SCHWERPUNKT 10 Himmlische Klänge – menschliches (Orgel-)Spiel Die Orgel begleitet nicht nur den Gottesdienst, sondern ermöglicht musikalisch-geistliche Erfahrungen und ist unmittelbare Sprache der Verkündigung. Inwiefern, erklärt die Organistin Maryam Haiawi. Der Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher allegorisiert in seiner Musurgia universalis (Rom 1650) den Weltenbau durch eine gigantische Orgel. Gott ist der Orgelbauer und Organist der Welt. Für mich drückt sich in diesem frühneuzeitlichen Weltbild etwas Zentrales aus, das mein Musizieren an der Orgel im Gottesdienst und Konzert bestimmt. Die Königin der Instrumente, das komplexeste und kunstvollste Musikinstrument, steht für das Schöpfungswerk Gottes. Sie weist zugleich über sich selbst hinaus und gibt die Ahnung von etwas Größerem, von einer göttlichen Ordnung. Orgelspiel geschieht für mich daher aus einer Grundhaltung der Ehrfurcht und des Staunens über die Größe, Vielfältigkeit und Ausdruckskraft des Instruments heraus. Die liturgischen Funktionen und die spirituelle Bedeutung von Orgelmusik habe ich in meiner langjährigen Tätigkeit als Organistin erfahren dürfen. Unvergesslich bleibt mir ein Sonntagsgottesdienst an meinem Studienort Freiburg i. Br., den ich mit Widors berühmter Toccata aus der 5. Sinfonie beschloss. Sie war als Erbauung für die neue Woche gedacht, der erhabene Gestus der Musik hatte aber weitaus mehr bewirkt: Zwei Frauen eilten mir nach dem letzten verklungenen Ton mit den Worten entgegen: „Dieser Sonntag ist gerettet!“ In diesem Moment wurde mir klar, welche Verantwortung im Orgelspiel liegt, wenn es eine solch heilende und tröstende Wirkung haben kann. Eine andere Dimension der Orgelmusik schafft für mich die Improvisation: Mit ihr lässt sich spontan auf die Dynamik des Gottesdienstes reagieren, sie ist eine eigene, unmittelbare Sprache der Verkündigung. So sagte mir einmal ein Pastor nach dem Gottesdienst, er habe in meiner Orgelimprovisation nach seiner Predigt seine Predigtworte zum zweiten Mal gehört. Die Orgelmusik trägt wesentlich dazu bei, Liturgie in ihrer doppelten Ausrichtung zu verstehen und zu erfahren, als Selbstmitteilung und Offenbarung Gottes sowie als lobpreisende und dankende Antwort der Gemeinde. Meine tiefsten musikalisch-geistlichen Erfah- rungen habe ich mit Bachs Passacaglia ge- macht. In der Beständigkeit des würdevoll schreitenden Ostinato-Basses sehe ich das Fundament des Glaubens. Auf diesem festen Grund entfaltet sich in den Variationen der ReichtumdesLebens–vonspielerisch-leichten bis hin zu klagend-seufzenden Motiven. Der feierliche Ernst von Bachs Komposition vermag eine Vorahnung von Ewigkeit auszudrücken. Ich hoffe darauf, dass sie das Irdische überdauert und Teil der himmlischen Musik ist. © Linda Schwarz
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