Jesuiten 2018-4

Mein persönliches „Memoriale“ „Ich war heute Abend im Stau. Im Auto hinter mir war der Fahrer sehr beschäftigt damit ein Selfie zu machen!“ Als mir eine Freundin das erzählte, sind wir beide in schallendes Gelächter ausgebrochen. Am selben Abend habe ich es in mein Tagebuch notiert. Diese Geschichte hat keine große spirituelle Tiefe. Und dennoch bin ich glücklich darüber, sie aufgeschrieben zu haben, ohne mir viele Fragen zu stellen. Wenn ich sie noch einmal lese, ist es so, als könnte ich die wortlos empfundene freundschaftliche Nähe jenes Moments noch einmal erleben. Ich kann sehen, wie Gott sich in dem, was klein und einfach ist, offenbart: in einem mitteilungsfreudigen Lachen und einem Augenblick geteilter Freude. Mein Tagebuch enthält nicht nur Worte und Situationen meines Alltags. Dort stehen auch Gebete und Gedanken, die spontan aus mir hervorsteigen. Oder Sätze, die ich gelesen und die etwas in mir bewegt haben. Nach den Treffen unserer Gebetsgruppe, Exerzitien oder Ausbildungstreffen halte ich oft eine Spur davon in meinem Tagebuch fest. Ich notiere die „Samenkörner“, die gesät wurden. Das ist eine Weise, ihnen eine Erde zu geben, wo sie wachsen können. Seit Längerem trägt mich der einmal notierte Satz: „Gott kann seine Gnade nur im gegenwärtigen Moment schenken, weder davor noch danach.“ Aber verhindert das Tagebuchschreiben nicht gerade, dass man den Moment selbst intensiv erlebt? Wenn man auf Reisen ist, kann man seine Zeit hinter dem Fotoapparat verbringen oder die Reise selbst erleben, ohne irgendeine Spur zurückzubehalten. Aber meines Erachtens ist die ideale Situation die, dass man zur Reise aufbricht und es „zufällig“ einen Fotografen in der Gruppe gibt, der genau die richtigen Fotos im richtigen Moment schießt. Einen Künstler, der sich darauf versteht, Freude, Hoffnung, Zärtlichkeit, die unvorhergesehenen Ereignisse und die Magie der Begegnungen in Bildern festzuhalten. Ich vergleiche mein Leben gern mit einer inneren Reise. Wenn ich Tagebuch schreibe, dann werde ich auf eine gewisse Weise zu jenem Fotografen. Im Nachhinein die Fotos anzuschauen hilft mir, die Reise noch mehr auszukosten, und es leitet mich auch in der Folgezeit. Wenn ich dagegen nichts finde, um es in mein Tagebuch zu schreiben, dann war ich vielleicht zu „beschäftigt“. Am nächsten Tag werde ich aufmerksamer sein. Das Schreiben hilft mir also, den gegenwärtigen Augenblick intensiver zu leben. Dann, wenn man das Leben voll und ganz lebt, sind auch die Fotos am buntesten. Wendy Wagemans 18 SCHWERPUNKT JESUITEN n DEZEMBER 2018 n DAS CHARISMA DES PETER FABER © FemmeCurieuse/photocase.com

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