Jesuiten 2022-2

Jesuiten (Un-)sterblich 2022-2

Diese Druckerzeugnis wurde klimaneutral hergestellt, d.h. die mit der Produktion quantifizierten CO2-Emissionen werden durch Klimaschutzzertifikate kompensiert. Jesuiten 2022-2 1 Editorial Schwerpunkt 2 Auferstehung, eine Frage der Gerechtigkeit 4 Unsterblichkeit und Transhumanismus 5 Guter Hoffnung? 6 Antworten suchen – Mit Kindern Krankheit teilen 8 Ich kann so nicht mehr weiterleben! 10 Der Segen der Körperspende 12 Dem Gott des Lebens Antwort geben 14 Freude am Leben – Freude am Zugehen auf das Sterben 15 Unsterblichkeit durch Erinnerung 16 Der letzte Akt 18 Palliative Care – von der Ohnmacht in die Gestaltung kommen 20 Aushalten von Krankheit Geistlicher Impuls 22 Das Erleben des Lebens Was macht eigentlich? 24 Gerald Baumgartner SJ in Syrien Nachrichten 26 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 30 Jubilare 30 Verstorbene Medien/Buch 31 Ignatianisches Jahr 2021/22 Vorgestellt 32 CONCORDIA: Ukraine-Hilfe im ärmsten Nachbarland 34 Die besondere Bitte Standorte der Jesuiten in Zentraleuropa Bilder © Katharina Gebauer Sterben ist in unserem Alltag alles andere als präsent. Die Fotografin Katharina Gebauer hat sich für diese Ausgabe des Jesuiten-Magazins an einen Ort begeben, an dem Krankheit und Tod greifbar werden und ganz normal sind: die Palliativstation des Krankenhauses St. Josef in Schweinfurt. „Ich hätte eigentlich erwartet, dass die Atmosphäre hier sehr bedrückt ist. Aber ich war überrascht darüber, welche Dankbarkeit und welche positive Stimmung dort herrschten“, fasst sie ihren Eindruck des Besuches zusammen. Stefan Weigand © Raphael Geuppert

EDITORIAL 1 Liebe Leserin, lieber Leser, wir kennen sie alle. Momente der Ewigkeit. Erfahrungen der Zeitlosigkeit wirken himmlisch. Sie blenden den Tod aus, der wie eine tickende Zeitbombe bei jedem Atemzug mitschwingt. Der unerwartete Krieg in der Ukraine konfrontiert uns schlagartig mit dem Tod; Berichte und Bilder zu Kriegsschauplätzen und Kriegsverbrechen erschüttern uns bis in die Tiefe unseres Herzens. Wie gehen wir mit dem Tod um? Versuchen wir, wie im modernen Humanismus, unsere Begrenzung in die Unsterblichkeit zu übersteigen oder schenkt uns der Glaube an das ewige Leben bei und in Gott Hoffnung? In dem vorliegenden Heft nähern sich die Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Perspektiven diesen Fragen und bringen persönliche Überzeugungen und Umgangsweisen mit der Sterblichkeit zum Ausdruck. Zum einen sind es exemplarische Momente mitten im Leben, in denen der Tod auf unterschiedliche Weise einzubrechen vermag. Sei es innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen oder bei zwei kleinen Kindern, deren Mutter an Krebs erkrankt ist. Seien es Suizidgedanken heranwachsender Jugendlicher oder das tägliche Hantieren mit Körperspenden. Sei es schließ- lich in der jahrelangen Begleitung von sterbenskranken Menschen oder im Durchleiden einer plötzlichen, nicht heilbaren Erkrankung. Sie alle versuchen mit dem scheinbar paradoxen Paar von Leben und Tod umzugehen, das uns selbst im Alltäglichen wie bei Waldspaziergängen oder beim Kartenspielen begegnen kann. Es ist ein Paradox, von der die Kunst nicht lassen kann und das den Menschen herausfordert, sich für etwas Größeres zu öffnen, auf das seine Hoffnung hinstrebt. So wurzelt letztlich der biblische Auferstehungsglauben in der Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die in dieser Welt zu kurz kommt. Der Tod ist kein leichtes Sommerthema. Und doch kann die Auseinandersetzung mit ihm und der christlichen Hoffnung auf das ewige Leben im Ringen oder Umarmen unserer Begrenztheit uns für unsere zugrundeliegende, grenzenlose Liebe öffnen. Solch himmlische Erfahrungen wünschen wir Ihnen von Herzen. Christian Braunigger SJ Max Heine-Geldern SJ Clemens Kascholke SJ

SCHWERPUNKT 2 Auferstehung, eine Frage der Gerechtigkeit Unsterblichkeit oder ewiges Leben? Der Tod ist eine Herausforderung, der es sich zu stellen gilt. Pater Christian Rutishauser begibt sich auf eine Spurensuche zwischen säkularer und christlicher Hoffnung, wo das ewige Leben zu finden ist. Der Tod ist für den Menschen eine Herausforderung. Oft ist er mit Schrecken besetzt. Er ist eine Beleidigung der Liebe. Denn Liebe will Ewigkeit, noch mehr als die Lust, auch wenn Friedrich Nietzsche zurecht ihr Nimmer-satt beschreibt. Alle Jenseitsbilder, die in Mythen und Märchen, in Literatur und in den verschiedenen Religionen ausgemalt werden, entstammen der Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Der Mensch sucht nach einer Form des Lebens jenseits des Todes. Auch die Philosophie konnte sich diesem Drang oft nicht entziehen. Wenn auch der Leib nach dem Tod offensichtlich zerfällt, die Seele muss unsterblich sein, argumentierte sie. Wird die Jenseitswelt jedoch ausgemalt, wird das Diesseits über den Tod hinaus projiziert. Himmel und Hölle, Fegefeuer und Paradies werden entworfen. Hoffnungen wie auch Ängste führen den Pinsel. Je diesseitiger die Welt nach dem Tod gemalt wird, desto offensichtlicher stellt sie jedoch eine Verdrängung des Todes dar. Sie ist kindlicher Allmachts- und Unsterblichkeitsfantasie geschuldet. Der natürliche Tod eines alten Menschen nach erfülltem Leben ist eine kleine Herausforderung. Er kann sogar von Krankheit und Gebrechen erlösen. Eine größere Herausforderung ist der Tod eines jungen Menschen. So vieles stand noch offen, war unvollendet. Bei Krankheit oder Unfall bricht das Leben tragisch ab. Am schrecklichsten aber ist der Tod, wenn er durch Bosheit herbeigeführt wird: Krieg und Mord, Verfolgung und Zerstörung, die Menschen in den Tod treiben, lassen zum Himmel schreien. Es darf nicht sein, dass Unrecht und Gewalt das letzte Wort haben. Hätten sie es, wäre dem Nihilismus nicht zu entkommen. Der Glaube an einen guten Gott wäre am Ende. Es spricht für die hebräische Bibel, dass sie sich nicht zu Unsterblichkeitsfantasien hinreißen ließ. Die Israeliten haben schließlich der Hochkultur Ägyptens den Rücken zugekehrt, die den Verstorbenen ganze Palastausstattungen für das Leben im Jenseits in die Totenkammern mitgaben und Pyramiden bauten, die die Unsterblichkeit der mumifizierten Könige zelebrierten. Die Scheol, das biblische Totenreich, war eigentlich kein Lebensraum mehr. Dazu gab es nichts zu sagen, nichts auszumalen. Die Kultur des alten Israel rang vielmehr um das Leben in dieser Welt. Unrecht und Gewalt durften nicht triumphieren, vor allem dann nicht, wenn rechtschaffene und fromme Menschen umgebracht werden. So wuchs in Zeit der Makkabäer Kriege, die viele jüdische Märtyrer hervorbrachte, der Glaube an die Auferstehung. Er entspringt nicht einer Unsterblichkeitssehnsucht, sondern der Logik der Ethik. Gerechtes und tugendhaftes Leben muss stärker sein als boshaftes Morden. Wie soll das geschehen? Wenn Gott aus Freude am Leben schon Welt und All aus dem

SCHWERPUNKT 3 Nichts geschaffen hat, dann muss er auch fähig sein, aus dem Tod den Gerechten zum Leben zu erwecken. Und wie hat man sich ein Leben nach dem Tod vorzustellen? Dazu kann man nichts sagen, es sei denn, dass da Gerechtigkeit geschieht. Es braucht die Auferstehung der Toten – nicht nur ein Weiterleben der Seele – damit die Opfer der Geschichte zu ihrem Recht kommen. Das Gute verlangt danach, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, weil sich das Gute in dieser Welt offensichtlich nicht immer durchsetzt. Daher glaubt die Bibel, dass nach dem Tod das Gericht kommt. Sie freut sich darauf, weil sie weiß, dass sich dann endlich Gerechtigkeit durchsetzt, so wie es in der Welt nie der Fall ist. Daher preisen die Psalmen Gott als Richter. Wer heute nicht mehr an Gottes Gericht glauben kann, muss sich fragen lassen, ob er mit der Bibel immer noch auf der Seite der Zukurzgekommenen steht. Sie freuen sich immer auf den Richter. Wer sich aber nicht mehr auf das Gericht Gottes freut, muss sich fragen lassen, ob er mehr auf der Seite der Täter steht. Der Auferstehungsglaube, der sich in der hebräischen Kultur herausgebildet hatte, trat mit Jesus Christus in aller Klarheit an den Tag. Er, der Gerechte, Jude par excellence, wurde den Römern ausgeliefert und durch Folter am Kreuz umgebracht. Jesus starb nicht eines natürlichen Todes; er hat Gewalt und tiefstes Unrecht erlitten. Doch Gott hat ihn nicht im Tod gelassen, sondern hat ihn auferweckt – um der Gerechtigkeit willen. „Tod, wo ist dein Stachel, wo ist dein Sieg!“, kann Paulus schon fast übermütig rufen. Und der sanfte Johannes schreibt: „Gott ist die Liebe.“ Liebe ist stärker als der Tod. Wer an Jesus Christus glaubt, gewinnt mit seiner fragmentarischen Gerechtigkeit und Liebe Anteil an Christus, dem Gerechten. Er wird mit Christus auferweckt – um der Gerechtigkeit willen. Da mögen die Philosophen noch so lange darüber spekulieren, ob es nun eine unsterbliche Seele gibt oder nicht. Das sind Salon-Fragen. Im Krieg und angesichts der Gewalt gilt allein: Gott hat das letzte Wort, und jeder, der glaubt, hat Anteil an ihm. Christian Rutishauser SJ ist der Delegat für Schulen und Hochschulen der neuen Zentraleuropäischen Provinz. Bis zur Gründung der neuen Provinz war er Provinzial der Schweizer Provinz. Er engagiert sich im christlich-jüdischen Dialog, pilgerte in sieben Monaten von der Schweiz bis nach Jerusalem und berät den Papst rund um religiöse Beziehungen mit dem Judentum.

SCHWERPUNKT 4 Unsterblichkeit und Transhumanismus Der Wunsch nach Unsterblichkeit führt dazu, dass Menschen den Aufstand gegen den Tod wagen. Der Ethikprofessor Benedikt Schmidt versucht eine Erklärung, welche Idee hinter Transhumanismus steckt. Am 22. März 2022 wurde in Berlin die „Gigafactory“ eröffnet. Der Gründer von Tesla, Elon Musk, steht für das Versprechen, mit Hilfe technologischen Fortschritts die drängenden Probleme der Zeit lösen zu können. Er zählt sich zur Bewegung des Transhumanismus, die – bei aller Ausdifferenzierung – davon ausgeht, dass der Mensch mit Hilfe technologischer Mittel seine Zukunft aktiv in die Hand nehmen sollte. Dazu zählt auch eine Verbesserung seiner selbst: die Hervorbringung des trans-humanen Subjekts, das je nach vorgestellter Radikalität auch zur Erschaffung des Post-Humanen führen kann. Meist geht es dabei um Ideen zur Beseitigung körperlicher Mängel. Dies kann von realitätsnahen technologischen Prothesen bis hin zur Vision von der Digitalisierung menschlichen Bewusstseins und damit zur körperlosen Existenz reichen. Nicht weit davon entfernt ist die Idee, am Ende ein unsterbliches Leben generieren zu können. Welche Idee verbirgt sich hinter dem Wunsch, mit Hilfe technologischer Selbstveränderung unsterblich zu werden? Aus anthropologisch-ethischer Perspektive handelt es sich um den Versuch, die Kontingenz menschlicher Existenz nicht nur im Rahmen des Möglichen zu bewältigen, sondern grundsätzlich zu beseitigen. Es handelt sich um die radikale Entgrenzung in der Immanenz und um eine absolute, auch zukünftige Verfügung über sich selbst. Dass damit der Bereich des ‚Menschlichen‘ verlassen wird, darauf zielt ein transhumanistischer Posthumanismus gerade ab, da aus einer Verbesserung des gegenwärtigen Menschen kein perfektes Individuum erwächst. In der transhumanistischen Vision des Films „Der Titan. Evolve or die“ wird die Logik umgekehrt: Einzelne Individuen werden verbessert, bleiben sterblich, um den nachfolgenden Generationen eine transplanetarische Zukunft der Spezies Mensch zu sichern. Dies lässt sich als eine Logik des solidarischen Selbst-Opfers fassen. Die gängige transhumanistische Unsterblichkeitsvariante verfolgt hingegen ein Projekt radikaler Selbsterlösung. Auch christlicherseits wird von Erlösung gesprochen – nur eben nicht in einem immanenten Rahmen. Was ändert das? Vielleicht, dass die Hoffnung auf transzendente Aufhebung der Kontingenz sterbliches Leben im Modus der Bewältigung erträglich werden lässt? Benedikt Schmidt (geb. 1987) ist seit 2020 Juniorprofessor für Theologische Ethik am IKT der Humboldt-Universität. Sein Forschungsschwerpunkt liegt u.a. in der Biomedizinethik sowie in Relevanz, Beitrag und Position Theologischer Ethik im Kontext pluralistisch, post-säkularer Gesellschaften.

SCHWERPUNKT 5 Guter Hoffnung? Fast jede sechste schwangere Frau verliert ihr ungeborenes Kind in den ersten zwölf Wochen: Wie lässt sich als Christin mit diesem Leid umgehen? Die deutsche Redewendung „guter Hoffnung sein“ spiegelt sehr gut die freudige Erwartungshaltung und den emotionalen Aspekt einer Schwangerschaft wider. Doch viele Schwangerschaften enden unerwartet vorzeitig bereits vor der 12. Woche. Das statistische Risiko für Fehlgeburten liegt laut Publikationen bei circa 15%, es wird aber von einer deutlich höheren Dunkelziffer ausgegangen. Im gesellschaftlichen Umgang wird das Thema früher Fehlgeburten häufig bagatellisiert oder einfach totgeschwiegen. Die Betroffenen haben aber einen hohen Leidensdruck und die fehlende Sichtbarkeit einer frühen Schwangerschaft und deren Verlust erschweren die persönliche Trauerarbeit. Die Nähe von Leben und Sterben bei einer Fehlgeburt löst sehr ambivalente Gefühle aus und konfrontiert mit existenziellen Fragen zu Leben und Tod. Persönlich blicken mein Ehemann und ich in den letzten Jahren auf drei Fehlgeburten zurück. Trotz fortgeschrittener Diagnostik konnten in unserem Fall keine eindeutigen medizinischen Ursachen gefunden werden. Auf die ausbleibende Antwort auf das „Warum“ folgte dann das Hadern im Glauben und die Frage „Meint es Gott überhaupt gut mit mir?“. In diesen dunklen Lebensstunden fanden wir Hoffnung in dem Beweis Gottes bedingungsloser Liebe in der Bibel: Gott wird uns seine Liebe nicht vorenthalten, denn er gab für uns sein Kostbarstes – seinen Sohn Jesus –, damit wir leben und eine persönliche Beziehung zu ihm haben können (Joh 3,16). Wie in zwischenmenschlichen Beziehungen bietet Gott uns auch in geistlicher Hinsicht eine belastbare Beziehung an, die uns Stabilität und Ambiguitätstoleranz über die Lebensstürme hinaus vermittelt – bedingungslose Liebe, Vergebung, Trost und Akzeptanz des Leides, Sicherheit trotz Ungewissheit und Hoffnung angesichts des Todes. „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken“ (Mt 11,28). Wenn wir die ausgestreckte Hand Jesu ergreifen und ihm im persönlichen Gebet und Bibellesen unsere Herzen ausschütten, dann gibt er uns das, wonach wir uns alle zutiefst sehnen, und einen erstarkten Glauben nach dem Leid (Hiob 42,5). Das persönliche Leid und das Erleben, mit Gott durch diese Krisen zu gehen, sind für jeden Einzelnen in seiner/ihrer Gottesbeziehung sehr individuell. Mir hat neben den vielen Gesprächen mit meinen Vertrauenspersonen jene Beziehung zu Gott geholfen: er gibt mir Kraft für den Alltag, hilft mir Ängste zu überwinden, gerade bei meiner letzten geglückten Schwangerschaft, bis hin zu einer Korrektur meines eigenen Gottesverständnisses. Ob die drei Kinder, die ich nicht lebend gebären durfte, für Gott Kinder sind, ist eine Frage, die ich hier nicht beantworten mag und kann. Mir und meinem Mann bleiben die Hoffnung und die Liebe für die drei in unserem Herzen. Sandra M. ist eine junge Ärztin aus Österreich, deren Namen wir anonymisiert haben. Text zu lang

SCHWERPUNKT 6 Antworten suchen – Mit Kindern Krankheit teilen Wie vermitteln wir Kindern und Jugendlichen eigentlich den Tod, sei es der eigene, der von fremden oder der von geliebten Menschen? Annika Bender ist Religionslehrerin und Mutter zweier Kinder. Der Frage „Wie erzähle ich es meinen Kindern“ stellte sich nach ihrer Diagnose Brustkrebs. Kinder haben feine Antennen. Sie spüren, dass es uns nicht gut geht, oft noch bevor wir es zur Sprache bringen können. Unsere ältere Tochter – zum Zeitpunkt meiner Diagnose zehn Jahre alt, sprach mich einen Tag nach dem ersten Verdacht auf meine Brustkrebserkrankung an. Sie erkannte, dass mich etwas belastete. Unser vertrauensvolles Verhältnis ließ mir keine andere Wahl, als ihr die Wahrheit zu sagen. Wie auch in den Folgemonaten bestimmte sie dabei, wie weit dieses Gespräch ging. Kinder erwarten, dass wir ehrlich zu ihnen sind, auch wenn es um den Tod geht. Unsere Aufgabe ist es dabei, so offen wie möglich zu sein und sie gleichzeitig davor zu bewahren, in lähmende Angst zu verfallen. Das ist keine leichte Aufgabe, wenn man lebensbedrohlich erkrankt ist und sich selbst immer wieder damit auseinandersetzen muss, dass das eigene Leben viele Jahre eher als gedacht zu Ende gehen kann. Wenn es um das Gespräch mit den eigenen Kindern geht, ist das besonders schwer. In einer solchen krisenhaften Lebenssituation ist es gut, wenn Kinder auf Erfahrungen im Umgang mit dem Thema Tod zurückgreifen können. Kinder begreifen die Welt im Spiel. In der Kleinkindphase haben unsere Töchter in Tier-Rollenspielen immer wieder das Versterben eines Elternteils – meist das der Mutter – eingebaut und sich dabei des gegenseitigen Mit-Fühlens und Mit-Leidens versichert. Überblickt man die Erzählungen aus der Kinder- und frühen Jugendliteratur, die für unsere Töchter prägend waren und sind, dann handeln nicht wenige von der Abtrennung der Kinder von ihren Eltern. Kinder verbinden ihre Lebenswelt mit der literarischen und integrieren die Erfahrung des gelingenden Lebens in ihr eigenes, ohne dabei den Schmerz außen vor zu lassen. Für unsere Kinder ist das Spielen im Freien zusammen mit dem Nachbarskind ein wichtiges Ventil. Eines Morgens fanden sie in unserem Garten einen toten Vogel. Ohne, dass wir Eltern einbezogen wurden, bereiteten sie das Grab vor und organisierten eine Trauerfeier. Wir wurden erst dazu gerufen, als alles fertig war: Ein Grabstein war improvisiert, ein Kreuz aufgestellt und Kerzen flackerten. Die Kinder hatten ein Ritual geschaffen, das sie tröstete. Für unsere jüngere Tochter – bei der Diagnose sechs Jahre alt – sind naturwissenschaftlich- technische Vorgänge im Zusammenhang mit der Behandlung entscheidend. Sie möchte z.B. Narben und Einstichstellen sehen und Vorgänge einer Chemotherapie, Operation oder Bestrahlung verstehen. Die Welt der Krankheit wird für sie auf diese Weise begreifbar. Manchmal erschreckt die Selbstverständlichkeit, mit © Katharina Gebauer

SCHWERPUNKT 7 der sie von der Erkrankung spricht. Wenn die eigenen Worte in solchen Situationen fehlen, helfen kindgerechte Sachbücher. Sie ermöglichen, die Auseinandersetzung mit dem Thema auch unabhängig von den Eltern zu suchen. Denn nicht immer sind Kinder in der Lage, mit den Eltern darüber zu sprechen. Sich schöner gemeinsamer Momente in Dankbarkeit zu vergewissern, schafft Erinnerungen, die nie verlorengehen können, egal, was kommt, und lässt hoffen, dass alles gut ausgehen möge. Dazu gehört für uns auch das abendliche Gebet, das den Tag und die Nacht unter den großen Segen Gottes stellt. Hier können Angst und Dunkelheit, Freude und Licht und das Vertrauen in Gottes Güte zur Sprache kommen: „Wie ein großer Vogel bedeckt mich Gott. Ich bin sicher im Schatten seiner Flügel.“ (Ps 91 nach Marie-Hélène Delval/ Arno, Im Schatten deiner Flügel. Psalmen für Kinder. Frankfurt a.M. 2015) Annika Bender Die promovierte Theologin ist Lehrerin für Deutsch und Katholische Religion in Schwerin, wo sie zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern lebt.

SCHWERPUNKT 8 Ich kann so nicht mehr weiterleben! Mehr als ein Drittel aller Jugendlichen beschäftigt sich mit der Idee der Selbsttötung. Selten wird diese auch umgesetzt. Doch wie kommt es dazu? Mirella Teske ist Jugendtherapeutin und fordert eine Enttabuisierung und vor allem Sensibilisierung für das Thema. Erst gegen Ende der ersten zehn Lebensjahre verfügen Kinder über ein „richtiges“ Todeskonzept. Das erklärt auch, warum Auseinandersetzungen und Handlungen suizidaler Art erst im Laufe der Pubertät einen deutlichen Anstieg finden. Meist sind erwachsene Bezugspersonen sehr erschrocken, wenn sie mitbekommen, dass Jugendliche sich mit Selbsttötungsideen auseinandersetzten. Häufig haben sie diese lange mit sich alleine herumgeschleppt, so dass der Schreck gerechtfertigt und vor al-

SCHWERPUNKT 9 lem auch nötig ist, wenn er dazu führt, dass wir einfühlsam hinhören und ernst nehmen. Gleichzeitig zeigt er aber auch, wie tabuisiert dieses Thema in unserer Gesellschaft noch immer ist. Mehr als ein Drittel aller Jugendlichen beschäftigt sich im Laufe des Heranwachsens in theoretischer Weise mit Selbsttötungsideen, ohne dass dies mit konkreten Umsetzungsideen oder Handlungen verknüpft wäre. Insofern ist die gedankliche Auseinandersetzung mit dieser prinzipiellen Möglichkeit durchaus gängig in dieser Altersstufe und kann auch Teil der Bewältigung von Krisen sein. Dennoch dürfen wir uns nicht dadurch oder durch mögliche leichtere Suizidversuche mit appellativem Charakter verführen lassen, dieses Thema nicht ernst zu nehmen. Gerade im Kindes- und Jugendalter kommt es immer wieder auch zu im- pulsgesteuerten, überschießenden Handlungen, denen kaum präsuizidale Anzeichen vorausgehen. Es ist eine schwere Aufgabe, suizidale Äußerungen angemessen ernst zu nehmen, ohne sofort ins Agieren zu kommen. Wir müssen uns alle gewiss sein, dass wir eine ernst gemeinte suizidale Handlung letztendlich nicht verhindern können. Meist jedoch hat die Suizidalität ein dahinterstehendes Motiv. Es geht nicht um ein „Sterben-wollen“, sondern um das „So-nicht-mehrleben-wollen“ – um Angst vor der Zukunft und dem damit verbundenen Überforderungserleben oder ein subjektives Erleben von Ohnmacht, Hilflosigkeit und absoluter Hoffnungslosigkeit. Häufig gibt es eine verdeckte Vorgeschichte in der Kindheit, die eine im Untergrund wirkende (Selbst-)Unsicherheit schafft und einen oder mehrere aktuelle Auslöser (Schulschwierigkeiten, Konflikte mit Eltern oder Freund*innen, eine unglückliche Liebe oder belastende Erlebnisse), die wir dann als Spitze des Eisberges sehen. So bleibt die Massivität des jugendlichen Überforderungserlebens oft zunächst verborgen und unverständlich. Gleichzeitig steckt in dem Wunsch, so nicht mehr leben zu wollen, eigentlich noch die verschüttete Hoffnung auf ein anderes, befreites Leben. Meine Erfahrung ist, dass aufmerksames, zugewandtes und einfühlsames Hinhören und eine absolute Annahme des Anderen und damit auch seiner Suizidgedanken die Grundlage schaffen, dass auch auf eine Frage nach Suizidalität ehrlich geantwortet werden kann. Trotz des Verständnisses der subjektiven Not können wir uns gleichzeitig in jedem Moment deutlich für die Möglichkeit anderer Wege aussprechen. Es mag verunsichern, wie man mit diesem Thema umgehen kann, aber die ganz konkrete Frage nach suizidalen Gedanken wird keinen Menschen „auf diese Idee bringen“, sondern kann im Zweifel der nötige Ausweg aus der empfundenen Hilflosigkeit sein. Es geht darum, dass die/der Jugendliche sich in seiner Not verstanden fühlt. Dies ist wohl auch die beste Grundlage, um mit ihr/ihm gemeinsam zu überlegen, welche Schritte der Hilfe angebracht sind und wie diese aufgesucht werden können, um hoffentlich einer neuen Perspektive mehr Raum geben zu können. Mirella Teske befindet sich neben ihrer Weiterbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie auch in der Ausbildung zur Geistlichen Begleiterin. Sie lebt in Bonn und entspannt sich beim Cellospielen. Jugendliche und Eltern finden Ansprechpartner*innen in der Telefon- oder Onlineberatung der Nummer gegen Kummer www.nummergegenkummer.de Orientierung für Bezugspersonengruppen bietet z.B. www.neuhland.net. Der Rettungsdienst kann den Kontakt zur örtlichen Kinder- und Jugendpsychiatrischen Versorgungsklinik für akute suizidale Krisen vermitteln. © Katharina Gebauer

SCHWERPUNKT 10 Der Segen der Körperspende Organspende rettet anderen Menschen das Leben. Doch auch Körperspenden retten Leben. Anatomieprofessor Ingo Bachmann sagt sogar: Die Toten dienen den Lebenden. Als Professor für Anatomie sehe ich die Toten jeden Tag. Ich erforsche ihre Gehirne nach Ursachen der Alzheimerschen Erkrankung und seziere ihre Körper mit Studierenden. Das anatomische Sezieren fasziniert mich auch noch nach 30 Jahren. Wir brechen ein Tabu, wenn wir das Messer an Toten ansetzen, ihre Körper öffnen, uns Einblick schaffen und versuchen zu sehen und zu begreifen, was die Lehrbücher beschreiben. So verstehen wir am besten die funktionelle Anatomie etwa des Herzens, der Lunge, des Knie- und des Sprunggelenkes. Wir brechen dieses Tabu mit gutem Grund, nämlich damit angehende Ärzte die menschliche Anatomie kennen. Die Toten dienen den Lebenden und lassen uns das Wunder der Schöpfung begreifen. Wer die Anatomie des Menschen mit Augen und Händen studiert hat, findet die Technik eines Maserati eher trivial. Meinen Studierenden bin ich sehr nahe: Wir sitzen ein ganzes Semester viele Stunden in der Woche nebeneinander und präparieren. Und reden. Nicht nur über Anatomie. Und natürlich ist es neben Fußball das Sterben, der Tod, die Körperspende und das Motiv der Körperspender*innen. 3.500 Körperspender*innen gibt es in unserer Kartei; ein halbes Prozent der Leipziger*innen. Viele habe ich kennengelernt, sie begrüßt, wenn sie ihren Vertrag mit uns abschließen, und mich herzlich bedankt. Sie bezahlen übrigens dafür, denn das Institut muss ihre toten Körper, die rechtsmedizinische Untersuchung und die Urnenbestattung bezahlen. Es sind Überzeugungstäter, die uns ihre Körper vermachen. Menschen, die sich mit ihrem Ende und ihrer Endlichkeit beschäftigt haben und sich noch über ihr eigenes Leben hinaus nützlich machen wollen für andere. „Warum soll ich meinen Körper ungenutzt verbrennen lassen, wenn er noch anderen dienen kann?“: Solche Sätze höre ich immer wieder und sie berühren mich immer wieder in ihrer liebevollen Vernunft. Am Ende des Semesters laden wir die Verwandten in eine wunderschöne Kirche ein und gedenken der Körperspender*innen. An die tausend Menschen kommen an diesem Tag zusammen. Unsere Studierenden gestalten den Gottesdienst gemeinsam mit den Pfar- rern der Studierendengemeinden, Schwester © Linda Schwarz

SCHWERPUNKT 11 Katja, die die Körperspender*innen betreut, und mir. In diesem Moment wird für uns Lehrende und Studierende aus dem alkoholfixierten Präparat wieder ein Mensch, weil wir auf die Angehörigen treffen, die lange auf diesen Tag warten mussten und oft erst jetzt abschließen können. Wir sprechen das auch offen aus, bitten um Entschuldigung und versuchen zu erklären, welcher Segen auf jeder Körperspende liegt. Wir bilden zwölf bis 15 Studierende an einem Präparat aus: Die werden in 38 Berufsjahren an 250 Tagen im Jahr jeweils – sagen wir – 40 Patient*innen begegnen, die davon profitieren werden, wenn ein Ultraschallkopf aufgesetzt, ein Röntgenbild interpretiert, ein Stethoskop auf Bauch, Lunge oder Herz gelegt wird. Unsere Studierenden wissen, was sie diesen Menschen zu verdanken haben und finden jedes Jahr neue Wege, den Familien diese Dankbarkeit zu zeigen. Nach der Feier laden die Studierenden die Familien zu Kuchen und Kaffee vor der Kirche ein, und wir bekommen viele neue Anfragen von Menschen, die uns ihre Körper vermachen wollen. Ich bin ein religiöser Mensch und fühle mich wohl in dem, was ich tue. Die Toten begegnen mir nicht in Albträumen, denn der Körper ist nur der Kahn, mit dem wir durchs Leben gleiten. Wenn die Seele ihn verlässt, ist er eine Leiche, wird aus dem Körperspender eine Körperspende. Und wenn seine Seele auf uns herabblickt, und die leuchtenden Augen und die Ehrfurcht der Studierenden sieht, wird er froh sein mit seiner Entscheidung. Das glaube ich oft zu spüren. © Katharina Gebauer Ingo Bechmann ist Professor und Leiter des Instituts für Anatomie an der Universität Leipzig. Mit großer Begeisterung verfolgt er Fußballspiele am Fernseher und manchmal im Stadion. Außerdem ist er ein leidenschaftlicher Gitarrist und Gitarrensammler.

SCHWERPUNKT 12 Dem Gott des Lebens Antwort geben Die Klimakrise ist allgegenwärtig. Sei es am Nordpol, im Amazonas oder im Schwarzwald. Doch die Bilder der sterbenden Umwelt machen Jonas Linz SJ auch gleichgültig und er stellt sich die Frage, was eigentlich dahintersteckt. Draußen in der Natur, beim Spazierengehen durch den Schwarzwald, der das Kolleg St. Blasien umgibt, bete ich gerne. Hier zwischen den Bäumen begegne ich Ihm, der sich mir in der Schöpfung schenkt. Im rauschenden Bach und den moosbewachsenen Bäumen kann ich Gott finden. Hier wohnt Er. Hier staune ich über den, der der ganzen Schöpfung Leben gibt. Wenn ich dann durch den Schwarzwald gehe, sehe ich auch viele vertrocknete Bäume. Tote Bäume – Opfer der Dürre. Beim Anblick der Baumgerippe sind plötzlich die sterbenden Korallen vor Australiens Küste ganz nah. Plötzlich sind der Nordpol und der Eisbär, unter dem das Eis wegschmilzt, nicht mehr weit weg. Ich sehe die Folgen der Klimaerwärmung, die Folgen der Handlungen von uns Menschen, direkt vor meiner Haustür. Gott hat uns ins Leben gerufen und erhält die Schöpfung am Leben. Wir bringen ihr den Tod. Das stimmt mich bitter. Zugleich spüre ich auch Ohnmacht. Ohnmacht angesichts der Komplexität des Problems, angesichts einer Maschinerie, die nicht mehr aufzuhalten ist. Das Gefühl der Ohnmacht ist wie ein Ort, an den kein Licht dringt. Das Empfinden kommt einer Todeserfahrung gleich. Verliert ein Mensch sein Bewusstsein und fällt in Ohnmacht, wirkt er leblos. Im Gefühl der Ohnmacht, der Hoffnungslosigkeit redet – ignatianisch gesprochen – der böse Geist zu mir. Der gute Geist gibt Hoffnung – auch angesichts von Hoffnungslosigkeit: „Wer im Dunkel lebt und wem kein Licht leuchtet, der vertraue auf den Namen des HERRN und verlasse sich auf seinen Gott.“ (Jes 50,10) Ich kenne aber nicht nur Ohnmacht, wenn ich auf die Klimakrise blicke. Manchmal spüre ich bei mir auch eine Gleichgültigkeit. Die Bilder von Dürren und Unwetterereignissen, die ich fast tagtäglich sehe, sind schon alltäglich geworden. Ich habe mich an die Krise gewöhnt, bin der Mahnungen der Aktivisten und Wissenschaftler müde. Nehme ich diese Gleichgültigkeit in mir wahr, muss ich mich im Grunde fragen, ob ich wirklich mit glaubendem Herzen auf die Geschöpfe blicke, die vom Klimawandel bedroht sind. Denn der „Glaubende betrachtet die Welt […] von innen her und erkennt die Bande, durch die der himmlische Vater uns mit allen Wesen verbunden hat“ (Laudato Si, 220). Die Gleichgültigkeit ist eine Form der Beziehungslosigkeit. Ich vergesse, dass ich eingebunden bin in ein größeres Ganzes: die Schöpfung. Der Klimawandel bedroht Pflanzen und Tiere, die – wie mich selbst – der Schöpfer ins Leben gerufen hat. Die Klimakrise gefährdet aber nicht zuletzt auch Menschen, und zwar vor allem die Armen. Meine Mitmenschen also, die wie ich selbst Kinder Gottes sind. Die Auseinandersetzung mit der Gleichgültigkeit lässt sich zuspitzen auf die Frage: Bin © Katharina Gebauer

SCHWERPUNKT 13 ich gleichgültig gegenüber der Liebe, mit der sich mir Gott in der Schöpfung schenkt? Ist mir Gott gleichgültig? Die Antwort auf den Klimawandel liegt nicht zuallererst im Außen, sondern in unserem Inneren. Es geht um Unterscheidung: Welchem Geist folge ich? Lebe ich aus der Hoffnung heraus? Wie stehe ich in Beziehung zu Gott, meinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen? Im guten Geist kann ich dann auch schauen, was ich als Antwort auf die Liebe Gottes, aus der Verbundenheit mit meinen Mitgeschöpfen tun kann. Wo kann ich mehr Einfachheit leben? Wo kann ich auf vielleicht selbstverständlich gewordene Annehmlichkeiten des modernen Lebens verzichten? Dann entscheide ich mich etwa dafür, einmal mehr die Bahn zu nehmen und nicht den PKW, weil ich aus Liebe und Dankbarkeit gegenüber Ihm lebe, der Leben schenkt. Ich hänge auch meine Wäsche auf und werfe sie nicht in den Trockner, weil ich mich mit meinen Mitgeschöpfen verbunden fühle, seien sie nun im Schwarzwald oder am Nordpol. Jonas Linz SJ Der junge Franke studierte Agrarbiologie und trat 2016 in den Jesuitenorden ein. Nach seinem Philosophiestudium in München zog es ihn ans Kolleg St. Blasien, wo er seit 2021 als Kunstlehrer und Erzieher arbeitet.

SCHWERPUNKT 14 Freude am Leben – Freude am Zugehen auf das Sterben Christian Braunigger SJ genießt sein Leben, blickt dem Tod aber gelassen entgegen. Daher stellt sich die Frage: Ist die Aussage ‚Freude am Leben – Freude am Zugehen auf das Sterben‘ nicht ein Paradox? Freue ich mich nun am Leben oder freue ich mich auf die Aussicht zu sterben? Für mich sind beide Sichtweisen vereinbar. Einige Zeit hat mich ein Satz des chilenischen Armenapostels Hl. Alberto Hurtado SJ herausgefordert: „Wer einmal die Augen Christi gesehen hat, wird dies niemals vergessen.“ Wie soll dies zu verstehen sein? Ein Verständnis hierfür bekam ich, als ich mich in einer Obdachlosenunterkunft ehrenamtlich engagierte Ich spielte mit einem der Gäste. Dieser gewann, und seine Augen strahlten eine tiefe Freude aus. Die Gegenwart Gottes war greifbar, ich durfte im Anderen die Augen Christi sehen, und die Gegenwart Gottes empfand ich als greifbar. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, und seitdem verstehe ich, was Alberto Hurtado SJ sagen wollte. Die Versammlung von Delegierten des Jesuitenordens hielt in einem Dokument fest, dass wir „als Sünder in die Gesellschaft Jesu“ berufen sind. Vielen Menschen kommt es leicht über die Lippen zu sagen, dass alle Menschen Sünder sind und der Barmherzigkeit Gottes bedürfen. Die Tiefe dieser Aussage erkannte ich jedoch erst, als ich mir eingestehen musste, mich von Gott abgewandt zu haben, mir meine eigenen Grenzen eingestehen musste. Ich kehrte zu Gott um, durfte mich angenommen fühlen und in der Beichte erfuhr ich die Barmherzigkeit Gottes durch eine überwältigende Erfahrung seiner Gegenwart. Solche Gotteserfahrungen haben in der Vergangenheit mein Leben beflügelt und haben in mir eine langanhaltende, innere Freude ausgelöst. In der Folge kann ich Menschen authentischer auf ihrem Weg zu und mit Gott begleiten. Zugleich hänge ich aufgrund dieser Gotteserfahrungen weniger am eigenen Leben, und zwar keinesfalls aus einer Lebensmüdigkeit heraus. Die überzeugte, tiefe Erfahrung der Gegenwart Gottes lässt die Frage aufleuchten: Wenn ich bereits im Jetzt die Gegenwart Gottes als so wunderbar und überwältigend erlebe, wie wird wohl die Erfahrung Gottes erst im Jenseits sein? Das Wissen der eigenen Vergänglichkeit und damit verbunden die Hoffnung auf das Leben in Fülle durch Gott selbst am Ende meiner Tage lässt mich die Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten des Lebens mit einer größeren Gelassenheit angehen und hilft mir, die kleinen Freuden des Alltags und in ihnen Gott wahrzunehmen. Die Freude am Leben und die Freude am Zugehen auf das Sterben stellen für mich keinen Widerspruch dar, sondern ergänzen und verstärken einander. Christian Braunigger SJ Bevor er 2006 in den Orden ein- trat, studierte er zunächst Wirtschaftsingenieurwesen. Nach seinem Philosophiestudium folgten Arbeit für den Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Ostafrika, sein Theologiestudium in Paris und schließlich die Priesterweihe 2015. Nachdem er als Studentenpfarrer in der KSG in Leipzig tätig war, arbeitet er nun am Aloisiuskolleg als Kollegs-Seelsorger.

SCHWERPUNKT 15 Unsterblichkeit durch Erinnerung Unsterblich zu sein, ist das Ziel vieler Menschen und birgt Stoff für Literatur, Film und Philosophietheorien. Mick Bordt SJ nähert sich dem Gedankenspiel des Sokrates über Sexualität und Unsterblichkeit. Vordergründig geht es nur um Sex in Platons vielleicht bekanntestem Dialog, dem Symposion. Auf einer Party beschließen die illustren Gäste, sich nicht einfach nur zu betrinken. Reden sollen gehalten werden, Reden über den Eros, über die nicht zu bändigende Kraft der Sexualität. Auch Sokrates ist eingeladen, und als er an die Reihe kommt, den Eros zu preisen, scheint es zunächst besonders schlüpfrig zu werden: Von einer Frau, ja sogar einer Priesterin, habe er alles über die Sexualität gelernt, was man dazu wissen müsse. Totenstille im Saal. Doch was Sokrates dann in seiner Rede zu entfalten beginnt, ist eine großartige Vision, die weit über die Grenze der Sexualität im engen Sinn hinausgeht. Das unmittelbare Ziel der Sexualität sei zwar die Zeugung neuen Lebens, aber diese Zeugung habe ein weiteres Ziel: Unsterblichkeit zu erlangen. Durch Zeugung Unsterblichkeit zu erlangen: Das gilt aber nicht nur für die Sexualität, sondern ist die treibende Kraft der Motivation, die hinter allen großartigen Taten steht. Eros ist nicht auf die Sexualität beschränkt, sondern wird zu einem Prinzip, das uns bis hin in mystische Erfahrungen nach der Gewissheit unserer Unsterblichkeit streben lässt. Aber der Reihe nach! – und bei Platon beginnt die Reihe bei den Tieren. Die unglaubliche Energie, die sie bei der Zeugung und Aufzucht ihrer Nachkommen zeigen, lässt sich nur durch ihr Streben nach Unsterblichkeit erklären. Freilich ist es ihnen nicht möglich, als individuelles Tier unsterblich zu werden. Die ihnen mögliche Unsterblichkeit ist die der Gattung. Unsterblichkeit bedeutet bei Tieren, als Gattung nicht zu Grunde zu gehen. Auch Menschen, so Sokrates und mit ihm ja auch manche unserer Zeitgenossen, versprechen sich von ihren Nachkommen Unsterblichkeit: In der Erinnerung ihrer Nachkommen wollen sie den Tod überdauern, denn wirklich gestorben sind sie erst, wenn sich keiner mehr an sie erinnert. Unsterblichkeit durch Erinnerung lässt sich aber nicht nur durch die Zeugung von Nachkommen sicherstellen. Allem Großartigen, was Menschen erschaffen, liegt das Streben nach ihr zu Grunde. Platon denkt an Kunstwerke, Heldentaten oder politische Entscheidungen, die auf immer mit dem eigenen Namen verbunden sind. Und in der Tat: Noch heute erinnern wir uns an Sokrates und Platon! In ihren Werken leben sie weiter. Freilich sind all das defizitäre Formen der Unsterblichkeit. Denn es gibt etwas im Menschen, das unsterblich ist – ganz unabhängig von der Erinnerung anderer. Erfahrbar wird diese eigentliche Unsterblichkeit in der Mystik. In der beglückenden Schau der Idee des Schönen, die selbst ewig ist, erfahren wir, dass wir unsterblich sind und den Tod überdauern werden. Es ist diese Gewissheit, die jede Angst nimmt, auch die Angst vor dem eigenen Tod. Michael Bordt SJ ist 1988 in den Jesuitenorden eingetreten. Seit 1997 ist er an der Hochschule für Philosophie in München tätig und ist Vorstand des Instituts für Philosophie und Leadership.

SCHWERPUNKT 16 Der letzte Akt Neben zahlreichen Theater- und Filmrollen spielte Tobias Moretti bei den Salzburger Festspielen die Titelrolle im „Jedermann“. Darin begegnet der Lebemann Jedermann dem Tod, dem er noch eine Lebensstunde abringen kann. In dieser gewährten Zeit verändert sich Jedermanns Blick auf sich, die Welt und Gott radikal. P. Max Heine-Geldern SJ sprach mit dem Schauspieler über seinen persönlichen Umgang mit dem Tod und seiner Prägung durch die Kunst. Seit Menschengedenken behelfen wir uns der Kunst, um mit dem Tod umzugehen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Vielleicht kann man die Frage umgekehrt stellen: Warum beschäftigt sich die Kunst ständig mit dem Tod? In der Kunst geht es um alle Tiefen und Untiefen der Existenz, und da das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit in unserem Leben allgegenwärtig ist, ist das auch in der Kunst so. Kunstformen wie das Theater oder vor allem die Musik sind ja selber in ihrem Wesen flüchtig, sind endlich, verklingen, ohne dass man sie festhalten könnte, obwohl man das manchmal möchte. Hat sich Ihr persönlicher Umgang mit dem Tod durch die Kunst verändert? Gibt es dazu konkrete Werke/Szenen oder einfach Lebenserfahrungen, die besonders in einem Werk Ausdruck finden? Verändert nicht unbedingt, vielleicht vertieft. Eine Figur wie Faust, der der Schöpfung das Geheimnis des Seins, so etwas wie die Weltformel, entlocken will, war mir existentiell nicht so nahe, da ich diesen Drang nicht habe. So etwas wie der Schluss von Grillparzers „Ottokar“ hinterlässt bei mir Spuren: Ottokar macht sich bewusst, dass er mit jedem Menschen, den er auch massenhaft getötet und ausgelöscht hat, dann in der Reflexion zu sich selbst findet. Jeder war mal ein geliebtes Kind. In der Wertung verschwimmt die Hierarchie zwischen Tod und Geburt. Es wird das Band sichtbar, das sich zwischen beiden spannt. Wie, würden Sie sagen, prägt der Umgang mit dem Tod Ihr Leben? Wie hat sich das im Laufe Ihres Lebens verändert? Ich funktioniere da relativ archaisch. In der Jugend denkt man wenig, und Todesmut ist eher ein Spiel, ohne dass man den Beginn des Wortes ernst nimmt. Mittlerweile allerdings, mit dem Alter, überkommt mich tiefe Verwunderung und fast ängstliche Dankbarkeit, dass ich keine antike Kerbe habe erleiden müssen. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren, mit einer der reichsten Kulturen der Weltgeschichte gesegnet. Gesegnet auch mit einem Glauben, der mich zumindest ermutigt, auch in der Traurigkeit. Auch die Risikobereitschaft, die es in meinem Beruf braucht und die ich mir selbst auferlege, ist ein Glück, das in mir ist und das mich in irgendeiner Form autonom sein lässt. Nun kommen klarerwei-

SCHWERPUNKT 17 © Katharina Gebauer se die Einschläge näher, die mit meinem Geburtsjahr zusammenhängen, Freunde, Verwandte, Schicksalsschläge in der Umgebung. Aber ich halte dieses Triptychon Glaube, Liebe, Hoffnung als Lebens- und Überlebenskonzept, so gut es geht, in mir lebendig. Hat die Rolle des Jedermanns in diesem Zusammenhang für Sie eine Bedeutung? Vielleicht im Blick auf Ihr Gottesbild? Der Wechsel von der Angst vor dem Gericht hin zur Erkenntnis und Freiheit in der Gnade Gottes zu stehen? Was z.B. war Ihr Motiv für die Änderung des Endes? Das Ende eines gnädigen Gottes war für Hofmannsthal elementar: Er insistiert darauf, dass man sich das Himmelreich nicht verdienen kann, sondern es geschenkt bekommt – wenn man es schafft, an diese Gnade zu glauben. Unvergesslich ist mir, wie der wunderbare Hans-Michael Rehberg die Szene als Gottvater gespielt hat, in der Jedermann sagt, Gott habe immer nur gestraft: „schlug den Pharao… schlug, schlug, schlug!“: Rehberg lief die Treppen hinunter, pfefferte dem Jedermann eine Mords-Ohrfeige und schrie „Nein! Gab hin den Sohn…“ Ich habe mich allerdings dem Hofmannsthal- schen Prinzip dennoch entgegengestellt, weil ich nicht glauben kann, weder im Irdischen noch in irgendeiner sphärischen Wahrnehmung, dass man irgendetwas geschenkt bekommt, obwohl ich das Prinzip Gnade anerkenne. Die Erkenntnis der Reue und die Erkenntnis, dass der Glaube uns selbst die Entscheidung überlässt, das war unabdingbar für mich. Denn sonst wird das Ende zur pseudoheiligen Worthülse. Und Worthülsen und Affekte haben im letzten Akt nichts mehr verloren. Tobias Moretti studierte Musik an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, dann Schauspiel an der OttoFalckenberg-Akademie München und war Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele.

SCHWERPUNKT 18 Palliative Care – von der Ohnmacht in die Gestaltung kommen Würdevoll zu sterben, ist der Wunsch vieler Menschen, doch lebensverkürzende Krankheiten erschweren dies. Annette Henry und Sr. Karin Weiler berichten, worum es bei der ganzheitlichen Pflege am Lebensende geht und wie individuell sie sein kann. Mit dem Tod ist es so: Es gibt auf der einen Seite ein intensives Interesse am Thema, andererseits bei Vielen eine große Scheu, darüber zu sprechen. Die Konfrontation mit dem eigenen Sterben macht verletzlich. Es gibt Ängste vor unkontrollierbaren Schmerzen, dem Verlust der Selbständigkeit, medizinischer Übertherapie, aber auch Einsamkeit und gleichzeitig Sehnsucht und Hoffen auf ein Leben und Sterben in Würde bis zuletzt. All dies hat die Hospizbewegung ausgehend von England in den 1960er Jahren aufgegriffen. „Du zählst, weil du du bist, und du wirst bis zum letzten Augenblick deines Lebens eine Bedeutung haben“, war ein Grundgedanke von Cicely Saunders. Ebenso: „Wie Menschen sterben, bleibt im Gedächtnis derer, die weiterleben.“ Dank vieler Pionier*innen rund um Sr. Hildegard Teuschl CS ist auch in Österreich der Hospizgedanke angekommen. Ausgehend von Bildungsinitiativen für Haupt- und Ehrenamtliche haben sich zunächst mobile und stationäre spezialisierte Angebote entwickelt. Hospizkultur und Palliative Care wird heute auch in Krankenhäusern, in der Langzeitpflege und der Betreuung zu Hause umgesetzt. Palliative Care ist ein auf ganzheitliche Betreuung ausgerichtetes Teamgeschehen. Zunächst geht es oft um best- mögliche Schmerz- und Symptomlinderung. Doch im Mittelpunkt steht die Person mit ihren

SCHWERPUNKT 19 Wünschen und Fragen, ihren Stärken und ihrer Verletzlichkeit. Durch Dasein und Fürsorge ge- lingt es oft, dem Menschen am Lebensende Ge- staltung und Selbstbestimmung zu ermögli- chen und die Angehörigen gut zu begleiten. Bei der 46-jährigen Patientin mit Krebserkrankung und Darmverschluss gilt es, in den letzten Lebenswochen, Schmerzen und Erbrechen zu lindern oder bei der Pflege zu Hause zu unterstützen. Da sie alleinerziehende Mutter ist, wird es ihr jedoch möglicherweise genauso wichtig sein, mit der Sozialarbeiterin die weitere Obsorge ihrer beiden Kinder zu regeln, oder psychologische oder seelsorgliche Hilfe für die abschiedlichen Gespräche und gestaltenden Rituale mit ihren Kindern zu erhalten. Bei der 93-jährigen an Demenz erkrankten Pflegeheimbewohnerin steht der möglichst lange Erhalt ihrer Autonomie im Mittelpunkt der palliativen Betreuung, das geduldige und achtsame Würdigen ihrer Lebensgeschichte und das Vermeiden nicht notwendiger Krankenhauseinweisungen. Als Palliativmedizinerin habe ich, Annette Henry, in den letzten 25 Jahren miterlebt, wie Wissenschaft und Forschung in Palliative Care ein hohes Maß an evidenzbasiertem Wissen zu Krankheitsverläufen, Symptomlinderung und ethischen Entscheidungsprozessen hervorgebracht haben. Dennoch erleben wir in den Teams manchmal belastende Leiderfahrungen. Nicht alles kann im Anblick des Todes zum Guten gewendet werden, doch im Team geben wir einander den Halt, der es uns ermöglicht, „die Stellung am Fuße des Kreuzes zu halten“. In den Kursen für ehrenamtliche Hospizbegleiter*innen mache ich, Karin Weiler, die Erfahrung, dass die Auseinandersetzung mit dem Sterben viele Kursteilnehmer*innen lehrt, das Leben als Geschenk neu zu erfahren. Wie wertvoll für eine Gesellschaft, wenn Menschen in den Grenzsituationen die eigene Ohnmacht annehmen und dennoch als Person dableiben und nicht ausweichen. Annette Henry ist langjährige Palliativmedizinerin und Referentin in interprofessionellen Palliativlehrgängen im Kardinal König Haus (Wien). Sr. Karin Weiler CS ist Mitschwester der Hospizpionierin Sr. Hildegard Teuschl und seit vielen Jahren in der Ausbildung von ehrenamtlichen und professionellen Personen in der Palliativmedizin tätig. © Katharina Gebauer

SCHWERPUNKT 20 Aushalten von Krankheit Wie zerbrechlich Leben sein kann, musste Jutta Weimer am eigenen Leib erfahren. Sie bekam überraschend eine Hirnblutung, die ihr Leben fundamental veränderte. „Et media vita in morte et media morte in vita sumus“ („Und mitten im Leben sind wir im Tod und mitten im Tod sind wir im Leben.“) geschah mir mit 36 Jahren: zweizeitige Aneurysma-Hirnblutung ohne Vorankündigung und Risikofaktoren, 16 Tage trotz brutaler Schmerzen unerkannt etc. Überleben zuerst dank eines Sanitäters, der in die Pupillen leuchtete und die Bescherung sah. Ich kann gar nicht aufzählen, wieviel Gutes ich auf dieser Intensivstation erfahren habe. Wer auf einer Intensivstation liegt, dem machen all die Geräte nichts aus; Urteilsfähigkeit ist nicht da. Und Träume beim Beatmet-Werden bei (Halb-)Bewusstsein werden gemildert durch die Stimme von einem Pfleger oder eine kurze Berührung zwischendurch. Nein, es ist nichts zu verstehen, doch es ist jemand da, das reicht. Es gab da auch Gelächter, als etwa Toni kam, um die andere Hälfte der Haare doch noch abzurasieren – wie hatte ich lachend staunen müssen, als sie mir beim Duschen sagten (sie haben mich dort tatsächlich geduscht und eingecremt, obwohl ich wohl nur Bruchteile von Sekunden mitbekam – es war ein Traum jedes Mal, doch real!), die Haare (halber Kopf) müssten gewaschen werden, ich: Wie bitte? Wie lächerlich! Ab damit. Zu keinem Zeitpunkt hat mich die Glatze oder das dick und blau verschwollene Gesicht jemals gestört – doch manche aus meinem Umfeld entfernten sich allein deshalb von mir: Mein Anblick war ihnen unerträglich. Meine Mutter war circa ein Jahr bei mir, bis ich soweit wieder stabil war, dass ich genug konnte, um zurecht zu kommen. Eine Freundin, die Einzige, die mir übrigens geblieben war, machte die notwendigsten Besorgungen. Zu schnell wollte ich wieder zu viel. Denn mein Operateur, der mir auch als Mensch wichtig war, hatte mir nichts vorgemacht: „Wir haben eine solche OP noch nie gemacht, die Spasmen im geklebten Gefäß sind nicht weg. Wir hoffen, dass die drei Clips das Riesenaneurysma auf Dauer halten können, doch die Spasmen bedeuten Lebensgefahr. Sie müssen lernen, jeden Tag als den letzten zu genießen und v.a. sich gut zu spüren. Und viel auszuruhen.“ So konkret, doch nichts hat mich geschreckt. Ich hatte das Schlimmste hinter mir, war in ganz anderer Situation als etwa ein krebskranker Patient: Jeder Tag war ja schon Gabe, Geschenk und Aufgabe. Außerdem gab es da diesen einen luziden Satz gleich nach dem Tiefschlaf: „Ich wäre erbärmlich gestorben, weil ich nicht gewagt habe zu lieben.“ Über fünf Jahre Reha. Folgen: vollständige Blindheit, ständige Kopfschmerzen – mit starken Opiaten als Dauermedikation soweit im Griff, dass sie meine Wahrnehmung nicht beeinträchtigen, ich aber noch merke, was mir guttut und was nicht –, Linksseitenläsion v.a. der linken oberen Extremität, doch zunehmend wird das Zusammenspiel beider Hände problematisch, die Verarbeitung von mehr als zwei Menschen im Raum, wenn ich etwas tun muss etc., einschießende Spasmen, die inzwischen unterwegs einen Rollstuhl verlangen, doch in Ruhe immer Probleme machen, etc. Wie nah das Sterben für mich ist, merke ich zum Beispiel schon, wenn ich nur niesen muss. Ich fürchte mich nie, doch ich weiß auch, was auf dem Spiel steht. Weiß, dass ich nur sehr bedingt mein Leben in der Hand habe. Nie habe © Katharina Gebauer

SCHWERPUNKT 21 ich mich ohnmächtig gefühlt wegen oder infolge meiner Krankheit. Ich merke, dass ich mich buchstäblich nicht mehr in der Hand habe, zum Beispiel während Spasmen: wenn ich falle oder Bewegungen nicht mehr kontrollieren kann. Während mir so ist, als sei ich kaum noch da, dann: HERR, nimm… mit unsäglicher Vertrauensseligkeit. Ja. Sterben zu können, ist tröstlich. Wenn man leben und lieben zu lernen versteht. Falls man das je versteht. Üben wir. Übe ich. Bis Gott mir etwa sagt: Es ist gut, Jutta. Nicht ich. HERR, DEIN WILLE GESCHEHE. Jutta Weimer Geboren 1960; studierte ältere deutsche Sprache und Literatur sowie Philosophie mit Vertiefung in Schelling und im Nebenfach Neuere deutsche Literatur an der Uni Tübingen. Mit Freude begleitet sie Menschen in die Kunst des Wahrnehmens.

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