Jesuiten 2021-3

33 VORGESTELLT Was hilft, die Ursachen zu verstehen, und wie lässt sich eine Schutzkultur entwickeln? Mertes: Die Wahrheit. Die bittere Wahrheit in den eigenen Reihen sehen und anerkennen. Dann ist die Motivation da, wirklich verstehen zu wollen. Und daraus kommt dann der Kulturwandel. Ich habe in den letzten zehn Jahren in St. Blasien gelebt, in einer Kommunität, in der viele über 80 Jahre alt waren. Wenn es an die Frage kam, was war denn bei uns in St. Blasien los, verstummte das Gespräch. In gewisser Weise verändert das ja die gesamte Sicht auf die eigene Biografie. Es tut wahnsinnig weh, im Alter diese Sicht nochmal umzustellen. Was braucht es für diese gelingende Aufarbeitung? Mertes: Da unterscheide ich zwischen der persönlichen und der institutionellen Aufarbeitung. Es gibt bei ganz vielen Betroffenen, die in der Öffentlichkeit überhaupt nicht erscheinen wollen, aufgrund der individuellen Gespräche auch Versöhnung. Ich habe kürzlich einen Brief bekommen von einem ehemaligen Schüler, der sich nach sechs Jahren Gesprächen bei mir bedankte. Jetzt plötzlich seien seine Albträume weg. Zur institutionellen Aufarbeitung gehört das Thema Gerechtigkeit für die Opfer. Wir haben uns z.B. an die Entschädigungsregelung der Deutschen Bischofskonferenz angeschlossen. Das ist mal ein Ergebnis. Das finde ich gut. Dasselbe gilt auch für die Frage der Aufklärung. Dazu gehört eine die Persönlichkeitsschutzrechte sowohl der Betroffenen wie auch der beschuldigten Personen wahrenden Veröffentlichung. Da ist einiges geschehen, aber es kann noch einiges gemacht werden. Was müsste denn aus Ihrem Blickwinkel heraus noch geschehen? Mertes: Also mich würde eine historische Aufarbeitung interessieren. Ich rede mal fürs Canisius-Kolleg. Man müsste sich z.B. nochmal die Geschichte der Ostprovinz anschauen. Manche Mitbrüder waren nicht Täter, sondern ihrerseits Opfer von Übergriffigkeiten. In diesem Sinne fand ich das Modell der Aufarbeitung, das in Münster mit einem Kirchenhistoriker gelaufen ist, wirklich eine sehr hilfreiche Zusatzarbeit. Beyersdörfer: Ja, auch welche Narrative gab es damals? Eine historische Aufarbeitung kann auch helfen, unsere eigenen Einstellungen aktuell nochmal zu hinterfragen. Ist es denkbar, dass Betroffene in der Prävention eine wichtige Rolle spielen werden? Beyersdörfer: Es gibt Personen, die wollen Jesuiten nicht persönlich treffen. Aber ich kann mir vorstellen, dass es innerhalb des ignatianischen Kontextes Betroffene gibt, die bereit wären, ihre Geschichte vielleicht anonymisiert zu erzählen. Mertes: Nichts ist hilfreicher für die Prävention, als Betroffene sprechen zu lassen. Ich finde schon sehr bedenkenswert, ob wir nicht vielleicht nach zehn Jahren soweit sein könnten, dass wir die Stimme von Betroffenen unter Berücksichtigung ihrer Schutzinteressen integrieren. Leseempfehlung zum Thema: Klaus Mertes (2021), Den Kreislauf des Scheiterns durchbrechen. Damit die Aufarbeitung des Missbrauchs am Ende nicht wieder am Anfang steht, 1. Auflage, erschienen im Patmos Verlag. Das ausführliche Interview mit Frank Beyersdörfer und Klaus Mertes SJ finden Sie hier: Das Interview führte Pia Dyckmans

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