Jesuiten 2021-3

22 Prophetisch leben Am Doppelgebot der Liebe „hängen das ganze Gesetz und die Propheten“, sagt Jesus (Mt 22,40). Diese beiden Säulen der religiösen Tradition des jüdischen Volkes definiert Jesus damit neu. Die Auseinandersetzung mit dem „Gesetz“ geht weiter. Heute streiten wir über gewichtige Probleme der Kirchenstrukturen und des Kirchenrechts. Und die prophetische Seite? Oder bei der Taufe: Laut dem Gebet bei der Chrisamsalbung wird der Täufling hineingenommen in das dreifache Amt Christi, des Königs, Priesters und Propheten. Das allgemeine Priestertum und die Würde der Getauften und aller Menschen – also das „allgemeine Königtum“ – sind breit akzeptiert. Und das „allgemeine Prophet/in-Sein“ aller Getauften? Es geht sicher nicht darum, wer die besten Vorhersagen macht, wer etwa Wahlen gewinnt, wie sich die Pandemie entwickelt oder wie es mit der Kirche weitergeht,… Es geht auch nicht darum, im allgemeinen Meinungsstreit besonders profilierte Positionen zu vertreten oder mit anderen als Pressure-Group Themen zu setzen und voranzubringen. Biblisch sind die Propheten solche, die den Mund aufmachen, weil sie spüren, dass das Volk oder die Mächtigen oder die religiösen Autoritäten Gottes Willen nicht mehr suchen und nicht mehr aus der Nähe zu ihm leben. Sie reden gegen den Mainstream als Mahner gegen Oberflächlichkeit, gegen die Verführung durch Wohlstand und Macht, gegen Ungerechtigkeit und gegen Gottvergessenheit. Oder sie sind die Vermittler großer Hoffnungsbilder in Zeiten der Not oder des Exils. In der Regel sind es Einzelpersonen, die nicht begeistert in die ihnen von Gott gestellte Aufgabe hineingehen. Ihnen droht in der Regel Ärger wegen ihrer Botschaft. Aber es geht ihnen ja auch nicht darum, selber Recht mit der eigenen Meinung zu haben. Der Knackpunkt ist, dass sie gewiss sind, verstanden zu haben, was Gott von ihnen und in unserer Welt will und sich dann gesandt wissen, dafür einzutreten. In der Bibel findet dies für die besonders Berufenen oft in einem direkten Gespräch mit Gott statt, in dem Gott oft auch erst die Einwände des Propheten zerstreuen muss. Und als getaufter Mensch heute das „allgemeine Prophet-Sein“ zu leben: Was heißt das nun? Jede*r Getaufte ist grundsätzlich hineingenommen in diese Dynamik, auch wenn nicht jede*r öffentlich auftreten und für Gott und die Gerechtigkeit kämpfen muss. Entscheidend ist der zuletzt genannte Punkt: Wie verstehe ich, was Gott von mir will? Wo sehe ich seine Herausforderung an mich und unsere Welt in den Zeichen der Zeit? Und lasse ich mich dann, wenn auch vielleicht erst nach einer gewissen Überwindung, dazu herausfordern, mich aktiv dafür einzusetzen? Hilfreich sind die ignatianischen Grundprinzipien, wie Ignatius sie in den Exerzitien einzuüben hilft: das Bemühen, indifferent zu werden gegenüber allem, woran ich gerne mein Herz hänge; der nüchterne Blick auf die eigene Person, wie ich vor dem barmherzigen Gott stehe; die Unterscheidung der Geister, was in den vielen Stimmen der Welt wirklich vom guten Geist ist; die wachsende Bereitschaft, sich senden zu lassen in den guten Kampf. Wer ist heute ein Prophet, eine Prophetin? Sind Sie prophetisch? Bin ich es? © Anette Konrad - HPH Geistlicher Impuls

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