Jesuiten 2019-3

Immer auf dem Weg: Geschichtswissenschaft Ich war in der 5. Klasse der Volksschule, 11-jährig; mein Banknachbar kritzelte auf ein Übungsblatt ein Strichmännchen, das gebeugt am Pult saß. Das bist Du, 80-jährig, immer noch dabei, alle erdenklichen Studiengänge zu durchlaufen. Seit 2015 bin ich nun Dozent für mittelalterliche Geschichte an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Einst hatte ich Theologie studiert, mich dann der Geschichte zugewandt, Freude gefunden am Mittelalter und am Lesen seiner Quellen. Meine Aufmerksamkeit galt besonders dem Kloster St. Gallen mit seiner einzigartigen Dokumentation aus dem Frühmittelalter. Eigentlich wollte ich diesem Schwerpunkt treu bleiben, aber als Jesuit begann ich, mich in die Geschichte der Gesellschaft Jesu einzuarbeiten. Vor meiner Ankunft in Rom wiederum beschied mir der Dekan, dass ich im Mittelalter gebraucht werde. Es ging also an meine Ursprünge zurück! Ich sah wieder die frühmittelalterlichen Manuskripte St. Gallens vor mir, den Klosterplan, die Urkunden und die verschiedenen Symbole. In der Aula sitzen rund 70 Studenten vor mir, die nach einem abgeschlossenen Theologiestudium eine dreijährige Vertiefung in Geschichte machen. Sie kommen aus allen Erdteilen, immer mehr aber aus der südlichen Hemisphäre. Bisher beschäftigte ich mich vorwiegend mit dem iroschottischen Mönchtum, den Karolingern, der Reichskirche und klösterlichen Schreibstuben. Jetzt aber lehre ich in Italien, das von der arabischen Expansion, den Langobarden, Byzanz und den Normannen geprägt ist. Dieses Mittelalter nahm ich bisher nur unzureichend wahr. Es unterscheidet sich nicht nur in einzelnen Fakten und den sozialen Bedingungen von Zentraleuropa, vielmehr gestalten sich auch dessen Quellenlage und die methodische Herangehensweise völlig anders. So wird beispielsweise von deutschen Mediävisten der Einfluss der Karolinger mit dem Hauptsitz in Aachen betont; während ihre italienischen Kollegen behaupten, dass die Reichseinheit der Karolinger auf einige Pfalzen und Reichsklöster beschränkt blieb, während die gesellschaftliche Realität sich in den verschiedenen Regionen ganz unterschiedlich gestaltete. Ich muss mich also mit einer für mich neuen Mediävistik auseinandersetzen und bin damit nicht nur Dozent, sondern auch Schüler geworden. Und das ist für einen lebendigen und reflektierten Unterricht auch ganz gut so. In meinen Vorlesungen muss ich den Studenten vor allem vermitteln, dass das rein europäische Mittelalter für alle Ortskirchen Relevanz besitzt. Entsprechend muss ich die Missionierung, die Wahr2 SCHWERPUNKT JESUITEN n SEPTEMBER 2019 n WISSENSCHAFTLER

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