Jesuiten 2020-4

5 JESUITEN n DEZEMBER 2020 n HÖREN Die Ursünde gemäß dem Judentum besteht darin, an Götzen verfallen zu bleiben. Adam und Eva, die im Garten Eden vom verbotenen Baum der Erkenntnis essen, begehen für Juden nicht die Ursünde. In Gen 3 gibt es keinen Sündenfall. Nicht einmal eine Frucht fällt zu Boden. Der Mensch muss zu erkennen versuchen, auch wenn er sich dabei schuldig macht. Die Urschuld ereignet sich vielmehr in der Wüste, auf dem Weg der Erziehung, wenn die Israeliten das goldene Kalb verehren. (Ex 32) Gold und Glanz täuschen die Sinne. Der Mensch bleibt im Vordergründigen stecken. Er verdinglicht Gott, stößt nicht zum Lebendigen vor. Wie kann Schulung der Sinne gelingen? Schmecken, Riechen und Tasten sind die drei Nahsinne; für das Kleinkind sind sie ganz wichtig. Alles muss in den Mund genommen werden. Archaisch ist das Riechen. Wird der Mensch erwachsener, werden die Fernsinne zentraler, das Sehen und das Hören. Das Sehen eröffnet den Raum, bis hin zu den Sternen im All. Still verweilend, kann man etwas anschauen, ein Bild, eine Landschaft. Kontemplari heißt verdichtet sehen. Die platonische Tradition legt den Akzent auf die Schulung des Schauens: In der theoria das Wesen des Kosmos schauen; zur visio beatifica, zur glücklichen Schau, finden. Das Judentum geht von der schmerzhaften Erfahrung der Ungerechtigkeit aus. Es ist nicht in erster Linie auf das Jenseits ausgerichtet, wo der Mensch vielleicht ewig schaut wie im Paradies. Es wendet sich dem Diesseits zu. Juden wollen zuerst die Welt gestalten, sie zu mehr Freiheit führen. Die hebräische Tradition legt daher den Akzent aufs Hören. Dieses ist eng ans Gespräch und somit ans Zwischenmenschliche gebunden. Es eröffnet die Zeit. Jedes Wort ist einen Augenblick später wieder vergangen. Das Gehörte geht sofort in die Erinnerung ein. Und doch ereignet sich im Dialog wahre Begegnung. Wer spricht, bereichert den Anderen. Wer hört, lässt den Andern bei sich eintreten. Der Hörende nimmt seine Begrenztheit an. Er lässt sich etwas sagen. Er horcht und gehorcht. Gott ruft seinem Volk zu: „Hört und werdet ihr leben.“(Jes 55,3) Dia logos, durch das Wort, ist sein Programm. Auch der jüdische Wanderprediger aus Nazareth kann nicht anderes: „Wer Ohren hat, der höre!“ (Mk 4,9) Hören, Gespräch und Handeln sind miteinander verknüpft. Darin ist das Hören auf Gott, den Herrn der Geschichte, der Angelpunkt. Daher rezitierten Juden und Jüdinnen drei Mal täglich im Gebet: „Höre Israel, der Herr unser Gott, der Herr ist einer!“ (Dtn 6,4) Dem lebendigen Anderen Zeit schenken, damit er eintreten kann, geschieht in besonderer Weise am Schabbat. Er ist ein Ruhetag zum Feiern und Hören. Er ist ein Tempel in der Zeit, ein Tag, an dem Freiheit und Fülle des Lebens schon im Hier und Jetzt erfahrbar werden. Christian M. Rutishauser SJ

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