Jesuiten 2022-1

Jesuiten Soundtrack meines Glaubens 2022-1

EDITORIAL 1 Liebe Leserin, lieber Leser, als Ignatius von Loyola die Gesellschaft Jesu gründete, hob sie sich in verschiedenen Punkten von den anderen Ordensgemeinschaften ab: Die Jesuiten trugen beispielsweise weder eine einheitliche Ordenstracht, noch sangen sie gemeinsam das Stunden- oder Chorgebet. „Jesuita non cantat – Jesuiten singen nicht“ heißt es wohl aus diesem Grund häufig, wenn es um Jesuiten und Musik geht. Dabei gehört auch für uns Jesuiten Musik auf vielfältige Weise zum persönlichen Leben und zum Leben der Kirche. Denn mit welchen Klängen wir uns umgeben, ist etwas sehr Persönliches und kann gleichzeitig Gemeinschaft stiften. Bei der Auswahl von Musikstücken spielen häufig Stimmungen oder Gefühle eine Rolle, die für die jeweilige Hörerin oder den Hörer mit der Musik verbunden sind. Musik kann Trost spenden gerade in Coronazeiten, aber auch Mittel sein, sich selbst auszudrücken und sich mit anderen zu verbinden. Unser Schwerpunkt zeugt davon und bietet ganz verschiedene und oft sehr persönliche Zugänge zum Soundtrack des Glaubens. Den Autorinnen und Autoren sei an dieser Stelle herzlich gedankt! Neben den Texten finden Sie auch einen passenden Song, zu hören auf unserer Spotify-Playlist (siehe unten). Eine Legende zu einem der berühmtesten Werke der Klaviermusik, der sogennanten „Goldberg-Variationen“ von Johann Sebastian Bach, geht darauf zurück, dass der Graf von Keyserlingk, der mit der Familie Bach befreundet war, Bach gebeten haben soll, für seinen Cembalisten Goldberg ein paar Musikstücke zu komponieren, die den Grafen während seiner schlaflosen Nächte aufmuntern könnten. Auch wenn Bach die Goldberg-Variationen tatsächlich aus ganz anderen Gründen komponiert haben sollte, so hält sich die Legende hartnäckig – vermutlich, weil sie so überzeugend klingt: (Diese) Musik vermag zu trösten. Sie kommt zu uns wie ein guter Freund oder eine gute Freundin, die uns ohne viele Worte kennt und weiß, was wir brauchen. Wir wünschen Ihnen eine anregende, vielleicht auch tröstende Lektüre und viel Freude beim Lauschen der Musik. Wir freuen uns, wenn auch Sie den Soundtrack Ihres Glaubens mit uns teilen! Dag Heinrichowski SJ Sebastian Maly SJ Unsere Playlist zum Heft.

SCHWERPUNKT 2 You’ll never walk alone Musik stiftet Gemeinschaft und aktuelle Forschungen bestätigen, was Augustinus schon wusste: Wer singt, betet doppelt. Sebastian Maly SJ ist diesem Thema nachgegangen und verrät seinen persönlichen Soundtrack des Glaubens. Champions League Halbfinal-Rückspiel in der Saison 2018/19. Der FC Barcelona hatte das Hinspiel in Barcelona gegen den FC Liverpool mit 3:0 gewonnen. Kaum möglich, dieses Ergebnis gegen eine Spitzenmannschaft zu drehen. Wie vor jedem Heimspiel stimmen die Fans des FC Liverpool ihre Hymne an: „You’ll never walk alone“. Nur vor dem Fernseher haut mich die Wucht des Gesangs schon um. Die „Reds“ mit ihrem Trainer Jürgen Klopp gewinnen das Rückspiel zuhause mit 4:0 und ein paar Wochen später den Pokal. Musik schweißt Menschen zusammen – ob in Fußballstadien oder Kathedralen. Manche Songs brennen sich in unser kollektives Gedächtnis ein. So kann man sich die Bilder vom Mauerfall kaum anschauen, ohne die Scorpions „Wind of Change“ singen zu hören. Und wer sich eine Dokumentation der Terroranschläge vom 11. September 2001 ansieht, wird dazu die Klänge von Enya’s „Only Time“ im Ohr haben. Ein Augenzeuge der Anschläge hatte ein Video mit einer Foto-Collage ins Internet geladen und als begleitende Musik dieses Lied ausgewählt. Wie wichtig das gemeinsame Singen für den eigenen Glauben ist, hat der eine oder die andere vielleicht schmerzlich in der letzten Zeit erlebt, als das Singen in den Kirchen verboten oder nur in sehr begrenzter Form möglich war. Das Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik in Frankfurt am Main hat vor einigen Jahren eine Online-Studie mit 1.600 Katholik*innen aus den deutschsprachigen Ländern Europas durchgeführt. Die Autor*innen der Studie wollten wissen, welche Bedeutung das gemeinschaftliche Singen im Gottesdienst für die spirituelle Erfahrung von Gottesdienstbesucher*innen hat. Man könnte auch sagen: Sie wollten überprüfen, ob sich das Wort von Augustinus empirisch nachweisen lässt: Wer singt, betet doppelt. Die Ergebnisse der Studie sind wohl für die meisten Singbegeisterten wenig überraschend. Das gemeinsame Singen stärkt nicht nur das Gemeinschaftsgefühl der Gläubigen untereinander, sondern vermittelt auch spirituelle Erfahrungen. Bemerkenswert ist allerdings, dass für diese Wirkungen ausschlaggebend ist, welche persönlichen Einstellungen zum Gottesdienst und zur Bedeutung von Musik im Gottesdienst schon vorher da gewesen sind. Mit anderen Worten: Wer bisher immer gerne im Gottesdienst gesungen hat, für den ist es auch leichter, sich im Gottesdienst immer wieder am gemeinsamen Singen zu erfreuen. Eine Folgerung aus dieser Beobachtung ist für die Autor*innen der Studie, dass in den Gemeinden und an den Kirchorten aktiv vermittelt werden sollte, dass Singen Gebet ist und damit eine hohe Bedeutung für die christliche Spiritualität hat. Dabei kann das Auswendiglernen von Liedern, am besten schon in der Kindheit, eine Rolle spielen. Im Englischen verwendet man für „Auswendiglernen“ den Ausdruck „to learn by heart“. Was ich auf solche Weise im Herzen bewahre, das trällere ich auch einfach mal vor mich hin. Es begleitet als Soundtrack mein Leben oder meinen Glauben – oder ich singe es im Chor mit anderen, mit denen ich teile, © Linda Schwarz

SCHWERPUNKT 3 wofür das Lied steht. Die Fans vom FC Liverpool würden diese Erfahrung mit Sicherheit bestätigen. Zum Soundtrack meines Glaubens gehört ein Stück der Pop-Musikerin P!nk. Sie hat vor inzwischen fast 20 Jahren in einem Lied gesungen: „If God is a DJ, life is a dancefloor, love is the rhythm, you are the music.“ Ich habe dieses Lied in der Interpretation meines Lieblings-Jazz-Musikers, Michael Wollny, während meines Noviziats kennengelernt. Es spricht für mich von der Begeisterung Gottes für die Klänge, die er mit allem Leben und auch uns Menschen beständig neu schafft, mischt, verbindet – und so die ganze Schöpfung zum Tanzen oder gemeinsamen Singen bringt. Sebastian Maly SJ ist seit 2017 Schulseelsorger am Canisius-Kolleg in Berlin. Vor seinem Ordenseintritt 2013 studierte er Philosophie und Theologie und arbeitete als Referent im Cusanuswerk, dem Begabtenförderungswerk der Katholischen Kirche in Deutschland.

SCHWERPUNKT 4 … damit mein Mund Dein Lob verkünde Von außen kann das monotone Rezitieren der immer gleichen Psalmen eintönig wirken. P. Benedikt gewährt uns Einblicke in sein Kloster und erschließt mit seiner persönlichen Perspektive eine vielschichtige Tradition. Es ist noch dunkel und kalt, wenn die ersten dumpfen Schritte durch die jahrhundertealten Gänge stapfen. Die Mitbrüder machen sich bereit zum ersten Chorgebet des Tages, die Vigil, die Nachtwache. Noch halb in den Träumen, der Schlaf hängt noch in den Lidern. „Jemand muss wachen, (…) um deine Ankunft zu melden, Herr, du kommst ja doch in der Nacht“, bezeugt es Silja Walter in ihrem Gedicht Kloster am Rande der Stadt. „Und jemand muss singen, Herr, wenn du kommst!“ So öffnet sich also der Mund nach der grossen Stille der Nachtruhe: Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund Dein Lob verkünde. Dreimal wiederholen und damit eintauchen in das morgendliche Ritual, das dem Tag und dem Leben seinen Rhythmus verleiht und mit diesen ersten Worten auch das Ziel und den Sinn aufzeigt: Gottes Lob. Es folgt das Invitatorium, die Einladung. Der Hl. Benedikt schreibt in seiner Regel, dass es „sehr langsam und gedehnt zu singen ist“ (Nr. 43,4), damit auch diejenigen, die nicht so leicht aus dem Bett kommen, trotzdem noch der Einladung folgen können. Es folgen verschiedene Psalmen, die mit einer Lesung aus theologischen oder biblischen Schriften beendet werden. Am Ende der Vigil steht unter der Woche das „Te decet laus“ und am Sonntag das „Te laudamus“. Zu Benedikts Zeiten waren noch mehr Psalmen vorgesehen, aber er ist auch in der Psalmenordnung des Stundengebets für bessere Vorschläge offen (vgl. Nr. 18,22). Die Psalmen werden zwischen den Mitbrüdern, die sich in zwei Gruppen auf die beiden Chorseiten verteilt haben, wechselseitig gebetet. Rezitiert – also als monotoner Sprechgesang – und nicht gesungen. So früh mag die Stimme noch nicht wirklich mitmachen. Eigentlich schade, denn gerade die Responsorien der Vigil, Antwortgesänge auf die Lesungen, gehören mitunter zum schönsten und ältesten Repertoire des Gregorianischen Chorals. So steht man also, noch halb in der Traumwelt und doch schon in das Lob Gottes hineingezogen, inmitten des dichten Klangs von Psalmversen, der einen umgibt. Man wird getragen und hinweggetragen von den Worten. Die Gedanken ziehen aus, zurück zu den Träumen der vergangenen Nacht und voraus zum Tageswerk. Das ist das grosse Geheimnis des Psalmengesangs: Es geht eben nicht darum, möglichst viele, heilige Worte aneinander zu reihen. Gott kennt sie ja bereits. Diese ritualisierten, rhythmisierten Gebete, egal ob rezitiert oder gesungen, sollen unsere Gedanken ausziehen lassen und trotzdem in Gottes Wort verankern. Es ist die ur-jüdisch-christliche Meditation und strebt letztlich nichts anderes an als die vielen anderen Meditationsmethoden. Nicht zuletzt deshalb, weil beim Psalmodieren auch die richtige Atmung eine zentrale Rolle spielt. Es sind unsere Gebetsmühlen, die kreisen und uns kreisen lassen. Beim Beten kehren die Gedanken immer wieder zurück zu den Psalmversen und plötz-

SCHWERPUNKT 5 lich entdeckt man wieder neu ein Wort oder einen Satz, der einen gerade in diesem Moment anspricht, herausfordert, tröstet. Und damit werden die Gedanken wieder hinweggetragen. Ständig ziehen sie aus und kehren zurück. Man könnte meinen, dass die immer selben Psalmen mit der Zeit langweilig werden, doch das Gegenteil ist der Fall: Wir dürfen sie immer wieder von Neuem entdecken, weil wir sie als immer neue Menschen mit veränderten Perspektiven betrachten. Die Dynamik der Stabilität. Die Vigil ist zu Ende, der Schlaf ist dem Lob gewichen, der Tag hat begonnen. Wir gehen hin zu unserem Tageswerk, tragen das Gebet mit uns hinaus. Die Vigil endet nicht mit einem Kreuzzeichen, denn wir werden während des Tages immer wieder zurückkehren. Das Lob Gottes endet nie, es zieht aus und kehrt immer wieder zurück. P. Benedikt Locher OSB geboren und aufgewachsen in Luzern, ist Mönch des Benediktinerklosters Engelberg. Neben dem Theologiestudium an der LMU München absolvierte er eine Ausbildung im Gregorianischen Choral bei Fr. Gregor Baumhof OSB. Zurzeit wirkt er als Priester in Basel, wo er auch im musikalischen Bereich tätig ist. © Linda Schwarz

SCHWERPUNKT 6

SCHWERPUNKT 7 Sich an den Strom anschließen In diesem Heft erzählen uns drei Personen von ihrem persönlichen Soundtrack des Glaubens. Franz Berzbach schöpft neue Energie in einem Song von Patti Smith. Sie wird als Mutter des Punks bezeichnet, einer Subkultur, deren Mitglieder nicht gerade als Kirchgänger bekannt sind; aber dennoch findet sich auf ihrem Album Easter (1978) ein Song über den 23. Psalm. Das irritiert alle, die Menschen gern in Schubladen einsortieren. Patti Smith hingegen ist so frei, dass sie sich weder vom schlichten Popkulturatheismus noch von politisch korrekten Sprachregelungen jemals hätte beeindrucken lassen. Ihr Konzept von Kreativität bleibt auf Tuchfühlung mit Gott, das kann man in ihren Büchern nachlesen; ihre Musik, wie wahrer Glaube, führen immer in die Freiheit. Diese Heilige des Rock'n'Roll ist für die da, die jede Art binäre Unterscheidung, jedes Entweder-Oder, ablehnen – Patti Smith ist ein permanentes Sowohl-Als auch. Und paradoxerweise macht genau das sie zu einem großen Ja, Ja. Es gibt Tage, da lässt sich die Melancholie nicht abwenden. Was erquickt die Seele? Seit Jahren nutze ich einen ihrer Songs, um wieder ans Licht zu kommen – Rock’n’Roll N*gg*r: Jimi Hendrix was a n*gg*r Jesus Christ and Grandma, too Jackson Pollock was a n*gg*r Sie sieht an Jesus, wie an Avantgarde-Künstlern, dass sie Außenseiter waren und vor allem zu den Außenseitern gingen. Schon das verbotene Wort im Titel hat verhindert, dass der Song jemals im Radio lief oder als Single ausgekoppelt wurde. Es geht ihr um die Menschen outside the society, es geht ihr um eine Heimat für Außenseiter. Die leiden an einer Welt, die voller falscher Konventionen und Gewalt, voller Rassismus und Verachtung existiert – und in die wir ungefragt mit unserer Geburt geworfen werden. Aber was machen wir daraus? Ein Blick auf diese Welt erzeugt in manchen Menschen ein kraftvolles „Nein“, eine Verweigerung gegen einen falschen Konsens. Werte gelten auch dann, wenn eine Mehrheit sie ablehnt. Outside of society, they're waitin' for me Outside of society, that's where I want to be Wer sich gegen den Mainstream richtet, der braucht Verbündete und mehr Kraft als andere. Manchmal verliere ich die Hoffnung, zu viele zu schlechte Meldungen prasseln auf mich ein. Ich muss mich dann wieder an den Strom anschließen, aus einer guten Quelle schöpfen und höre mir diesen Song an, der mir Liebe, Glaube und Hoffnung gibt. Er ist energetisch, er verleiht „heilige Wut“. Patti Smith hat nie aufgegeben, auch in den Jahren schwerer Schicksalsschläge nicht. Auch ich werde nicht aufgeben, weiterhin beten, und weiterhin ihren Gebeten zuhören. Frank Berzbach unterrichtet Literatur und Philosophie an der TH Köln. Er lebt auf St. Pauli und in Köln. Im September 2021 ist im Eichborn Verlag sein achtes Buch erschienen: „Die Kunst zu lesen“. © Linda Schwarz

SCHWERPUNKT 8 Ich bin Missionar, weil ich singe und tanze Auch wenn der Volksmund meint, Jesuiten würden nicht singen, spielten Musik und Theater in ihrer Art und Weise, den Glauben zu verkünden, eine besondere Rolle. Marc-Stephan Giese SJ über die Musiksprache der Jesuitenmissionare. Ein Jesuit sitzt auf einer Lichtung im Urwald und spielt ein sehnsuchtsvolles Motiv auf einer Oboe. Indigene kommen, einige fasziniert, andere verängstigt. Schließlich wagt sich einer von ihnen heran und nimmt dem Ordensmann die Oboe weg, pustet einmal hinein, zerbricht

SCHWERPUNKT 9 sie und wirft sie ins Wasser. Ein anderer fischt sie wieder heraus, gibt sie dem Jesuiten zurück und lädt ihn ein, mit ihm ins Dorf zu kommen. Diese Szene aus dem Film „The Mission“ spiegelt auf Hollywood-Art die Rolle der Musik in den sogenannten „Jesuitenreduktionen“ wider. Diese Missionssiedlungen, die sich im 17. und 18. Jahrhundert an der Grenze des spanischen Kolonialreiches in Südamerika befanden, waren ein Sonderfall der sonst schattenreichen Missionsgeschichte. Die Evangelisierung war zwar das Hauptziel dieser Unternehmungen, in denen Indigenas unterschiedlicher Stämme zusammenlebten, aber es wurde auch ein neues Gemeinwesen geschaffen, in dem die Musik eine wichtige Rolle spielte. An den vielen Festtagen versammelte sich das Dorf an der Kirche schon lange vor dem Morgengrauen. Begleitet von Geigen, Flöten und Trommeln wurden die Morgengebete gesungen. Später, nach der feierlichen Orchestermesse, fand die Prozession statt. Die Ecken des Hauptplatzes wurden mit Stationsaltären geschmückt, an denen die Prozession hielt, um durch Gesang und allegorische Tänze das Festgeschehen darzustellen. Einfach, aber wirksam wurden so die wichtigsten Formen der lokalen Gottesverehrung in den neuen christlichen Kult eingebunden – Musik und Tanz. Im letzten Jahrhundert fand man die Partituren der Musik der Reduktionen wieder und die Fachwelt staunte: Messen, Vespern, Kantaten, Motetten, aber auch weltliche Suiten allesamt eigens für die Reduktionen komponiert. Besonders die Werke eines Schweizer Jesuiten, Martin Schmid, verdienen Aufmerksamkeit. Von ihm haben wir auch einen umfangreichen Briefwechsel mit der Heimat, in dem er Sätze sagt wie: „Ich bin Missionar, weil ich singe, spiele und tanze“. Er hat einen schönen, leicht zu verstehenden Kompositionsstil, der dem empfindsamen Stil der Vorklassik gleicht. Er verlässt den Barockstil seiner Vorgänger, um auf die musikalische Empfindsamkeit der Indigenen einzugehen. Ein Beispiel: Im Psalm „Lobet den Herrn alle Völker“ vertont er den Text in einer Weise, dass die textliche und musikalische Hauptbetonung nicht wie üblich auf „Herr“ liegt, sondern auf dem kleinen Wörtchen „alle“. Damit ruft er seinen Musikern und allen Zuhörenden zu: „Ihr seid gemeint, alle Völker, dieser Psalm hat Euch im Sinn und endlich wird er hier Wirklichkeit“. Sicherlich waren auch Martin Schmid und die anderen Jesuiten in den Reduktionen Kinder ihrer Zeit, die Musik hat kaum Einflüsse aus den lokalen Musiktraditionen vorzuweisen. Die Evangelisierung war auch bei den Jesuiten des 17. Jahrhundert sehr stark mit einer Europäisierung verknüpft, aber hier und da finden sich doch Öffnungen, die das allgemeine Paradigma der Zeit hinterfragen und ein menschlicheres Antlitz der Mission erahnen lassen. Die Reste dieser Musik in den Traditionen der Indigenen heute und das Wiedererwachen des „Jesuitenbarocks“ in Bolivien und Paraguay in den letzten Jahrzehnten bezeugen, dass der Kulturwandel, den die Jesuiten eingeleitet haben, zu einem positiven Teil der Identität dieser Völker geworden ist. Noch immer kommen in einigen Reduktionen die Sänger vor dem Morgengrauen der Feste zusammen und singen und tanzen. Text und Musik sind kaum wiederzuerkennen, das indigene Erbe hat die europäische Musik überformt, aber ohne den von den Jesuiten eingeleiteten Kulturwandel wären wohl auch die lokalen Musiktraditionen in Vergessenheit geraten. Marc-Stephan Giese SJ ist Jesuit und Priester. Nach Stationen in der Jugendseelsorge in Deutschland und der Arbeit in der Gemeinde und beim JesuitenFlüchtlingsdienst in Schweden, arbeitet er seit 2019 in Amman (Jordanien) als Pfarrer der internationalen Gemeinde. © Linda Schwarz

SCHWERPUNKT 10 Himmlische Klänge – menschliches (Orgel-)Spiel Die Orgel begleitet nicht nur den Gottesdienst, sondern ermöglicht musikalisch-geistliche Erfahrungen und ist unmittelbare Sprache der Verkündigung. Inwiefern, erklärt die Organistin Maryam Haiawi. Der Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher allegorisiert in seiner Musurgia universalis (Rom 1650) den Weltenbau durch eine gigantische Orgel. Gott ist der Orgelbauer und Organist der Welt. Für mich drückt sich in diesem frühneuzeitlichen Weltbild etwas Zentrales aus, das mein Musizieren an der Orgel im Gottesdienst und Konzert bestimmt. Die Königin der Instrumente, das komplexeste und kunstvollste Musikinstrument, steht für das Schöpfungswerk Gottes. Sie weist zugleich über sich selbst hinaus und gibt die Ahnung von etwas Größerem, von einer göttlichen Ordnung. Orgelspiel geschieht für mich daher aus einer Grundhaltung der Ehrfurcht und des Staunens über die Größe, Vielfältigkeit und Ausdruckskraft des Instruments heraus. Die liturgischen Funktionen und die spirituelle Bedeutung von Orgelmusik habe ich in meiner langjährigen Tätigkeit als Organistin erfahren dürfen. Unvergesslich bleibt mir ein Sonntagsgottesdienst an meinem Studienort Freiburg i. Br., den ich mit Widors berühmter Toccata aus der 5. Sinfonie beschloss. Sie war als Erbauung für die neue Woche gedacht, der erhabene Gestus der Musik hatte aber weitaus mehr bewirkt: Zwei Frauen eilten mir nach dem letzten verklungenen Ton mit den Worten entgegen: „Dieser Sonntag ist gerettet!“ In diesem Moment wurde mir klar, welche Verantwortung im Orgelspiel liegt, wenn es eine solch heilende und tröstende Wirkung haben kann. Eine andere Dimension der Orgelmusik schafft für mich die Improvisation: Mit ihr lässt sich spontan auf die Dynamik des Gottesdienstes reagieren, sie ist eine eigene, unmittelbare Sprache der Verkündigung. So sagte mir einmal ein Pastor nach dem Gottesdienst, er habe in meiner Orgelimprovisation nach seiner Predigt seine Predigtworte zum zweiten Mal gehört. Die Orgelmusik trägt wesentlich dazu bei, Liturgie in ihrer doppelten Ausrichtung zu verstehen und zu erfahren, als Selbstmitteilung und Offenbarung Gottes sowie als lobpreisende und dankende Antwort der Gemeinde. Meine tiefsten musikalisch-geistlichen Erfah- rungen habe ich mit Bachs Passacaglia ge- macht. In der Beständigkeit des würdevoll schreitenden Ostinato-Basses sehe ich das Fundament des Glaubens. Auf diesem festen Grund entfaltet sich in den Variationen der ReichtumdesLebens–vonspielerisch-leichten bis hin zu klagend-seufzenden Motiven. Der feierliche Ernst von Bachs Komposition vermag eine Vorahnung von Ewigkeit auszudrücken. Ich hoffe darauf, dass sie das Irdische überdauert und Teil der himmlischen Musik ist. © Linda Schwarz

SCHWERPUNKT 11 Maryam Haiawi studierte Kirchenmusik, Konzertfach Orgel und Klavier. Sie promovierte im Fach Musikwissenschaft zu interkonfessionellem Austausch von Oratorien im 18. Jahrhundert. Als Konzertorganistin ist sie in ganz Europa unterwegs. Derzeit ist sie Kantorin an der ev.-luth. Hauptkirche St. Trinitatis in Hamburg-Altona und wissenschaftliche Mitarbeiterin eines DFGForschungsprojekts zur Musik der Engel in der Frühen Neuzeit an der Universität Hamburg.

SCHWERPUNKT 12 Beim Singen Gott auf der Spur Übung und Vertrauen: Die Beziehung zu Gott, aber auch das Singen im Chor spielt sich für Raphaela Düchs zwischen diesen beiden Polen ab. Ein gelungener Auftritt unseres Chores beglückt mich zutiefst. Damit meine ich nicht die Freude am Erfolg und am Applaus, den ich eher als unsanfte Erdung empfinde. Eins mit mir und der Welt bin ich während des Werdens der Musik. Das ist für mich auch eine spirituelle Erfahrung, ich würde sogar sagen: eine Gotteserfahrung. Mir kommt der Satz von Ignatius von Loyola in den Sinn: „Vertraue so auf Gott, als ob der Erfolg der Dinge ganz von dir, nicht von Gott abhinge; wende dennoch dabei alle Mühe so an, als ob du nichts, Gott allein alles tun werde.“ Die Forderungen nach Vertrauen und TätigWerden sind hier scheinbar widersprüchlich verschränkt. Zwischen beiden Begriffen besteht eine Spannung. Aber schon für sich genommen ist jeder der Pole ambivalent: Vertrauen kann befreien oder zur Passivität verführen. TätigWerden kann Großes entstehen lassen oder blind machen für Gott und die Umwelt. Doch so wie Ignatius beide Pole auf Gott bezieht und miteinander verschränkt, wird aus der Spannung ein aufgespannter Horizont – ein Raum, in dem ich wachsen und mich orientieren kann. Das schreibt sich leicht, aber wie lebt sich das? Gerne würde ich Gott blind vertrauen. Gerne würde ich durch meine Leistung glänzen. Stattdessen kämpfe ich mich täglich durch Klein- Klein, das wenig mit vertrauensvoll-tätiger Arbeit am Himmelreich zu tun zu haben scheint. Schon hier hilft mir der Vergleich mit dem Chor: Auch in den Proben ist es eher Müh' als Seligkeit, wenn Töne gelernt, Wortabsprachen festgelegt, an Intonationen gefeilt oder Stimmen in Akkorden gewichtet werden. Ohne Detailarbeit kann sich das große Ganze nicht ergeben. Doch im Vertrauen auf das Werden des Ganzen macht auch das mühsame Proben Freude. Aber mehr noch: Akribisches Proben genügt nicht. Wenn ich mich von der Musik ergreifen lasse, spüre ich, wie die genannten Pole von eigener Aktivität und vertrauender Hingabe verschränkt bleiben müssen, damit aus ihrer Spannung berührende Musik werden kann: Ich muss singen, als hinge alles von mir alleine ab, mit all meiner Konzentration, all meiner Empfindsamkeit, all meiner physischen Kraft und allem Mut – gleichzeitig muss ich singen, als wäre ich ein Instrument, das sich voll Vertrauen von der Dirigentin, den Mitsängern, dem Publikum, der Atmosphäre des Augenblicks spielen lässt. Es braucht die spannungsvolle Verschränktheit zwischen Vertrauen und Mühen, das spannende Wechselspiel zwischen Lassen und Tun. Wenn ich spüre, dass diese Spannung gehalten wird, fühle ich mich Gott auf der Spur – beim Singen und auch im Leben. Raphaela Düchs geboren 1974 in München, ist verheiratet und hat vier Töchter. Seit ihrer Schulzeit singt sie in verschiedenen Chören, seit zehn Jahren in der Kantorei der Kreuzkirche Bonn.

SCHWERPUNKT 13 Gott auf der Bühne preisen Worship hält auch in katholischen Kreisen Einzug. Für Christian Heidenbauer geht es dabei vor allem um die Begegnung mit Gott und weniger um die Show. Das Fest der Jugend in Salzburg oder die MEHR–Konferenz sind in den letzten Jahren zu den größten christlichen Events im deutschsprachigen Raum avanciert. Als Musiker habe ich die Entwicklung dieser Veranstaltungen von der Bühne aus mitverfolgt und jahrelang aktiv mitgestaltet. Charismatischer Lobpreis oder „Worship“ spielt dort eine zentrale Rolle, denn die gemeinschaftliche Anbetung findet im Lobgesang einen signifikanten Höhepunkt: Das versammelte Volk Gottes vereint sich mit einer Stimme. Eine selbstbewusste Inszenierung und Anleitung ist Voraussetzung, damit Tausende von Menschen im Lobpreis vereint singen können. Das Ziel und Ideal ist die persönliche und gemeinschaftliche Anbetung Gottes. Das ist keine leichte Aufgabe für eine Lobpreisleiterin oder einen Lobpreismusiker. Einerseits steht man auf der Bühne selbst im Mittelpunkt, um das Volk in eine bestimmte Richtung zu leiten, und andererseits geht es einzig darum, auf Gott zu verweisen und ihn wirken zu lassen. Ein inniges und verborgenes Leben in Gott führt in der Regel automatisch dazu, dass eine Gebetszeit nicht zur Show wird. Das gilt meiner Meinung nach sowohl für jene, die im Rampenlicht stehen, als auch für jene, die nicht auf der Bühne stehen. Worship hält inzwischen auch in katholischen Kreisen mehr und mehr Einzug. In Gebetskreisen ist charismatischer Lobpreis nicht mehr wegzudenken. Auch eucharistische An- betung und Lobpreismusik finden in den sogenannten „Abenden der Barmherzigkeit“ zueinander. Worship ist zu einer weiteren signifikanten Facette von Liturgie geworden. Ob Worship laut oder leise, ob intim oder majestätisch ist – es geht im Wesentlichen um eine Begegnung, um ein Sich-Ausstrecken nach Gott. Charismatischer Lobpreis ist eine von unzähligen Formen, Gott anzubeten. Ein geistliches Leben gelingt auch wunderbar ganz ohne diese spezifische Gebetsform. Aber eine Haltung des Lobes Gott gegenüber ist meiner Meinung nach unverzichtbar. Der Soundtrack meines Glaubens ist unmittelbar mit dem Schaffen von Musik verwoben, wie eine geheimnisvolle Sprache ohne Worte. Spiritualität und Musik finden ganz natürlich zueinander und beides trifft mein Innerstes. Das ist der Ort, wo ich Gott persönlich „begegne“, in meinem Inneren, an den Orten der Wahrheit und Realität. Dort erklingen Liebeslieder, Loblieder, Klagelieder, Trauerlieder und dort gibt es Stille. Was mir hilft, diese inneren Orte zu berühren, sind die Menschen um mich, Gebet und ganz besonders Kunst und Natur. Christian Heidenbauer ist Künstler, Produzent und Worshipmusiker. Er studierte Gitarre an der Musikuniversität Wien. Sein Schaffen erstreckt sich auf christliche wie auch säkulare Bühnen vorwiegend im deutschsprachigen Raum. Er spielte zusammen mit Michael Patrick Kelly, Johannes Hartl, Albert Frey uvm.

SCHWERPUNKT 14 Open the door of your heart Drei Personen erzählen uns von ihrem persönlichen Soundtrackdes Glaubens. Josma Rodrigues kommt über das Singen und Schreiben von Liedern mit Gott in Berührung und erfährt Heilung. September 2020. Es war ,,Auszeitwochenende’’ in der Zukunftswerkstatt der Jesuiten in Frankfurt/Main während meiner Zeit dort als Langzeitmitbewohnerin. Da ich für die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes zuständig war, wollte ich zum Thema „das Herz für Gott öffnen“ ein Lied singen. Mir fiel allerdings kein Lied ein, das aus meiner Sicht gut zum Thema gepasst hätte. So kam mir die Idee, selbst ein Lied zu schreiben! Hinzu kam, dass mich kurz vor der stillen Zeit des Auszeitwochenendes ein schmerzhaftes Erlebnis aus der Vergangenheit einholte und ich das Gefühl bekam, mich zu verlieren. Ich hatte meine Fragen, meine Zweifel… und habe mich innerlich sehr allein gefühlt. Für mein neues Projekt bin ich in den Meditationsraum gegangen. Stille. Ich habe meinen Platz aufgesucht. Buch und Stift waren dabei. Und dann fiel mir dieser Satz ein – I see your pain. Und dann noch ein Satz – I see your doubts. Darauf noch ein Satz – I see your hurt. „Ja klar“, dachte ich! Wie oft trage ich meine Last allein, weil ich das Gefühl habe, das geht niemanden etwas an? Wie oft scheue ich mich davor, meine Verletzlichkeit zu zeigen? Wie oft trage ich seelische Wunden, weil ich nicht daran glaube, dass dort Heilung geschehen kann? Nach und nach wurde mir deutlich, in welche Richtung das Lied gehen würde. Gerade in Phasen der Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit brauche ich den Zuspruch Gottes, den Zu- spruch, dass ich geliebt bin auch in meiner Schwäche und Verletzlichkeit, dass ich in meinem Schmerz nicht verlassen bin, dass meine Wunden geheilt werden können, dass ich die Last nicht allein tragen muss, sondern sie ruhig in die Hände Jesu legen darf. Ihm ist es nicht egal! Den Zuspruch Gottes kann ich allerdings spüren, wenn ich mein Herz für ihn öffne, immer wieder. So habe ich den Refrain geschrieben, als ein sanfter Anstoß Gottes an mich, an uns: Open the door of your heart, let me just show you my love. Das frisch gestrickte Lied habe ich zur Kommunion während des Gottesdienstes gesungen. Und dann durfte ich es erfahren: Tränen auf den Gesichtern der Zuhörenden. Könnte es sein, dass durch das Lied manche Verspannungen vor dem liebenden Blick Gottes gelöst wurden? Das macht aus meiner Sicht die Kraft der Musik aus: Lieder rufen durch ihre Melodie und Texte Gefühle in uns hervor, die wir normalerweise nicht zugelassen hätten. Die Musik fungiert als ein Medium, das eine persönliche Begegnung zwischen Gott und der Seele ermöglicht. Beim Singen des Liedes durfte ich mich von Gott getragen fühlen. Mein Wunsch ist, dass das Lied auch beim Hören die Herzen der Menschen berührt. Josma Rodrigues 1993 in Indien geboren und im Oman aufgewachsen, ist 2015 für ein Master-Studium in Umwelttechnik nach Hamburg gekommen. Nach dem Abschluss entschied sie sich für ein Theologiestudium in Sankt Georgen. Auf ihrem YouTube-Kanal „Josma Rodrigues“ sind Lieder von ihr zu finden.

SCHWERPUNKT 15 Plattenhören als Hingabe Musikhören ist mehr als Berieselung – darum ist Stefan Weigand ein leidenschaftlicher Fan von Schallplatten. Kaum ein anderes Medium hat in den letzten Jahren eine solche Renaissance erlebt wie Schallplatten. Dabei spricht alles gegen sie. Naja, fast! Unhandlich, empfindlich, dazu auch schwer und manchmal auch ganz schön teuer: Schallplatten wirken neben einem Smartphone wie aus der Zeit gefallen. Noch dazu, wenn man bedenkt, dass wir in einer Zeit leben, in der wir fast unbegrenzten Zugriff auf Musikinhalte haben. Innerhalb von Sekunden liefern uns Streaming-Anbieter wie Spotify, Deezer oder Apple Music den Song, den wir gerade hören wollen. Das schafft kein Plattenspieler und nicht einmal der beste Plattenladen. Eigentlich könnte man das Medium Vinyl also getrost ins Museum verbannen – und die Plattensammlung zum Sperrmüll bringen. Aber ob das wirklich eine gute Idee ist? 4,2 Millionen Schallplatten wurden 2020 in Deutschland verkauft; vierzehn Mal mehr als im Jahr 2006, als die CD das Vinyl aus den Geschäften fast verbannt hatte. Außenstehende fragen bei manch vierstelligem Preisschild bei Plattenspielern zu Recht: Warum das alles? Ich bin selbst einer dieser Sammler und Hörer. Platten aus dem Jazz-Label ECM haben es mir angetan, aber eben auch Electro- und Indie-Musik. Meine Kinder rollen schon mit den Augen, wenn ein quadratisches Paket in der Post ist oder ich „noch schnell“ in einen Plattenladen springe. Klar, auch ich entdecke neue Musik über Streaming-Anbieter und höre bei unbekannten Künstlern oder empfohlenen Bands erstmal kurz rein. Aber das ist für mich nicht das Musikhören, das ich möchte. Denn zu verführerisch ist der Klick auf den Song oder das Sich-Treibenlassen auf Playlists, die Stücke von unterschiedlichen Künstlern zusammenstellen. Es ist so, als ob man zu jedem Lied gleich zu Beginn sagen würde: „Ich bin gerade auf dem Sprung, praktisch gar nicht da.“ Für mich aber ist Musikhören Hingabe. Ich gebe mich der Musik hin. Höre ein Album von Anfang bis zum Ende. Mit allem, was dazugehört: So kommen nicht nur Hits eines Werks vor, sondern eben auch die B-Seiten und Stücke, die nicht im Rampenlicht stehen. Das schützt mich selbst davor, Musikhören nur als Berieselung zu gestalten: Weil ich mir Offenheit für die Dinge bewahre, die nicht gleich erfahrbar sind. Ich lasse nicht nur das an mich heran, was vermeintlich großartig ist, sondern auch das, was mehr Aufmerksamkeit braucht. Nicht nur den Hits hinterherjagen: Ich glaube sogar, es ist das, was auch eine gute Spiritualität ausmacht. Stefan Weigand ist Theologe und Philosoph. Er führt ein Büro für Gestaltung und ist u.a. unser Bildredakteur des Jesuiten-Magazins. An ruhigen Abenden hört er leidenschaftlich gerne Jazz- und Indiemusik vom Plattenspieler.

SCHWERPUNKT 16 Singende Melodien, singendes Gebet Taizé-Gesänge faszinieren nicht nur junge Menschen. In Gesangbüchern findet man unter vielen Liedern Jacques Berthier als Komponisten angegeben. Er selbst hat gar nicht in Taizé gelebt, sondern mit Jesuiten musiziert. „Es ist die Schönheit des Gebets, die uns zur Freude des Glaubens führt. Daher betrachten wir unser gemeinsames Gebet als das Wichtigste, was wir mit den Jugendlichen, die zu uns kommen, teilen können. Und im gemeinsamen Gebet ist der Gesang grundlegend; unser Gebet ist im Kern ein gesungenes Gebet“ sagt Frère Alois, Prior der Gemeinschaft von Taizé, die 1940 von Frère Roger gegründet wurde und heute aus knapp 100 Brüdern besteht. Dreimal am Tag treffen sich die Brüder zum gemeinsamen Gebet und mit ihnen ganz unterschiedliche junge Menschen. Die „Gesänge aus Taizé“ sind kurze, mehrstimmige Refrains, die wie ein Ostinato wiederholt werden. Die Texte stammen aus der Bibel oder aus dem Schatz, den große Zeugen des Glaubens hinterlassen haben. Aus pastoraler Sorge wird und wurde die Liturgie in Taizé stets angepasst. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht ein Prinzip, welches das Zweite Vatikanische Konzil formuliert hat: Es ist wichtig, dass die Jugendlichen, die an den Gebeten teilnehmen, dies als Akteure tun können und nicht nur als Zuschauer. Diese Forderung wurde Anfang der 1970er Jahre besonders dringlich, als die Jugendlichen zahlreich wurden und die Gebetsgemeinschaft keine gemeinsame Sprache mehr hatte. Frère Robert, der sich später vor allem um die Texte und Erprobung der neuen Lieder mit Jugendlichen kümmerte, fasst 1986 die Herausforderung wie folgt zusammen: „Es musste etwas Neues, Solides und Gutes geschaffen werden; für das ‚Volk Gottes‘ bestimmt und in diesem Sinne ‚volkstümlich‘; unter Verwendung kleiner Elemente, mit denen diese ständig erneuerten und wechselnden Gemeinschaften in Taizé schnell in den Gesang einsteigen konnten; einfach also, auch in Rhythmus und Harmonie, aber mit einem umso höheren Anspruch an substanzielle Qualität.“ Nach mehreren Experimenten erwies sich der Kanon Jubilate Deo von Praetorius als geeignet. Seine repetitive Form fördert die Meditation, und sein einfacher Zugang bietet eine gewisse Freude und Spontaneität. Daraufhin wandten sich die Brüder an Jacques Berthier, Organist an der Jesuitenkirche St. Ignace in Paris, den sie durch seine Zusammenarbeit mit dem Jesuiten Gélineau kennengelernt hatten. Gélineau experimentierte in Taizé mit seinen französischen Psalmodien, die bis heute verwendet werden. Berthier war ein formal ausgebildeter Musiker, der aus einer Familie echter Kirchen- oder sogar Pastoralmusiker stammte. Seit seiner frühesten Kindheit begleitete Jacques Berthier die Gottesdienste in der Kathedrale von Auxerre, die „zweite Wohnung“ der Familie Berthier, auf der Orgel seines Vaters, manchmal auch mit eigenen Kompositionen. Berthier erzählt 1994 in einem Interview rückblickend: „In Auxerre sang man natürlich Gregorianik, Palestrina und klassische Musik. Dieser Musikstil war mir gegenwärtig beim © Linda Schwarz

SCHWERPUNKT 17 Schreiben der Gesänge für Taizé, der Antiphonen und anderer Gesänge. Ich glaube auch, dass ich immer eine starke Nähe zum traditionellen Volkslied hatte. Gemeinsam mit Marie Noël hat mein Vater bei der alten Landbevölkerung Hunderte Lieder gesammelt; davon habe ich noch einen großen Stapel in meinen Schränken. (...) Ich denke, wenn ich eine gewisse Vorliebe habe, nach eingängigen Melodien zu suchen, so verdanke ich sie all dieser angesammelten Folklore.“ Eine der ersten Kompositionen, die so entstand, war das berühmte Magnificat aus Taizé, einige Kompositionen wurden sogar durch das Telefon diktiert, um die Jugendtreffen zu gestalten. Dieser Sinn für „singende Melodien“ ermöglichte es ihm, den Brüdern von Taizé Gesänge zu geben, die für alle zugänglich, aber reich genug sind, um das Gebet zu nähren. Frère Raphaël de Taizé stammt ursprünglich aus der Schweiz und ist 2016 der Gemeinschaft von Taizé beigetreten. Nach einem langen Aufenthalt in der Brüdergemeinschaft von Taizé in Bangladesch hat er sich 2021 lebenslang an die Gemeinschaft gebunden. (Übersetzung und Bearbeitung: Dag Heinrichowski SJ).

SCHWERPUNKT 18 Gottes Wege und Lieder sind unergründlich Pop- und Rockmusik versetzen innerlich in Bewegung und können so helfen, Gott näher zu kommen. Wolfgang Metz erlebt das immer wieder. Ich sitze im Auto. Es ist der Vorabend zum 3. Advent. Der neue Song von Joris springt mir aus dem Radio direkt in mein Ohr: True Love. …und es passiert (nicht alle Jahre, aber) wieder! Es war vor ziemlich genau drei Jahren und ziemlich genau dieselbe Situation. Damals sang Joris, dass er in aller Dunkelheit da sein wird und es aufwärts geht: Glück auf! Ich dachte und fühlte direkt: Wahnsinn! Was für ein Weihnachtslied! Natürlich hat Joris damals nicht über Weihnachten gesungen, aber für mich schon. Er hat davon gesungen, was wir an Heiligabend hören: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht“ (Jes 9,2). Er hat davon gesungen, dass Gott uns nicht alleine lässt, er in der dunkelsten Stunde bei uns ist und zuruft: Glück auf! Und jetzt hat er es wieder getan! Jetzt singt er aus dem Radio „du kommst immer näher“ und „alles in mir drin wird so leicht“ und „ich krieg' kein Wort raus“. Natürlich ist mir klar, dass er das Lied eigentlich für einen anderen Menschen singt. Aber in meinen Ohren erzählen diese Worte etwas darüber, wie unerhört nahe Gott mir manchmal kommt und darüber, was wir in der Menschwerdung, in der Auferstehung und in allem dazwischen feiern und wie mich das oft sprachlos zurücklässt. Der Autor Umberto Eco (Der Name der Rose) hat in den 60er Jahren einen Essay mit dem Titel „Das offene Kunstwerk“ veröffentlicht. Er beschrieb darin ein hermeneutisches Modell für ein damals neues Verständnis von Kunst und definierte darin eine Poetik der Offenheit im Gegensatz zur langen Tradition einer Poetik der Eindeutigkeit. Kurz gesagt: Es geht darum, dass jegliche Art von Kunst nicht so „funktionieren“ sollte, dass der Künstler seine Intention durch das Kunstwerk in den Kunstsinnigen hineinhämmert, sondern so, dass Letzterer das jeweils Seinige darin finden und weiterdenken kann. Was wäre, wenn ich damit verbunden die ignatianische Tradition ernst nehmen würde, die darin besteht, auf meine inneren Regungen zu achten und darauf, was mich Gott näherbringt? Dann erzählt Umberto Eco nicht nur etwas über Kunstverständnis, sondern plötzlich auch über Offenbarung. Es gibt viele Kirchenlieder, die mich, Gott sei Dank, mit Gott in Beziehung bringen, aber es gibt genauso unzählige Pop- und Rocksongs, bei denen es mir nicht weniger so geht. Vielleicht ist nicht jeder Song, der mich anspringt, eine Spur Gottes, aber der ein oder andere ganz sicher. Was würde das aber für die Art und Weise, wie wir Gott im Dienst suchen und feiern, bedeuten? Wolfgang Metz kann Vieles nur so halb. Deshalb ist er Priester geworden. Was er ganz kann, ist ins Kino gehen, Musik hören und Worte finden. Aktuell ist er halb Pfarrer in Sindelfingen und halb Hochschulseelsorger in Tübingen.

SCHWERPUNKT 19 Der Cantus firmus meines Lebens Drei Personen erzählen uns von ihrem persönlichen Soundtrack des Glaubens. Für Bruno Niederbacher SJ spannt sich dieser von Bach bis Bon Jovi. In einer Meditationswoche sollten wir als Novizen über den Cantus firmus in unserem Leben nachdenken. „Cantus firmus“ nennt man eine feststehende Melodie, die durch andere Stimmen umspielt wird. Unser Novizenmeister, P. Severin Leitner SJ, spielte als Beispiel einen Satz aus der Bach-Kantate Wachet auf, ruft uns die Stimme (BWV 140) ab. Tatsächlich enthält dieses Lied Themen, die sich durch mein Leben ziehen wie ein Cantus firmus, den ich mit immer neuen Variationen umspiele, mal in Dur und mal in Moll. 1. „Wachet auf!“ Wenn ich mich an etwas vorbeimogeln will: Wach auf! Wenn ich eine wichtige Entscheidung auf die lange Bank schiebe: Wach auf! Wenn ich mich zu selbstsicher fühle: Wach auf, du sterblicher Mensch! Auch beim Beten versuche ich, wach zu sein. Ich nehme meine Stimmungen wahr, frohe und traurige; ich will sie zulassen und loslassen. Beten ist oft Wachsam-Sein, Warten, bis die Seele nachkommt. Und Beten ist auch Hineinhorchen: in mich, in andere, in Gott. 2. „Mitternacht heißt diese Stunde“: Vieles in meinem Leben ist nicht so klar. Besonders Glaube erinnert mich mehr an Nacht als an Tag. Zweifel tauchen auf. Ich meinte, diese Nacht sei ein Übel, das ich überwinden soll. Doch mittlerweile denke ich: Glaube und Zweifel sind Zwillinge. Zweifel reinigt, Zweifel sagt mir: Glaube kommt nicht von dir. Ich lerne, mit Unsicherheiten zu leben, mit Fragen und Ängsten. Frei nach Johannes vom Kreuz singe ich das Taizé-Lied: „In der Nacht gehen wir, um der Quelle zu begegnen. Nur der Durst leuchtet uns.“ 3. „Macht euch bereit zu der Hochzeit!“ Ein Bild Jesu für das Reich Gottes ist die Hochzeit. Warum? Hochzeit steht für die Erfahrung, geliebt zu werden und zu lieben. Im Reich Gottes zu sein heißt letztlich: Sich von Gott unbedingt geliebt glauben. Oft vergesse ich dies, oft wird dieses Hauptthema überlagert von anderen, unwichtigen und falschen Themen. 4. „Ihr müsset ihm entgegengeh’n.“ Ja, ich gehe Gott entgegen, ich suche ihn. Ich bin auf dem Weg. Ich muss nicht vollkommen sein. Mir dies einzugestehen entkrampft. – Ich mache nun einen Sprung von Bach zu Bon Jovi, dieser US-amerikanischen Rockband. Einmal singen sie: „Wir sind auf halbem Wege dort, nimm meine Hand, ich schwöre, wir schaffen es, Leben auf der Grundlage eines Gebets.“ Ich gehe Gott entgegen im Vertrauen, dass ich schon auf halbem Wege dort bin und Gott mir entgegenkommt. Livin‘ on a prayer. Bruno Niederbacher SJ stammt aus Uttenheim in Südtirol und lehrt Philosophische Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Darüber hinaus bringt er seine Kreativität und sein musikalisches Talent als Priester bei Taufen, Hochzeiten und vielen anderen Anlässen ein. Als Konsultor berät er den Provinzial bei der Leitung der Jesuiten-Provinz.

SCHWERPUNKT 20 Ruhe im Sturm Musik und Gott haben für Luis Weiß etwas gemeinsam: Sie sind Resonanzräume. Weiß ist Komponist und versucht mit seiner Musik, Gotteserfahrung zu ermöglichen. Akustisch betrachtet wird der Charakter eines Klangs durch sein Obertonspektrum geprägt. Obertöne sind das Ergebnis von Resonanz, also Schwingung. Ich glaube, Gott liebt Resonanz. Er hat uns ins Leben gerufen, damit wir zurückrufen, und ist damit selbst ein unermesslicher Resonanzraum. Musik, ob sie nun geistlich intendiert ist oder nicht, kann in diesem göttlichen Resonanzraum schwingen und so einen geistlichen Charakter erhalten. Während die akustische Resonanz hörbar ist, kann die göttliche erspürt werden. So ist nicht nur die Seite des Komponierenden unmittelbar verantwortlich für die geistliche Prägung eines Musikwerks, sondern in ganz zentraler Weise auch die der Hörenden. Sie bilden unverwechselbar subjektive Resonanzräume. Meine Arbeit als Komponist besteht darin, diese Räume mit musikalischen Mitteln zu aktivieren und eine Gotteserfahrung zu ermöglichen. Bei aufgeführter Musik können liturgische Elemente oder der Kirchenraum selbst helfen, diese Erfahrung zu intensivieren. Für den 100. Deutschen Katholikentag wählten Pfarrer Siegfried Kleymann und ich bewusst den Leipziger Hauptbahnhof für die Umsetzung unserer Messkomposition „Refugium“. Der von Hast und Betriebsamkeit geprägte Bahnhof sollte vorübergehend zu einem Zufluchtsort werden. Als sich dort schließlich über 600 Menschen versammelten, um die nächtliche Messe mitzufeiern, verwandelte sich die Osthalle des Bahnhofs tatsächlich in einen kathedralähnlichen Resonanzraum, ebenso offen für die gemeinschaftlich Betenden wie für die hindurcheilenden Reisenden. Die Mitfeiernden brachten ihre unwirtliche Umgebung insbesondere durch das gemeinschaftliche Singen zum Schwingen. In diesem zutiefst konstruktiven Erlebnis bin auch ich Gott begegnet. Vielleicht stellt sich mancher vor, eine Komposition entstehe aus völliger Ruhe und Abgeschiedenheit. Als ich die Komposition von Refugium begann, befand ich mich eher in stürmischen Zeiten. Im Komponieren selbst konnte ich Ruhe finden. Ich habe dabei bis heute kein geistliches Ritual, beispielsweise zu beten oder zu meditieren, bevor ich Musik schreibe. Das Tasten und Singen am Klavier zieht mich in einen Zustand völliger Konzentration, den man vielleicht Meditation oder Flow nennen kann. Aus der Vielheit der Möglichkeiten, dem Chaos der Gedanken entsteht ein überschaubarer Raum, der nach und nach eingerichtet und ausgeschmückt wird. Wie unterschiedlich solche Klangräume aussehen können, verdeutlichen zwei Beispiele aus der Messkomposition: Als Erstes entstand der Liedruf „Domine Refugium“, der völlige Aufgehobenheit in Gott vermitteln soll: ein friedvolles Ruhegefühl, das sich im Verlauf kurzzeitig in hymnische Dankbarkeit intensiviert. Im krassen Gegensatz dazu verklanglicht das Stück „Weltenchaos“ mit treibendem Rhythmus höchste Anspannung, den Sturm, der in uns manchmal tobt. Im Leben sind Spannung und Anspannung existenzielle Zustände, die entscheidend für unser Empfinden sind. In der Musik sind diese Parameter nur Stilmittel, die allerdings die Kraft haben, uns durch ihre Klanglichkeit in Schwingung zu versetzen und © Linda Schwarz

SCHWERPUNKT 21 Kontraste zu bilden. Geistliche Kompositionen können so durch musikalische Mittel dem Gebet eine Bühne geben: Auf den Abriss des „Weltenchaos“ folgt in Refugium das Evangelium, das durch den Kontrast als stiller Höhepunkt des Wortgottesdienstes erfahrbar wird. Der Text (Mk 4, 35-41) schildert eindrücklich, wie Jesus Wind und See zum Schweigen bringt. Und so spricht auch die Musik oftmals zu uns und unseren Gedanken: „Schweig, sei still“! Luis Weiß (geb. 1989) ist Jazz- und Kirchenmusiker in Köln. Neben Auftrags- kompositionen (u.a. Ökum. Kreuzweg d. Jugend) und interdisziplinären Projekten realisiert er Studioproduktionen im Bereich innovative Kirchenmusik, Ambient und Jazz. Seine Messkomposition „Refugium“ ist beim Label Acoustic Motion Concepts erhältlich.

22 Spiritualität des Sprechens und Hörens Spiritualität kommt von Spiritus Sanctus. Wer ein spirituelles Leben führen will, öffnet sich bewusst dem Wirken von Gottes Geist. Spirituell leben, heisst den Alltag vom guten Geist durchzudringen zu lassen. Bewusst Freiraum und Leerstellen schaffen, damit er wirken kann. Der Spiritus Sanctus ist das Band der Liebe zwischen Gott Vater und Sohn, er verbindet also, setzt in Beziehung über alle Grenzen hinweg und weiss zu versöhnen. Zudem ist er schöpferisch und lädt zu einer kreativen Lebensgestaltung ein, für sich sowie für und mit anderen zusammen. Oft muss dem Geist Gottes im eigenen Leben also zuerst einmal Platz gemacht werden. So viele Geister, so viele Ideen und Gedanken, so viele Impulse und Anregungen besetzen den Alltag. Ein erster notwendiger Schritt besteht darin, die vielen äusseren Einflüsse zu reduzieren: Weniger, dafür bewusster konsumieren. Mehr Dinge tun, die von innen drängen, als sich von aussen stimulieren lassen. Sich vor allem Dingen zuwenden, die einen guten Nachgeschmack hinterlassen. Den guten Geistern, den Gefährten des Spiritus Sanctus, gilt es anzuhängen. Den niedrigen Geistern, die zu Missgunst und Selbstbehauptung führen, oder einfach zerstreuen und einen dann ausgelaugt sitzen lassen, gilt es, die Stirn zu bieten. Dann gehört zu einem spirituellen Leben das Einüben, bei sich selbst sein zu können, sich auszuhalten, habitare secum, bei sich zu Hause zu sein, wie es die alte Mönchstradition formuliert. In den Dingen zu fasten und sie loszulassen ist nicht immer leicht. Dabei wird sich jeder und jede der eigenen, inneren Leere bewusst. Man muss sie aushalten. Wer aber den toten Punkt durchschreitet, erlebt im Innern auf einmal grosse Freude und innere Freiheit, Zufriedenheit und Dankbarkeit. Ein zweiter Schritt bedeutet, sich suchend nach dem Spiritus Sanctus auszustrecken. Eine Möglichkeit besteht darin, sich einem geistlichen Text, einem Gedicht oder einem Wort aus der Heiligen Schrift zuzuwenden. Über viele Jahrhunderte haben die Psalmen die Menschen inspiriert. Einen Psalm pro Tag langsam lesen und meditierend nachklingen lassen. Die Psalmen bringen das Erlebte mit all seinen emotionalen Aspekten zur Sprache, oft ungefiltert und nicht einmal politically correct. Die Psalmen ordnen das eigene Leben in die Kette all derer ein, die mit der Welt und mit Gott gerungen haben. Auch machen sie sensibel dafür, Gottes Geist im Alltag wahrzunehmen. Sie wollen Weisheit lehren. Sie öffnen den Horizont für Gottes Geschichte mit allen Menschen. Einen Psalmvers oder auch nur einige Worte daraus den Tag über immer wieder mal wiederholen oder sogar beim innerlichen Aufsagen mit dem Atem verbinden. Die Worte werden so langsam zerkaut und verIn die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort und zieh Wälder gross zu beiden Seiten, damit mein Mund ganz im Schweigen liegt. Geistlicher Impuls © Linda Schwarz

GEISTLICHER IMPULS 23 daut. Sie beginnen zu nähren, schenken Stärke. Und wer die eigene, spirituelle Sprache verloren hat, lernt wieder neue Worte. Wer mit den biblischen Psalmen vertraut ist und sie verinnerlicht hat, wird fähig, aus der eigenen Lebenserfahrung Psalmen zu schreiben. Ich ermutige in der geistlichen Begleitung immer wieder dazu. Des Öfteren nehme ich auch Psalmen von Dichtern zur Hand. Gerade im 20. Jahrhundert sind viele moderne Psalmen oder psalmähnliche Gedichte geschrieben worden. Eine Psalmbitte von Ingeborg Bachmann ist mir besonders lieb geworden. Sie bringt meine Sehnsucht nach geglückter Kommunikation und Begegnung, nach einem hörenden Sprechen zum Ausdruck, das ich im Alltagsgeschäft oft vermisse. Vielleicht inspiriert sie auch Sie: In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort und zieh Wälder gross zu beiden Seiten, damit mein Mund ganz im Schweigen liegt. Christian Rutishauser SJ bis zur Gründung der neuen Provinz war er Provinzial der Schweizer Provinz. Er engagiert sich im christlich- jüdischen Dialog, pilgerte einst in sieben Monaten von der Schweiz bis nach Jerusalem und berät heute den Papst rund um religiöse Beziehungen mit dem Judentum.

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