welt war, im buchstäblichen Sinne, sein Haus. Jenseits von Abenteuerlust haben ihn vielschichtige Gründe auf die Straße geführt. Im Rahmen eines Begegnungsprojekts mit Obdachlosen in der Katholischen Akademie Hamburg sprach ich mit ihm über seine Erfahrungen in einer Welt, die sein Haus (nicht) war. „Das Merkwürdige ist, dass ich mich besonders am Anfang meiner Obdachlosigkeit von der Welt seelisch abgewandt hatte, so als ob ich in der Ecke stand. Mein ‚Inder-Welt-sein‘ habe ich so empfunden: ich stand in der Ecke. Die Gesellschaft lief weiter, aber ich wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Der Grund dafür war, dass ich durch das Ende einer Beziehung seelisch tief enttäuscht und verletzt worden war.“ Der gelernte Schauspieler überrascht mich, wie so oft, mit seiner Belesenheit: „Der Philosoph Merleau-Ponty schreibt einmal, dass es viele Welten gibt. Mit meiner Tochter z.B. blieb ich in Kontakt. Sie kam auch ab und zu und hat einige Tage neben mir im Schlafsack geschlafen.“ Die verlassene Welt – Familie, eigenes Haus, Schauspielberuf – blieb also teilweise verwoben mit dem offenen Horizont, der sich nun der ungesicherten Existenz darbot. „Ein Freiheitsgefühl habe ich dabei nicht empfunden. Eher das Gefühl, unter Wasser gedrückt zu werden. Aber dieses Gefühl, nach Luft zu ringen, hat in mir Kräfte freigesetzt. Ich war in meiner ganzen Obdachlosigkeit – und im Unterschied zu meinem früheren Leben – nie depressiv, sondern eher kraftvoll, kämpfen-wollend, auf der Suche nach neuen Wegen, mich selbst disziplinierend. Früher war ich manchmal so voller Trauer, dass ich keinen Ausweg sah. Und jetzt, als Obdachloser, war es merkwürdigerweise so, als ob ich verlorene Kräfte zurückgewann. Sogar eine Spielsucht habe ich überwunden, die mich lange gefangen hielt. Und ich habe meinen Glauben wiederentdeckt, oft das Vaterunser gebetet.“ Bleibt die Frage, wie er zurückgefunden hat in eine Welt, die wieder mehr war als eine Abkehr-von-der-Welt. „Paradoxerweise durch das, was mich ursprünglich verletzt hatte und mich mein altes Leben verlassen ließ: die Liebe. Die Liebe zu einem wahren Freund, zu meinen Kindern und Enkelkindern. Ich habe auf der Straße die verwandelnde Kraft der Liebe neu erfahren, die Liebe, von der das Evangelium spricht. Sie ist das Fundament, auf dem das Haus der Welt zu stehen kommt.“ Jan Roser SJ Jan Sjoerds SCHWERPUNKT 15 JESUITEN n SEPTEMBER 2018 n DIE WELT – UNSER HAUS © Margie/photocase.com

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