Jesuiten 2020-4

Anamnese und das zweite Hören Bereits im 1. Semester ihres Studiums konfrontiert man angehende Ärzte mit der essenziellen Grundlage des von ihnen angestrebten Berufes: vor der Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt und 70 % der Diagnose sind Anamnese. In der Beziehung zwischen Ärzt*in und Patient*in geht es also um das Gespräch, das mit der Erwartung an eine besondere Fähigkeit des ärztlichen Zuhörens verknüpft ist. Im öffentlichen Diskurs wird allerdings bezweifelt, ob Patient*innen heute wirklich gehört werden. Das Zeitfenster für ein Miteinander im Dialog scheint kleiner zu werden. Objektive Messwerte sollen die subjektive Bewertung des Gehörten ersetzen. Das kann soweit gehen, dass das Zuhören einfach an den Psychologen delegiert wird. Wie man es im Share-Holder-Value-getriebenen Kapitalismus gewohnt ist, wird das zeitaufwendige und mühevolle Zuhören „outgesourct“. Aber durch den Verlust des Zuhörens wird die Medizin selbst zum Krankheitsfall. Ich behandle als Arzt vor allem Menschen mit chronischem Schmerz. Die Weltgesundheitsorganisation definiert solchen Schmerz als „unangenehme Empfindung, die ihre ursprüngliche Warnfunktion verloren hat“. Der Schmerz als Symptom hat sich verselbständigt und erfasst alle Dimensionen der menschlichen Existenz. Wenn neben der biologischen auch die psychische und die soziale Domäne einbezogen sind, wird aus dem Symptom Schmerz ein Zustand des Leids. Eine erfolgreiche Therapie setzt die Fähigkeit des Arztes voraus, Schmerz und Leid gut zu unterscheiden. Gelingen kann dies nur in einem empathischen Duett aus zugewandten Fragen und offenem Zuhören. Aber auch die Fähigkeit des Zuhörens ist eine zweifache. So wird der Therapeut*in das von ihrem Gegenüber Gesagte hören und aktiv reflektieren. Um allerdings auf die Ebene des Leides gelangen zu können, muss sich die Ärzt*in während dieses Gesprächs in einem zeitgleich stattfindenden zweiten, inneren Dialog mit sich selbst befinden, um die Dimensionen seiner Patienten zu erspüren, die den höchsten Leidensdruck erzeugen: Sei es die durch die Schmerzproblematik hervorgerufene Krise in der Partnerschaft oder der schmerzbedingte Arbeitsplatzkonflikt. Dieser innere Dialog ist die Voraussetzung, um das vom Patienten während des Gesprächs entwickelte Selbstbild zu hinterfragen und einen Blick hinter die Kulisse eines Lebens zu ermöglichen. Hört die Ärzt*in ihre eigene innere Stimme, wird Schmerz und Leid gleichermaßen erfasst. Diese Fähigkeit des äußeren wie inneren Zuhörens macht gute Medizin aus. Claudius Gall SCHWERPUNKT 11 JESUITEN n DEZEMBER 2020 n HÖREN © xantuanx iStock.com

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