Jesuiten 2020-3

18 SCHWERPUNKT JESUITEN n SEPTEMBER 2020 n APOKALYPSE Der Platz zwischen den Stühlen Stell dir vor, die Wissenschaft erklärt der ganzen Welt die drohende Klimakrise, und keiner hört hin. Dann kommt Greta Thunberg und die Mächtigen zittern ob ihrer Drohungen und Prophezeiungen. Ist das nicht frustrierend? Nein, ist es nicht. Denn ohne die Wissenschaft wäre ihr Protest ins Leere gelaufen. Greta Thunberg und mit ihr die „Fridays For Future“-Bewegung (FFF) pocht darauf, dass die Politik der Wissenschaft zuhört. Es ist erstaunlich, wie sehr sich Greta Thunberg und die Aktivist*innen von FFF bemühen, die wissenschaftliche Faktenlage zu verstehen und in die Debatte einzubringen. Ich war beeindruckt, wie genau Greta zugehört hat, als sie uns am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) besucht hat. So ist das eben: Ein Funke zündet das Feuer an, ein Tropfen bringt das Fass zum Überlaufen, ein Tweet wird zu einem Sturm. Ja, FFF ist eine prophetische Bewegung, die von den Königen eine Änderung des Kurses einklagt – laut vernehmbar und mit großem medialem Geschick. Das hat viele Menschen mobilisiert und manche verärgert. Diese prophetische Bewegung prallt auf eine Politik, der es um das Machbare geht, um das Maß, die Mitte und den Kompromiss. Dabei ist es keineswegs so, als hätte die Politik weggehört, wenn es um die Fragen des Klimawandels geht. Auch Bundeskanzlerin Merkel war 2019 zu Gast am PIK und hat sich zwei Stunden lang mit den Folgen des Klimawandels und den Lösungsstrategien auseinandergesetzt. Diesem Besuch verdanken wir maßgeblich, dass Deutschland im vergangenen Jahr sichtbare Fortschritte in der Klimapolitik, vor allem bei der Bepreisung von CO2, gemacht hat. In dieser Auseinandersetzung sitze ich zwischen den Stühlen: Ich will das Notwendige machbar machen. Ich sehe die Dringlichkeit des Problems und weiß doch, dass der Weg zum Ziel lange und steil ist, dass er eine gute Vorbereitung und eine passende Ausrüstung benötigt. Wenn die zwei Stühle, zwischen denen ich sitze, weggezogen werden, gibt es für mich keinen Platz mehr zum Sitzen. Dennoch ist mein Platz als Wissenschaftler zwischen diesen Stühlen: Ich nehme es in Kauf, dass ich den einen zu wenig radikal bin und den anderen als Spielverderber gelte, wenn ich zwischen guten und schlechten Kompromissen unterscheide. Wenn der König versteht, dass das Machbare nicht mehr gut genug ist und der Prophet begreift, dass das Notwendige nicht nur gefordert, sondern auch getan werden muss, können sich Gesellschaften erneuern, reformieren. Da kann es helfen, wenn einer zwischen den Stühlen mit beiden sprechen kann, auch dann, wenn beide glauben, es habe keinen Sinn mehr zuzuhören. Ottmar Edenhofer © Kemai photocase.com

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