Jesuiten 2022-2

22 Das Erleben des Lebens Menschen eine tägliche Zeit der Stille und des Innehaltens nahezulegen, ist mir ein wichtiges Anliegen. Ich habe eine solche Praxis vor fast 50 Jahren begonnen und sehe heute in ihr den Boden, aus dem heraus sich mein Leben entfaltet hat. Man übt z.B. so, dass man sich für etwa 20 Minuten entspannt und aufrecht hinsetzt und dann ein paar Minuten bewusst atmet, indem man auf die Bauchdecke achtet, die sich dabei hebt und senkt. Danach „scannt“ man sich aufmerksam selbst: Was spüre ich eigentlich gerade von mir? Von meinem Körper? Meiner Stimmung? Wichtig sind dabei drei Dinge: 1. Die Haupttätigkeit in dieser Zeit der Stille ist Empfinden oder Fühlen – nicht Denken! Sie werden feststellen, dass Sie sehr oft in Ge- danken kommen. Das ist kein Wunder! Wir leben unser Leben in Gedanken und Vorstellungen. Wenn Sie merken, dass Sie mit Denken beschäftigt sind, dann lassen Sie es und kehren ins Gewahren dessen zurück, was Sie spürten, ehe Sie in Gedanken gerieten. 2. Sie verweilen bei dem, was Sie von sich spüren, auch wenn es Ihnen unangenehm ist – und durchbrechen damit das Gesetz, negativ Bewertetes zu vermeiden oder wegzukriegen oder sich davon abzulenken. 3. Hilfreich ist, das Gespürte mit dem Atmen zu verbinden: Das bewusste Atmen entspannt und relativiert. Es erleichtert Ihnen, offen und Ihrer selbst gewahr zu sein. Menschen, die Gott gerne ansprechen wollen, können diese Übung mit Gebetsworten rahmen und sich in ihrem Verlauf mit dem, was sie jeweils von sich merken, an Gott wenden: Sie vertrauen Gott, ihrem Freund, an, was in ihnen vorgeht und sie bewegt. Beter, die wissen, dass sie vor Gott wie ein offenes Buch sind, halten sich Ihm nur schweigend hin. Wer keine Gottesbeziehung hat, dem kann die Praxis der Stille allmählich eine Sehnsucht offenbaren, die über alles hinausgeht, was die Welt bieten kann. Das Erleben des Lebens, um das es bei unserer Übung geht, insbesondere das Durchleben von Unangenehmem, Enttäu- schungen und Verlusten ist spirituell von höchster Bedeutung: Mystiker aller Religionen wissen das. An Ostern haben wir Christen es wieder gehört: Da gehen die Frauen ins Grab hinein und setzen sich damit unmittelbar all den Gefühlen aus, die der Tod Jesu bei ihnen auslöst. So geschieht es, dass ihre Welt für die Wirklichkeit als Ganze geöffnet wird und sie verstehen: Der sein Kreuz durchlebte, der lebt nun in Gott! Petrus hingegen bleibt vor dem Grab stehen und schaut hinein: Nichts geschieht! Der Unterschied von Durchfühlen-einer-Situation und Sich-Gedanken-über-sie-Machen ist eklatant. Wenn Sie also üben, die guten und die schlechten Stunden Ihres Lebens zu durchleben, dann kann auch Ihr Leben geöffnet werden, und Sie verstehen, dass Gott Ihr Sein ist. Schließlich erlaubt Ihnen die wachsende Freude, die die Übung des „Innehaltens – Innewerdens – Tuns“ Ihnen schenkt, ein materiell bescheideneres und umwelt- und klimafreundlicheres Leben. Geistlicher Impuls © Katharina Gebauer

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