Jesuiten 2022-3

SCHWERPUNKT 17 gewachsen. Hier hat sie miterlebt, wie die Eltern zugrunde gingen. Obdachlose Alkoholiker. Ich staune, wie ein Mensch Jahrzehnte auf der Straße leben und sich so gut halten kann. Cristina zeigt uns ihren Schlafplatz unten in der Metro-Station. Hinter einem Eisengitter liegen ihre Decken zusammengerollt, steht ein Karton mit ihren Habseligkeiten. Die Billeteurin hat ihr den Schlüssel zu diesem exklusiven Platz anvertraut. Die Frau im Bahnhofs-WC gibt ihr freien Zugang, so kann sie sich waschen. Dafür hilft Cristina, die Station sauber zu halten, und begleitet ohne jede Angst die Obdachlosen, wenn sie Probleme machen, hinauf ans Tageslicht. Sie ist die beste Security und zugleich Sozialarbeiterin mit Humor. Ich frage, ob sie nicht in unserem Haus am Bahnhof leben möchte. „Nur wenn es einen Fernseher gibt, weil ich Fußball schauen muss“, lautet ihre Bedingung. Was hebt Cristina aus allen anderen heraus? Die meisten am Bahnhof sind verzweifelt, sie aber ist unheimlich stark geworden. Ihr Geheimnis ist wohl der Einsatz für die anderen. Und zwar dort, wo jeder nur noch ums Überleben kämpft und sich betäubt. Hier sind alle Helfer überfordert. In diesem Niemandsland ist sie allein aufgestanden, um sich für die Verlassenen einzusetzen. In ihrem gelegentlichen Augenzwinkern zeigt sie ihre Souveränität, ja sogar ein bisschen Stolz. Sie wird von denen gebraucht, die niemand mehr erreichen kann. Cristina ist eine Heldin der Hoffnung, die nicht vertröstet, sondern verändert. Ich lerne von ihr Streetwork. Aber auch aus meinen persönlichen Nöten reißt sie mich heraus. Wenn mich Freunde verraten, Gegner bedrängen, wenn Angst und Eifersucht hemmen, wenn ich Fehler gemacht habe, wenn ich enttäuscht bin. Dann kommt Cristina zu mir und sagt: Deine Not ist klein und zu bewältigen. Schau, wie es unseren Freunden am Bahnhof geht. Für wen bringst du jetzt, und gerade jetzt, wo du selbst in Not bist, Verständnis auf? Wer ruft dich? Sie öffnet mir die Augen für Menschen, die ich nicht mehr gesehen habe. P. Georg Sporschill SJ Er lebt seit 30 Jahren in Osteuropa und gründete mit Ruth Zenkert die Sozialinitiative ELIJAH und Musikschulen für Roma-Kinder. ©TUM-Archiv

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