Jesuiten 2020-4

Von außen angesprochen – innerlich ergriffen. Zur Eigenart der Koranrezitation Wenn es feierlich sein soll, dann darf eine Koranrezitation nicht fehlen. So habe ich es häufig bei muslimischen Bekannten erlebt: Durchaus nicht nur im liturgischen Gebet, sondern auch bei privaten Feiern wie bei der Hochzeit, bei der Trauer oder anlässlich der Geburt eines Kindes wird aus dem Koran rezitiert. Das ist festliche Dekoration, aber auch mehr – es ist die eigentliche Form, in der der Koran gegenwärtig ist. Der Koran ist kein Lesebuch: Das Buch aufzuschlagen und einfach eine Passage vorzulesen, wie Christ*innen es mit der Bibel tun, ist für Muslime eher unvertraut. Das passt übrigens auch gut zum literarischen Genre des Textes, denn der Koran ist anders als die Bibel wenig erzählend. Kurz: Gehört werden wollen beide, aber doch auf unterschiedliche Art. Die Rezitation ist, schaut man näher hin, ein ziemlich originelles Hörgeschehen. Zum einen ist ganz klar, dass es sich nicht um die eigenen Worte der Rezitierenden handelt: Der Text muss wortgetreu wiedergegeben, die grammatischen Formen müssen genau beachtet werden. Auch der Vortrag ist alles andere als Ausdruck spontaner Kreativität oder subjektiver Stimmungen. Die Rezitation ist eine eigene Kunst, taǧwīd genannt, die genauen Regeln folgt. Gelernt müssen nicht nur die Melodieführung, sondern vor allem die genaue, kunstvolle Artikulation, die Längen von Konsonanten und Vokalen und die Pausen, die den Rhythmus ausmachen. Zum anderen aber ist die Rezitation auch keine mechanische Wiederholung von Auswendiggelernten. Die Rezitation ist eine einmalige Aufführung, die Modulationen und der Rhythmus ergeben sich jeweils neu. Deshalb genießen begabte Rezitatoren ein hohes Ansehen, die Stimme der berühmten ägyptische Sängerin Umm Kulṯūm war geschult an der Koranrezitation. Der – oder außerhalb salafistischer Kreise auch die – Vortragende ist dabei involviert und persönlich gefordert. Die Rezitation soll im Zustand äußerer und innerer Reinheit geschehen und oftmals ergreift die emotionale Präsenz des Korantextes auch die Rezitierenden selbst. Tränen sind kein Manko für starke Männer und Frauen, wenn es um Gottes Wort geht. So ist das Wort des Koran in der Rezitation zugleich ganz äußerlich, objektiv unverfügbar, und ganz innerlich, subjektiv ergreifend. Die Rezitation führt auf, immer neu, dass Gottes Wort einmalig ist, von außen dem Menschen zugesprochen wird und als solches von ihm gehört werden soll. Und wie höre ich nun als Christ eine Koranrezitation? Nachdem ich durchaus 8 SCHWERPUNKT JESUITEN n DEZEMBER 2020 n HÖREN © voyata iStock.com

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==