Jesuiten 2019-1

verschärfenden Konflikt mit der Weltzeit. Was als „midlife crisis“ beschrieben wird, setzt das Innewerden der ablaufenden Lebenszeit voraus. Melancholie ist nicht die einzige Reaktion auf diese Zumutung der vergehenden Zeit. Die Jahre der Erkenntnis fallen für viele zusammen mit den Jahren des beruflichen Aufstiegs. Zwischen 30 und 60 übernehmen wir schrittweise mehr Verantwortung, entscheiden mehr. Erfahrungswachstum und Lebenszeitverknappung können sich an einem sehr spezifischen Punkt überkreuzen, der eine „Versuchung des mittleren Lebensalters“ markiert. Ich spreche von der Ungeduld. Jenseits der 30 sehen wir die Dinge nicht mehr zum ersten Mal; wir haben in verschiedener Hinsicht unsere Position gefunden und sind in ihr gefestigt – äußerlich wie innerlich. Was in jüngeren Jahren eine Tugend ist – das unbekümmerte Staunen, die Offenheit für alles, was neu ist – können wir uns aus guten Gründen nicht mehr in demselben Ausmaß leisten. Es wäre fahrlässig, nicht aus vergangenen Erfahrungen zu lernen und jede Situation so zu erleben, als sei sie zum ersten Mal da. Aber dieser Zugewinn an Wissen, an innerer Festigkeit geht einher mit der Ungeduld gegenüber denen, die es noch nicht so gut wissen; die unsere Schlüsse noch nicht gezogen haben; die noch in den inneren Provinzen stecken, denen wir stolz entwachsen zu sein meinen. Und deshalb werden wir ungeduldig mit denen, die langsamer sind, die unseren Vorsprung an Erfahrung nicht eingeholt haben - vermeintlich jedenfalls. Und gerade in einer Lebensphase, in der die Reichweite eigener Verantwortung eher steigt, kann das in einer Ungeduld denjenigen gegenüber resultieren, für die man Verantwortung trägt: der Ärztin mit ihren Patienten; der Lehrerin mit ihren Schülern; der Vorgesetzten mit ihren Mitarbeitern. Auch die Idee (und häufig genug: Erwartung der Anderen) es wissen zu müssen, kann in dieser Phase des Lebens dazu führen, eher schnell als langsam zu entscheiden. Und diese Ungeduld der mittleren Jahre lässt uns schlechter hören, seltener lernen, häufiger Recht haben. Es gibt eine zweite Versuchung dieses Lebensalters – es ist die der Komplizenschaft mit den Verhältnissen. Auch sie hat zu tun mit den schrumpfenden Zeithorizonten (und wird vielleicht erst gegen Ende der Phase einsetzen, also näher an 60 als an 30). Wenn man einsieht, dass die Dinge innerhalb der eigenen Lebensspanne nicht mehr grundsätzlich umgekrempelt, revolutioniert, verbessert werden können, so wächst die Tendenz sich mit ihnen zu arrangieren – vor allem, wenn man nicht Opfer dieser Verhältnisse gewesen ist, sondern von ihnen profitiert hat. So überkreuzen sich zwischen 30 und 60 zwei Versuchungen zu einem eigentümlichen Chiasmus: Geduld mit den Verhältnissen und Ungeduld mit den Mitmenschen. Wer diesen Versuchungen entgehen will, könnte sich an der Spiegelung dieses Chiasmus orientieren. Thorsten Wilhelmy

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