Jesuiten 2021-4

SCHWERPUNKT 9 Vom Flair des Erwachens Jetzt raus aus dem Bett, in kürzerer oder längerer Zeit fasst der Mensch da so etwas wie einen Beschluss, überwindet seine Trägheit oder folgt einer Gewohnheit. Das ist aber nicht die ganze Geschichte. Matthias Rugel SJ über den Zauber des Aufwachens. Manchmal hat das Aufwachen eine Melodie, manchmal eine Vorstellung von einer Sache, die heute passieren muss, manchmal fühle ich eine Not oder eine Vorfreude. Mir scheint, es gibt noch eine dritte Dimension, die ein Tor öffnet in eine andere Welt. Annie Dillard schreibt davon so: „Aufwachen ist wie eine Katze haben, der von der Mäusejagd auf den nackten Körper gesprungen ist, schnurrt, stinkt und ihre rosenförmigen Pfotenspuren hinterlässt." Solange man noch einfach Routinen abspult, etwa beim Waschen, nimmt sich die Phantasie des Geschehenen an. Aus den roten Pfotenspuren wird alles Rote: Rosen und Verletzungen. Alle Geschichten, die von Rot erzählen. Dillard schreibt: „Benommen wusch ich mich vor dem Spiegel, und mein verdrehter Sommerschlaf hing noch an mir wie Seetang. Was für ein Blut war das, und was für Rosen? Es hätte die Rose der Vereinigung sein können, das Blut des Mordes, oder die Rose der nackten Schönheit und das Blut einer unsagbaren Opferung oder Geburt. Das Zeichen an meinem Körper hätte ein Erkennungszeichen sein können oder ein Schandfleck, der Schlüssel zum Himmelreich oder ein Kainszeichen. Ich war mir nie sicher, während ich mich wusch und das Blut verlief, blaß wurde und schließlich verschwand, ob ich gereinigt oder das Blutzeichen des Passahfestes ausgelöscht hatte. Wir erwachen, wenn wir überhaupt je erwachen, umgeben vom Geheimnis, Todesraunen, Schönheit, Gewalt …" (Der freie Fall der Spottdrossel, S. 11) Beim Aufwachen liegt vor mir ein offenes Rätsel – und die Ahnung, worauf Leben und Geschichte hinauslaufen: Das Schöne, das oft mit Grauen gemischt ist. Wilde Aspekte von Sexualität und Aggression. Meine Hoffnung und Enttäuschung. Wie das Ganze zusammengehört. Warum ist diese Tür des Aufwachens so flüchtig wie Annie Dillards Kater? Warum schließt sie sich, wenn ich mir kaltes Wasser übers Gesicht laufen lasse und bewusst da bin? Warum beobachte ich nicht, wie dieser Ur-Eindruck meinen Tag bereichert? Hat er ihn jemals intensiviert? Es mag sein, es wäre mir heute zu viel gewesen, hätte ich diese Fülle des Morgens präsent behalten. Aber ich entdecke den Morgen wieder, wenn ich die großen Mythen höre, die mich ansprechen. Matthias Rugel SJ Er hat Mathematik und Theologie studiert und in Philosophie promoviert. Bevor er 2012 in den Orden eingetreten ist, hat er als Softwareentwickler in der Wirtschaft und als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Philosophie in München gearbeitet. Er ist derzeit als Referent am Heinrich Pesch Haus in Ludwigshafen tätig.

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