Jesuiten 2019-4

Gott am Rockzipfel zerren Schon immer hatte für mich der Morgen eine besondere Qualität. Noch bevor die Stadt so richtig erwacht ist und bevor mein Geist vom Vielerlei der Eindrücke, Gedanken, Ansprüche und Tätigkeiten gefüllt wird, sind die Morgenstunden für mich ein wichtiger Moment der Ausrichtung. Dafür verwende ich seit einigen Jahren den Ausdruck: „heilige Zeit“. Die konkrete Gestaltung dieser Zeit entwickelt sich und variiert etwas, aber im Grunde hat sich für mich ein Dreischritt aus Gebet, Lesen und Schreiben herausgebildet – und dafür nehme ich mir in aller Regel jeweils eine halbe Stunde. Ich brauche diese Verankerung im Wesentlichen, die im Prinzip unabhängig von der aktuellen äußeren Situation ist. Darum ist diese Zeit heilig. Im Gebet geschieht die wesentliche Ausrichtung auf Gott, im Herzensgebet oder im Hören und Schauen auf das Wort Gottes. Mein ganzes Leben, die Fürbitte für andere und für die Welt haben darin ihren Platz. Das Lesen, eine Art lectio continua, lässt mich für längere Zeit an einem Thema dranbleiben, das mich geistlich bewegt. Wenn eine ruhige Lesezeit am Morgen gesichert ist, bekomme ich genug geistliche Nahrung für den Tag und bin auch nach wenigen Wochen mit einem Buch durch, ohne hetzen zu müssen. Schließlich kommt das Schreiben in mein Tagebuch: ein paar Notizen zu Gebet und Lektüre und ein „Einsammeln der Früchte“ des Vortages. Ohne dass ich es planen würde, kommt es dann hin und wieder vor, dass auch ein Gedicht entsteht. Aus dem, was mir noch nachgeht, was vom Vortag über die Nacht heranreifen konnte oder was plötzlich als Frage da ist. Ich erlebe dabei oft das Schreiben selbst als Form des Gebets: Wort für Wort entsteht, sie kommen mir zu, sind Ausdruck, Mittel und Ziel einer Sehnsucht, sind Geschenk. Häufig gibt es ein Du, das ich anspreche – mich selbst, jemand anderen, Gott. Nicht selten ist dann plötzlich ein Friede da, der sich bis weit in den Tag hineinzieht: Ich durfte am Rockzipfel Gottes zerren – und weiß zumindest für jetzt, wer ich bin. Die „heilige Zeit“ bleibt nicht unumkämpft, es gibt immer Wichtigkeiten, die auch diese Zeit in Beschlag nehmen wollen. Manchmal schaffen sie es auch. Das Schreiben wird dann als Erstes weggekürzt. Doch letztlich fehlt etwas, wenn es dieses Suchen nach einer unvollkommenen, aber ureigenen Stimme über längere Zeit nicht gibt. Es fällt mir dann auch zunehmend schwerer, die Stimme der anderen zu hören und wahr sein zu lassen. Fabian Moos SJ 8 SCHWERPUNKT JESUITEN n DEZEMBER 2019 n THEO:POESIE © willma photocase.com

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