Jesuiten 2019-3

Grenzfragen der Psychologie Für mich ist eine brennende Frage: Was macht uns Menschen als Menschen aus? Haben wir eine Seele oder sind wir letztlich rein körperliche Wesen? Wörtlich bedeutet Psychologie zwar „Lehre von der Seele“, aber in all den Jahren des Studiums der Psychologie habe ich nie etwas über die Seele gehört. Die Psychologie sucht nach den Ursachen und Bedingungen unseres Erlebens und Verhaltens. Ist es möglich, Empfinden, Fühlen, Denken, Wollen, Verhalten, Handeln und Erinnern naturwissenschaftlich zu erklären? Können wir frei entscheiden, oder bestimmen Vorgänge im Gehirn unser Handeln? Manche Hirnforscher behaupten, Willensfreiheit sei eine Illusion. Bevor uns etwas bewusst wird, habe unser Gehirn bereits entschieden. Wir sind die Letzten, die mitbekommen, was unser Gehirn vorhat. Mit solchen Aussagen schreiben sie dem Gehirn Eigenschaften zu, die nur der Person als ganzer zukommen. Personen entscheiden und handeln, nicht ihre Gehirne. Interessant finde ich die Rolle der Gefühle bei Entscheidungen. Gefühle sind der kostbarste Teil dessen, was Menschen seit Jahrtausenden mit der Seele verbinden. Ohne Gefühle können wir keine wichtigen Entscheidungen treffen, wie einen Beruf ergreifen, ein Studienfach wählen oder uns an einen Lebenspartner binden. Wenn eine Möglichkeit sich genauso anfühlt wie jede andere, dann ist eine Entscheidung nicht mehr als das Werfen einer Münze. Gefühle bilden die Grundlage unserer persönlichen Bewertungen. Hirnforscher sagen uns seit langem, dass das Gehirn unser Bewusstsein erzeugt und dass der Tod des Gehirns auch das Ende des Bewusstseins ist. Bedeutet der Tod tatsächlich das definitive Ende unseres Lebens und Erlebens, oder gibt es ein Leben jenseits der Todesgrenze? Die Beziehung zwischen Körper und Geist, zwischen Leib und Seele, bleibt weiterhin rätselhaft. Kein Hirnforscher kann uns sagen, wie aus Gehirnprozessen bewusstes Erleben entsteht. Selbst ein noch so vollständiges Wissen über das Gehirn einer Person würde uns nichts darüber verraten, wie es für die betreffende Person ist, sie selbst zu sein. Meiner Meinung nach ist es wichtig, sich mit dem Thema Seele zu befassen, um den Menschen in seiner Ganzheit nicht aus dem Blick zu verlieren. Seele steht für die Lebendigkeit, Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit des Menschen sowie für seine Ahnung von etwas Übernatürlichem oder Göttlichem. Seele ist das, was der Körper eines Toten nicht mehr besitzt. Ich kenne keinen geeigneteren Ausdruck für das, was den Menschen im Grunde ausmacht, als das Wort Seele. Hans Goller SJ 9 JESUITEN n SEPTEMBER 2019 n WISSENSCHAFTLER

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