Jesuiten 2022-4 (Deutschland-Ausgabe)

SCHWERPUNKT Das Kugelspiel des Nikolaus von Kues Neun konzentrische Kreise und eine Kugel: Was auf den ersten Blick wie ein kurzweiliges Spiel wirkt, ist tatsächlich ein Gleichnis des menschlichen Lebens. Der Kardinal und Philosoph Nikolaus von Kues (1401–1464) ist eigentlich als strenger Reformer bekannt, der Klerikern und Laien oft amüsante Lustbarkeiten wie Tanz, Jagd und auch das Spielen verbot. Daher überrascht es, dass ausgerechnet er gegen Ende seines Lebens ein durchaus kurzweiliges Spiel erfand. Das Spielfeld besteht aus neun konzentrischen Kreisen. Spielgerät ist eine Kugel. Die Spieler versuchen, diese Kugel durch geschicktes Einrollen möglichst nahe an die Mitte zu bringen. Das ist jedoch nicht so leicht, denn die Kugel hat eine Einwölbung. Sie rollt nicht gerade, sondern macht spiralartige Kurven um das Zentrum herum. Ein amüsantes Geschicklichkeitsspiel also. Das ist aber längst nicht alles. Das Spiel ist nicht einfach amüsanter Zeitvertreib, sondern eine Verschlüsselung des Unbegreiflichen, eine mystische Übung zum Nachdenken und Nachgrübeln. Denn das Spiel ist so konstruiert, dass der Spieler gleichnishaft den Kosmos des Lebens durchstreift. Welterfahrung und Welterkenntnis sind in jedem Element des Spiels verborgen. Schauen wir sie uns genauer an. Die Kugel – sie ist Symbol der Vollkommenheit, aber als materielles Objekt in jedem Fall unvollkommen. Kein Tischler der Welt könnte eine unendlich runde Kugel erschaffen. Die Spielkugel hat darüber hinaus eine große Einwölbung, die eine gerade Rollbewegung unmöglich macht. Sie ist Symbol des Menschen, der trotz aller Unvollkommenheit seinen Weg auf dem Spielplan – seinem Lebensweg – finden muss. Dafür braucht es Verstand und Geschick, vor allem aber viel Übung. Das Spiel wird zum geistigen Exerzitium. Der Spielplan umfasst den ganzen Kosmos des Lebens. Im Mittelpunkt lockt die Gegenwart Christi als Ziel des christlichen Lebensweges. Der Punkt ist unerreichbar für die unvollkommene Spielkugel. Der Punkt ist unteilbar und unmessbar. In ihm sind alle Gegensätze aufgehoben, die für uns die Welt erst erfahrbar machen. Ein unendlich kleiner Kreis im Zentrum aller Lebenskreise, die in ihm bereits enthalten sind. Die Kreise führen immer näher an die im punktförmigen Zentrum dargestellte Unendlichkeit. Ganz außen liegt das Chaos (1), dunkel und ungestaltet. Es folgt die Kraft der Elemente (2), aus denen die Welt besteht: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Gesteine und Mineralien (3) verleihen den Elementen Gestalt. Es folgt die Kraft des Wachstums (4) und der sinnlichen Wahrnehmung (5). Ab dem sechsten Kreis beginnen die göttlichen Kräfte, die alle dem Menschen vorbehalten sind: Phantasie und Vorstellungskraft (6), Logik und Verstand (7), die Einsicht (8) und schließlich, für den Menschen mit viel Übung gerade noch erreichbar, die geistige Schau (9). Nikolaus von Kues schlägt vor, die Punkte der Kreise zu addieren. Wer als erster 34 Punkte erreicht (nach alter Zählung die Lebensjahre Christi) hat gewonnen. Aber noch wichtiger ist es, sich nach dem Spiel darüber zu unterhalten oder einfach selbst über die Lebenssimulation nachzudenken. Das sinnlich-reale 14

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